28.04.2011

Wir sind das Volk: Dichtung im Wandel der Zeit

Ein Brückenschlag von Abu Nuwas bis Ahmad Fouad Negm

Von Daniel Roters


Ahmad Fouad Negm, ein betagter
Volksdichter und Revolutionär im
Vorruhestand.
Dichtung hat in der arabischen Welt schon immer eine sehr große Rolle gespielt. In der vorislamischen Zeit waren es Dichter, die mit ihren Worten Kämpfe entscheiden konnten. Sie säten Liebe und Zwietracht und als Chronisten brachten sie die Erlebnisse der nomadischen Gesellschaft in eine angenehme Wortform. Wir wissen zum Beispiel durch den Kirchenhistoriker Sozmenos, wie Anhänger ihre Krieger-Königin Mawiyya nach dem Sieg über den römischen Kaiser Valens Flavius preisten.

Die Funktion des Dichters war innerhalb der Stammesgesellschaft vielseitig. Er war nicht nur Chronist. Manche sahen gar das Schicksal des Stammes in den Händen des Dichters. Abu Tamâm, ein großer Dichter der abbassidischen Zeit, sagte im 9. Jahrhundert, dass ein Stamm mit einem guten Dichter andere Stämme ohne weiteres dominieren könne.

Die vorislamische Dichtung drückt das aus, was man als kollektives Bewusstsein einer Stammesgesellschaft bezeichnen könnte. Sichtbar wird dies, wenn wir kein lyrisches Ich, sondern ein lyrisches Wir vorfinden. Der große arabische Dichter Adonis aus unserer Gegenwart sagte dazu, dass diese vorislamische Dichtung dadurch nicht weniger persönlich oder emotional sei. Hier habe nur das lyrische Wir (der Stamm )  das lyrische Ich (also das Individuum) überlagert.

23.04.2011

Zur Geschichte des Islams in Tunesien, Folge 5

Šuqrân und der Weltentsager aus Ägypten

Von Marco Schöller


Abû `Alî Šuqrân (gest. 802) lebte in Kairouan und war ein Freund von Buhlûl ibn Râšid (st. 799). Buhlûl war ein kauziger »Gottesmann«, dessen Bittgebete, wie fast jedermann glaubte, von Gott erhört wurden. Ein späterer Biograph charakterisierte Šuqrân wie folgt:
»Er betete und fastete viel. Er lebte in ständiger Trauer und war von Furcht erfüllt. Sein Herz war leicht erregbar, seine Tränen flossen oft und reichlich. Von Kindheit an sprach er Worte der Weisheit und brachte die Menschen zum Dienst an ihrem Herrn zurück, indem er sie mit guten Worten ermahnte. Ein Gefährte Šuqrâns erzählte später, ein grünliches Licht habe über seinem Kopf geleuchtet, wann immer ihm eine Bitte, die er Gott vorgetragen hatte, erfüllt worden war.«
Der nachmals berühmte Weltentsager Dhû n-Nûn al-Misrî (st. 859) soll einst den weiten Weg von Ägypten nach Kairouan auf sich genommen haben, um Šuqrân zu sehen und von ihm zu hören. Über das Zusammentreffen Dhû n-Nûns mit Abû `Alî Šuqrân gibt es zahlreiche, teils legendenhafte Berichte in den historischen Quellen.
* * *

Nach dem Bericht von Abû l-`Abbâs al-Ibyânî war Dhû n-Nûn zu Abû `Alî Šuqrân nach Kairouan gereist, um von ihm zu hören. Šuqran verließ jedoch sein Haus nur zum Freitagsgebet, und als er wieder einmal aus der Tür getreten war, sprach Dhû n-Nûn zu ihm:
     »Ich bin aus einem fernen Land gekommen, um dich um eine Gabe zu bitten.«
Da hob Šuqrân ein paar Kieselsteinchen von der Erde auf und gab sie Dhû n-Nûn in die Hand. Als Dhû n-Nûn in seine Hand blickte, sah er, daß sich die Kiesel in Diamanten verwandelt hatten.
     »Nicht deshalb bin ich gekommen!« protestierte Dhû n-Nûn.
     »Weshalb sonst?« fragte Šuqrân.
     »Damit du mir eine Ermahnung gibst!« sprach Dhû n-Nûn.
     Da sagte Šuqrân zu ihm:
Iß nur von dem, was deine Rechte erarbeitet und wofür deine Stirn geschwitzt hat!
Iß jedoch nicht von dem, wofür du bei anderen Schulden machtest!
Sobald deine Glaubensgewißheit an Stärke verliert, suche Hilfe bei Gott, deinem Helfer!
* * *

Ein anderer Bericht erzählt, Dhû n-Nûn sei zu Ohren gekommen, daß es im Maghreb einen Gottesdiener namens Šuqrân gebe, der sich nur jeden vierzigsten Tag den Leuten zeige. Als Dhû n-Nûn in den Maghreb (also nach Ifrîqiyah) gereist und in Šuqrâns Wohnort angekommen war, fragte er nach ihm und erhielt die Auskunft: »Gerade hat er sich wieder zurückgezogen. Er wird erst in vierzig Tagen wieder erscheinen.«

Dhû n-Nûn wartete vierzig Tage lang vor seiner Tür.

Als die vierzig Tage um waren, kam Šuqrân heraus, erblickte Dhû n-Nûn und sprach zu ihm:
     »Du kommst aus dem Osten?«
     Dhû n-Nûn bejahte, und Šuqrân fragte weiter:
     »Was hat dich veranlaßt, hierher zu kommen?«
     Dhû n-Nûn sagte: »Man hat mir von dir erzählt, also machte ich mich auf, dich zu besuchen, damit du mir eine Ermahnung gibst. Gott wird dann vielleicht dafür sorgen, daß mir deine Worte nützlich sind!«
     Da sprach Šuqrân:
Mein Junge! Wandere über die Erde und bediene dich dabei der Kräuter, sie zu essen, um der Pflicht (dich am Leben zu erhalten) zu genügen!
Nimm von niemandem ein Geschenk oder eine Leihgabe an!
Wenn du aber fürchtest, doch etwas borgen zu müssen, dann suche Hilfe bei dem, dem man jede Bitte vortragen kann (= Gott)!
Dann ging er wieder hinein, und Dhû n-Nûn saß für weitere vierzig Tage vor seiner Tür.

Nach Ablauf der vierzig Tage kam Šuqrân wieder heraus und sagte zu Dhû n-Nûn:
     »Hat dir meine Ermahnung denn gar nichts genützt?«
     Dhû n-Nûn erwiderte: »Ich will noch mehr hören!«
     Da sprach Šuqrân: »Du bist nicht einer derer, die mehr vertragen, und so wird dich, was ich zu sagen habe, nicht mehren, sondern mindern! Gleichwohl:
Mein Junge! Iß von dem, was deine Rechte erarbeitet und wofür deine Stirn geschwitzt hat!
Iß jedoch nicht von dem, wofür du bei anderen Schulden machtest!
Wenn du fürchtest, daß deine Glaubensgewißheit schwindet, dann suche Hilfe bei Gott, deinem Helfer!
Wisse, daß du und ich morgen vor dem Angesicht Gottes, des Erhabenen, stehen werden, also fürchte Gott und beschwere dich nicht über den, der Sich deiner erbarmt (= Gott), bei dem, der sich deiner nicht erbarmt!
«
     Dann ging er wieder hinein, und Dhû n-Nûn saß für weitere vierzig Tage vor seiner Tür.

Als Šuqrân wieder herauskam, sagte er zu Dhû n-Nûn:
     »Hat dir meine Ermahnung nichts genützt?«
     Dhû n-Nûn erwiderte: »Ich will noch mehr hören!«
     Da sprach Šuqrân: »Du bist nicht einer derer, die mehr vertragen, und so wird dich, was ich zu sagen habe, nicht mehren, sondern mindern! Gleichwohl:
Mein Junge! Wenn du dich mit dem zufrieden gibst, was Gott dir zugeteilt hat, so wirst du der enthaltsamste aller Menschen sein!
Wenn du befolgst, was Gott dir befohlen hat, so wirst du der beste Seiner Diener sein!
Wenn du unterläßt, was Gott, der Erhabene, dir untersagt hat, dann wirst du der gewissenhafteste aller Frommen sein!«
Als Šuqrân Anstalten machte, ein weiteres Mal hineinzugehen, packte ihn Dhû n-Nûn am Gewand und sagte:
     »Gib mir von deinem Proviant (für die Reise ins Jenseits) etwas ab, das mir Gott, der Erhabene, von Nutzen sein läßt!«
     Da steckte Šuqrân dem Dhû n-Nûn etwas in die Hand, das die Form eines Dinars (einer Goldmünze) oder eines Dirhams (einer Silbermünze) hatte. Als Dhû n-Nûn darauf blickte, sah er, daß einer der Namen Gottes, des Erhabenen, darauf stand. Später sagte er: »Immer, wenn ich in diesem Namen etwas von Gott erbat, hat Er es mir gewährt!«

Nach anderen soll Šuqrân dem Dhû n-Nûn einen Zettel gegeben haben, auf dem geschrieben stand:
     »O Immerwährend-Beständiger! O Hervorbringer aller Pflanzen! O Hörer aller Stimmen! O Erfüller aller Bitten!«
* * *

Eine weitere Erzählung vom Zusammentreffen Dhû n-Nûns mit Šuqrân berichtet uns folgendes:

Eines Tages wurden Dhû n-Nûn die weisen Worte eines Mannes aus dem Maghreb vorgetragen. Dhû n-Nûn war von ihnen so eingenommen, daß er beschloß, diesen Mann aufzusuchen. Er reiste also in den Maghreb und ließ sich für vierzig Tage vor der Tür seines Hauses nieder.

     Der Mann – es handelt sich um Šuqrân – ging jeden Tag fünf Mal zum Gebet in die Moschee und kehrte dann mit sorgenvollem Gesicht nach Hause zurück. Doch sprach er weder zu Dhû n-Nûn noch zu jemandem sonst ein einziges Wort. Dhû n-Nûn verlor deshalb die Zuversicht und wußte nicht mehr, was er machen sollte. In seiner Not sprach er Šuqrân schließlich an:
     »O du! Ich sitze hier seit vierzig Morgen, doch sagtest du nie ein Wort zu mir!«
     Šuqrân entgegnete: »Du mußt wissen, meine Zunge ist ein reißendes Tier: Wenn ich sie losließe, würde sie mich auffressen!«
     Doch Dhû n-Nûn insistierte: »Gott möge Sich deiner erbarmen! Gib mir eine mahnende Unterweisung, die ich von dir mitnehmen und im Gedächtnis bewahren kann!«
     »Wirst du denn danach handeln?« fragte Šuqrân.
     »Ja, so Gott, der Erhabene, will!« antwortete Dhû n-Nûn.

Šuqrân hob also an und sprach:
Liebe nicht das Diesseits!
Halte die Armut für Reichtum!
Halte die Prüfung, die dir Gott, der Erhabene, schickt, für eine Gnade!
Halte den Verzicht, den Gott dir auferlegt, für eine Bereicherung, die Einsamkeit mit Gott für Geselligkeit!
Halte die Erniedrigung für Erhöhung, das hohe Ansehen für eine Verfehlung!
Halte die Verzweiflung für eine Tugend, den Gehorsam (gegenüber Gott) für einen Beruf!
Halte das Gottvertrauen für dein täglich Brot!
Und halte Gott, den Erhabenen, für einen Ausweg in jeder Lage!
Danach sprach Šuqrân einen ganzen Monat lang kein Wort mehr zu Dhû n-Nûn. Dieser sagte schließlich zu ihm:
     »Gott möge Sich deiner erbarmen! Ich möchte in mein Land zurückkehren. Wenn du mir also eine weitere Ermahnung geben willst, dann tu es jetzt!«
     Šuqrân sprach: »Hast du nicht bereits genug gehört?«
     Doch Dhû n-Nûn erwiderte: »Gott, der Erhabene, möge Sich deiner erbarmen! Ich bin ein Mann, der ganz am Anfang steht, und besitze noch kein Wissen!«
     »Ist das so?« fragte Šuqrân.
     »Ja, das ist so« sagte Dhû n-Nûn.

Šuqrân also sprach:
Wisse, daß dem Weltentsager im Diesseits das Nahrung ist, was er gerade findet!
Seine Wohnung ist dort, wo er sich gerade aufhält, und seine Kleidung das, was ihn eben bedeckt!
Das Alleinsein ist seine gesellige Runde, der Koran sein Zwiegespräch!
Gott, der mächtige Zwingherr, ist sein Vertrauter, das Gott-Gedenken sein Gefährte!
Der Weltverzicht ist sein innerster Begleiter, das Schweigen sein Schutzschild!
Die Furcht ist sein Weg, die Liebe sein Reittier!
Der aufrichtige Rat ist seine größte Begierde, das Reflektieren über den Tod sein einziger Gedanke!
Das geduldige Ertragen ist sein Ruhekissen, die Erde seine Bettstatt!
Die Hochwahrhaftigen sind seine Brüder!
Die Weisheit ist seine Rede, der Verstand sein Führer!
Die Milde ist sein bester Freund, das Gottvertrauen sein größter Gewinn!
Stets hungert und stets weint er!
Und Gott ist sein Beistand!
Dhû n-Nûn fragte noch nach und sagte:
     »Gott möge Sich deiner erbarmen! Wie aber weiß ich in diesen Dingen, daß ich übertreibe, und wie, daß ich zuwenig tue?«
     Šuqrân erwiderte: »Dadurch, daß du dir in deiner Seele Rechenschaft über dich selbst gibst und mit ihr in ständiger Zwiesprache stehst. Doch Schluß jetzt! Du hast genug gehört!«

* * *

Anmerkung:
Über die wahrscheinliche Legendenhaftigkeit des Berichteten ist kein endgültiger Aufschluß zu erhalten. Die genannten Personen sind aber historisch mehr (im Fall von Dhû n-Nûn) oder weniger (im Fall Šuqrâns) gut bezeugt.
     Die Passagen sind aus folgenden Werken übersetzt: al-Mâlikî, Kitâb Riyâd an-nufûs, Band I; Ibn ad-Dabbâgh, Ma'âlim al-îmân fî ma'rifat ahl al-Qairawân, Band I.

12.04.2011

Tahrir-Demonstranten: Jetzt befinden wir uns im Krieg gegen die Armee

 Ein Beitrag von Kristin Jankowski und Daniel Roters

Kristin hat die Revolution begleitet. Sie hat sie kommentiert und sie gefühlt. Die Angst, den Schrecken, die Hoffnung. Momente der Gemeinschaft und der Ausgelassenheit wechselten sich ab mit Momenten, in denen nicht deutlich war: Kommen wir hier lebend heraus? Eigentlich ist sie Journalistin, doch in diesen Momenten läuft alles wie in einer Zeitlupe. Zuletzt war sie noch in Österreich und hatte mit Medienvertretern über Journalismus und die Rolle der Medien in der ägyptischen Revolution gesprochen. Sie sprach auch über Journalismus in einer Situation, in der sie nicht nur Beobachterin, sondern auch Freundin, Seelentrösterin, Unterstützerin und Kämpferin für eine gerechte Sache ist.

Wir erinnern uns: Der Ausgang der langen Tage der Demonstrationen in Kairo wurde gefeiert. Der deutsche Außenminister und damalige FDP-Vorsitzende Westerwelle ließ sich mit seinem Kollegen Dirk Niebel auf dem Tahrir-Platz in Kairo ablichten. Das Signal: Deutschland ist bei euch! Hosni weg - alles gut? Die Medien haben von Ägypten abgelassen. Es ist Krieg in Libyen. Das drängt, das interessiert die Öffentlichkeit.

In diesen Tagen erlebt Ägypten aber wieder bzw. immer noch Tage der Trauer und des Zweifels. Die Demonstranten fragen sich: Wie lange halten wir noch durch? Jetzt werden sie von der Armee getötet. Von der Instanz, die noch während des Umsturzes des Diktators als Ordnungsmacht gepriesen wurde. Nun veröffentlicht Kristin ein Foto auf Facebook: Ich sehe eine Blutlache in der Straße vor dem Haus, in dem ich lebte.Tod.

Daniel Roters


Es folgt ein Gastbeitrag von Kristin Jankowski aus Kairo. Sie lebt nur wenige Meter vom Tahrir-Platz enfernt und erlebte den Kugelhagel, den die Armee auf die Demonstranten niedergehen ließ...

"Ich kann nicht verstehen, warum sie Patronen gegen uns einsetzen", sagte ein Demonstrant. Die Sonne war gerade aufgegangen und lukte zwischen den Häusern hervor. Er sah müde aus, seine Augen waren gerötet. "Die Armee kam wie Adler von allen Seiten und hat uns  angegriffen. Ich habe mit meinen Freunden auf dem Tahrir-Platz gesessen. Und dann kamen sie von überall". Er schüttelt den Kopf, griff in seine Jackentasche und zuendete sich eine Zigarette an. "Wir haben friedlich demonstriert", fügte er hinzu. Sein Freund stand neben ihm. Er schaute sich um. Es war Samstag, der 9. April 2011, kurz nach 7 Uhr morgens.  Ein Bus stand in Flammen. Dunkler Rauch zog ueber den Tahrir-Platz. Ich war müde, ich konnte nachts kaum schlafen - zu viele Schüsse waren zu hören.

Kristin Jankowksi und ihre Freundin
Hend Khattab bei einem Besuch
in Alexandria.

Es war gegen 2 Uhr morgens als mich die Nachricht eines Freundes weckte. "Die Armee wird uns gleich angreifen. Kann ich notfalls zu dir kommen ?" Ich hatte rund eine Stunde geschlafen. Am Tag zuvor hatten tausende Demonstranten auf dem Tahrir-Platz demonstiert. Es war der größte Protest nachdem Hosni Mubarak am 11. Februar 2011 zurueckgetreten war. Die Demonstranten forderten unter anderem Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Präsidenten und seinen Gefolgsleuten. Der Protest richtete sich auch gegen die herrschende Armee. Ich stand auf, öffnete die Zimmertuer. Im Wohnzimmer lag Hend auf dem Sofa, sie hörte Musik und schaute auf den Bildschirm ihres Laptops. Ich setzte mich neben sie und erzählte ihr von der Nachricht, die ich erhalten hatte. Nur einige Minuten später zogen wir unsere Schuhe an und verließen die Wohnung. Wir wollten sehen, was vor sich ging.

Wir mussten nur um zwei Strassenecken gehen bis wir entdeckten, dass sich auf dem Tahrir-Platz immer noch zahlreiche Demonstranten versammelt hatten. Es war ein lautes Klopfen zu hören. Es kam mir bekannte vor. Ich erinnerte mich daran, dass ich das schon einmal gehoert hatte. Am 2. Februar 2011, als es zu schweren Ausschreitungen zwischen Demonstranten und angeheuerten Banden des Mubarak-Regimes gab. Ich schaute mich um und sah einen jungen Mann, der mit einem Stock immer und immer wieder gegen eine Absperrung haute. Tack, tack, tack, tack. Wir gingen in Richtung Museum und sahen, wie Leute aufgebracht Steine sammelten und uns darauf hinwiesen, dass es gefährlich sei und wir lieber verschwinden sollten. Wollten wir aber nicht. Wir gingen weiter. An der Menschenmasse vorbei, die eine Reihe vor dem Museum bildeten. Sie hatten bereits eine Barrikade gebaut. Hend und ich machten noch einige Schritte bis wir die Militärpolizei sahen. "Da sind sie", sagte Hend. Sie hielt meine Hand. Wir blieben für einen Moment stehen, bis uns ein Bekannter bat, einige Schritte zurück zu gehen. Wir beschlossen uns zurück zum Tahrir-Platz zu machen. "Das ist nicht gut, das ist nicht gut", wiederholte Hend und schüttelte ihren Kopf. Wir sahen, wie einige Demonstranten auf eine Kreuzung liefen. Aufgebracht. Einige von ihnen hatten Stöcke in ihren Händen. Dann sahen wir graue Gestalten auf die Leute zurannten. Es war zu dunkel um im ersten Moment zu erkennen, um wen es sich bei diesen grauen Gestalten handeln würde. Als sie nach einigen Sekunden unter einer Strassenlaterne entlang liefen, war es deutlich zu sehen: Soldaten. "Lass uns schnell abhauen", rief Hend und zog mich durch die Menschenmasse. Die meisten Leute rannten hastig hin und her. "Lass uns schnell nach Hause. Hier wird es gefährlich", sie zog weiter an mir.  Hinter uns hörten wir Schreie.  In unserer Wohnung angekommen, griffen wir nach unseren Ausweisen, legten sie in die Taschen. Dann liefen wir die Treppen wieder runter. Wir kamen nicht weit. Ein Militaerpolizist hielt uns an einem Checkpoint an der Strassenkreuzung auf. "Wo wollt ihr hin ?" fragte er. Die Ausgangssperre hatte seit rund einer Stunde begonnen. "Wir wohnen hier", antwortete Hend. "Warum dürfen wir nicht weitergehen ?" hakte sie nach. "Notfall", lautete seine knappe Antwort.

Wir nahmen einen anderen Weg um zum Tahrir-Platz zu gelangen. Die Straßen waren dunkel und leer. Ein Auto hielt neben uns. Drei junge Männer sassen darin und schauten uns an: "Geht nicht weiter. Es ist gefährlich." sagte einer von ihnen. "Ach...wir machen was wir wollen. Haut ab und passt selbst auf euch auf", fauchte Hend sie an. Ich musste lachen.

Wir gingen einige Schritte bis wir von Weitem eine Menschenmasse in der Nähe des ägyptischen Museums sahen. Und dann fielen Schüsse. Immer und immer wieder. Hend griff nach meiner Hand. Zahlreiche Leute rannten auf uns zu. "Schnell", rief Hend. "Sie schießen auf uns." Wir liefen davon. Die Schüsse zischten durch die Luft. "Oh mein Gott, die Armee tötet Menschen", rief Hend. Ihre Stimme zitterte während wir auf der Straße rannten. Einige Männer ueberholten uns beim Laufen. "Schnell, schnell, haut ab" riefen sie uns zu. "Spring auf den Bürgersteig. Dort ist es dunkel", sagte ich zu Hend. "Okay" hörte ich sie antworten. An einer Kreuzung hielt Hend an. Sie zitterte :"Denkst du, dass die Armee Menschen tötet ? Denkst Du, dass sie gerade Leute erschossen haben ?" Ich hielt Hend in meinem Arm. "Nein, das waren nur Schüsse in den Himmel." Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sie angelogen hatte. "Wir gehen jetzt nach Hause". Diesmal zog ich an ihrem Arm. Sie konnte kaum atmen. "Ich habe Angst, ich habe Angst" wiederholte Hend. Ich stütze sie. "Ich bringe dich schnell nach Hause". Sie nickte und holte tief Luft.
Schuesse. Von ueberall.

Es war 3:24 Uhr am morgen als ich auf die Uhr schaute. Ich schloss unsere Haustür auf.

Wir stellten uns auf den Balkon und schauten auf die Straße. Wir sahen Menschen hektisch hin und herlaufen. Es war kühl. "Hosni und die Armee sind eine Hand" hörten wir einige von ihnen rufen. Es bildete sich eine Gruppe von Leuten, die sich bückten. "Da liegt jemand am Boden", sagte Hend. Es war an der Straßenecke. Es war dunkel. "Oh mein Gott", sagte Hend. Sie griff nach meiner Schulter. Und klammerte sich an mir fest. "Jemand hat gerade gesagt, dass eine Ambulanz gerufen werden soll. Und ein anderer antwortete: Das macht keinen Sinn, er ist doch schon längst tot."

Am nächsten Tag werden wir ein Foto mit einer grossen Blutlache sehen. Dort, wo jemand auf dem Boden lag.

Die Schüße zischten weiterhin durch die Luft. Es schien, als ob sie von allen Seiten kommen wuerden. So nah. "Warum machen sie das ? Warum schießt die Armee ?" fragte Hend. "Das hört sich so an wie in einem Action-Film. Warum hören sie nicht auf ?"

An der anderen Strassenecke rannten Menschen davon. Soldaten liefen hinter ihnen her. Ich sah wie ein Soldat stehen blieb, seine Maschinenpistole richtete und schoss. Funken sprühten. Er schoss in die Richtung der Demonstranten. Immer und immer wieder.

"Das ist unfassbar", sagte Hend. "Lass uns versuchen zu schlafen, ich ertrage das nicht mehr".
Es war bereits früh am morgen. Ich schloss die Balkontür. Wir konnten nicht schlafen. Die Schüsse waren zu laut. "Es reicht", schimpfte Hend. "Stell dir einfach vor, dass es ein grosses Feuerwerk ist. Vielleicht hilft das. Oder fokussiere dich auf die zwitschernden Vögel", riet ich ihr. Sie musste lachen.

Immer wieder schreckten wir von den Schüssen auf und gingen zurück auf den Balkon. Es machte gar keinen Sinn zu probieren, ob wir bei dem Lärm schlafen können. Außerdem waren wir viel zu aufgebracht. Wir entschieden uns Kaffee zu machen und das Haus zu verlassen, wenn die Schüsse abgeklungen waren.

Gegen 6: 45 Uhr machten wir uns auf dem Weg zum Tahrir-Platz. Eine große Barrikade aus Stacheldrahtzaun, einer Tür und Eisenstaeben war  vor dem Zugang zum Platz aufgebaut. Steine lagen auf der Straße. Glassplitter. Wir sahen den brennenden Bus von Weitem. "Das sieht aus wie in einem Kampfgebiet", stellte Hend fest. Die Gesichter der Demonstranten, die noch auf dem Platz waren, sahen müde und geschockt aus. Einige von ihnen saßen auf Kartons oder Teppichen. Sie rauchten Zigaretten, schwiegen oder starrten ins Nichts.

Andere diskutierten heftig, fuchtelten aufgebracht mit den Armen. Ich hatte das Gefühl, als ob der Kampf um Ägypten in eine neue Phase eingetreten sei.

"Wir haben drei Soldaten festgehalten und ihnen ihre Kleidung abgenommen", sagte ein Demonstrant. Auf der Verkehrsinsel baute einer seiner Freunde ein blaues Zelt wieder auf. "Das alte Regime herrscht immer noch. Jetzt befinden wir uns im Krieg gegen die Armee", stellte ein anderer Demonstrant fest. Er trug einen grauen Kapuzenpullover, er hatte Ringe unter den Augen. "Ich wurde in der letzten Zeit schon zweimal von der Armee festgenommen. Jedesmal haben sie mich geschlagen. Das kann ich akzeptieren. Aber ich kann es nicht akzpetieren, dass sie auf uns geschossen haben", sagte er weiter.

Eine ältere Frau kam auf uns zu. Sie trug ein Notizbuch in ihrer Hand. Sie weinte und wischte sich die Tränen mit dem Aermel vom Gesicht. Ich schaute auf das Buch. Verschmiertes Blut. Etwas Rotes klebte zwischen dem Blut. Vielleicht war es ein Stueck Haut. "Das ist das Blut meiner Kinder", rief die Frau. Sie ging schlurchzend an uns vorbei.

Ein junger Mann drehte sich zur Seite und lehnte sich mit dem Gesicht an eine Häuserwand. Er weinte.

"Die Armee wollte doch sicherlich nur die Offiziere festnehmen, die auf dem Tahrir-Platz waren. Warum haben sie uns so brutal angegriffen ?" fragte Demonstrant.

Es hatten sich zahlreiche Angehörige des Militärs unter den Protest am Freitag gemischt und ein Zelt aufgebaut. Sie forderten den Militärrat unter anderem auf, zügiger gegen die Korruptionsvorwürfe gegen Hosni Mubarak vorzugegehen. Eine Menschenkette, bestehend aus zahlreichen Demonstranten, sollte die Soldaten vor Angriffen schützen.

"Doch als die Armee kam, mussten wir alle weglaufen. Ich habe geweint und ich habe gesehen, wie einige der Offiziere, die wir vorher bewacht hatten, auch geweint hatten. Das war schrecklich. Momentan habe ich das Gefühl, als ob ich den Boden unter den Füßen verlieren würde. Ich will schweigen. Ich bin sehr traurig", sagte der Demonstrant. Er wischte sich Traenen vom Gesicht.

In einem Video ist der Angriff auf den Tahrir-Platz zu sehen.

An dem Morgen des 9. April 2011 wurden laut Militärrat 42 Personen festgenommen. Acht von ihnen waren angeblich Leute, die Armee-Uniformen trugen.

Drei  Ausländer sollen unter den Festgenommen gewesen sein.

Die Zeitung "Al Masry al Youm" schreibt, dass Mediziner behaupten, zwei Männer seien getötet worden. Und 15 seien von Schüssen verletzt worden. Die Armee bestreitet das. Das Militär sagt, sie hätten mit Platzpatronen geschossen und es sei niemand davon umgekommen. Das staatliche Fernsehen behauptet, eine Person sei gestorben und 71 seien verletzt worden.

Seitdem ist der Tahrir-Platz wieder besetzt. "Es hat noch keine Revolution in Ägypten gegeben", kommentiere eine junge Demonstrantin. "Ich habe viel geweint", fuegte sie hinzu. Tränen steigen in ihren Augen auf. "Es wird alles gut, es wird alles gut."

Ich denke, sie weiß, dass sie sich irrt.

09.04.2011

Zur Geschichte des Islams in Tunesien, Folge 4

Tâhir al-Haddâd (1899-1935): Tunesiens verkannter Reformer, Tunesiens nationales Symbol

Dritter und letzter Teil

Von Iman Hajji

»Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß der Islam unschuldig ist, wenn es um den Vorwurf geht, er verhindere Reformen. Dies ist der Grund, der mich zum Verfassen dieser meiner Schrift über die Frau in Gesetz und Gesellschaft veranlasste, damit wir sehen, wer der Rechtleitende ist und wer nicht nur selbst in die Irre geht, sondern auch die anderen irreleitet. Ich hoffe, damit einer mir auferlegten Pflicht nachzukommen, in der ich eine Schuld sehe, die ich gegenüber dem Volk, dem ich angehöre, und einer Nation, von der ich ein Teil bin, habe.«
Tâhir al-Haddâd veröffentlichte sein Werk Imra'atunâ fî š-šarî'a wa-l-mujtama' im Oktober des Jahres 1930. In einer Zeit, in der in Tunesien eine nicht zu unterschätzende Frauenfeindlichkeit herrschte, widmete al-Haddâd seine Schrift eben diesen Frauen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden bzw. denen es, al-Haddâd zufolge, nicht möglich war, überhaupt ein Teil der Gesellschaft zu sein.

Frauendiskriminierung stellte für al-Haddâd eine große Malaise dar, die gesellschaftlichen Fortschritt hemmt und der aus diesem Grund entgegengewirkt werden muß. Es war für al-Haddâd eine nationale Pflicht, das Buch zu verfassen, und er hoffte, damit einen Beitrag zur Umgestaltung der tunesischen Gesellschaft zu leisten. Dabei versuchte er vor allem zu verdeutlichen, daß die Frauenunterdrückung nicht im Islam verwurzelt ist.

Die historische Entwicklung der Stellung der orientalischen Frau wird an verschiedenen Vergleichspunkten skizziert: Die beklagenswerte Situation der Frau in vorislamischer Zeit (jâhilîya) wurde vom Islam verbessert, ihr sozialer Status durch den Islam angehoben. Jedoch entwickelte er sich nach al-Haddâd dann wieder zurück, bedingt durch verschiedene Faktoren wie beispielsweise veraltete lokale Traditionen, was mit einer erneuten Entrechtung der Frauen einherging. Da dies weder im Sinne des Islam ist noch gesellschaftsfördernd wirkt, müsse dieser Zustand geändert werden.

Al-Haddâd bezieht sich auf Koran und Sunna und spricht sich gegen das Prinzip des insidâd bâb al-ijtihâd aus, also gegen die »Verriegelung« oder auch »Zumauerung« des »Tors des Ijtihâds«. Damit steht al-Haddâd in der Tradition des Reformers Jamâl ad-Dîn al-Afghânî (1839-97) und dessen Schülers Muhammad 'Abduh (1849-1905), für die »das Tor des Ijtihâd« ebenfalls keineswegs verschlossen war. Auch der jemenitische Gelehrte aš-Šawkânî hatte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts vehement bestritten, daß »das Tor des Ijtihâds« zu schließen, ja daß es überhaupt jemals geschlossen worden sei.

Al-Haddâd argumentiert, daß einzelne Gesetze im Islam häufig die Antwort auf ganz spezifische historische Ereignisse oder gesellschaftliche Begebenheiten gewesen und somit nicht selten kontextgebunden seien. Darüber hinaus gebe es jedoch Grundprinzipien, die unabhängig von jeglichen Faktoren von allgemeiner Gültigkeit sind. Dazu zählen der Monotheismus wie auch moralgeleitetes Handeln oder die Achtung von Gerechtigkeit, Würde und Gleichheit aller Menschen. Ferner existierten im Islam Phänomene fort, die bereits in vorislamischer Zeit im Gebrauch waren, die jedoch im Laufe der weiteren historischen Entwicklung hätten aufgehoben werden können. Er nennt als Beispiele Sklaverei und Polygamie und betont, daß diese Phänomene zwar im Islam weiterbestehen, jedoch nicht zu seiner Essenz gehören. Das Aufheben dieser Traditionen würde ihm zufolge dem Islam nicht schaden.

Es können an dieser Stelle nicht alle Punkte behandelt werden, die al-Haddâd bezüglich der rechtlichen Stellung der Frau diskutiert. Ich beschränke mich daher auf die Thematik des Schleiers. (Andere Themen, die in seinem Werk diskutiert werden sind u.a. Ehe bzw. das Recht auf freie Partnerwahl, Polygamie, Scheidung und Erbrecht.)
* * *

Al-Haddâd widmet der Frage des Ganzkörperschleiers, der zu seiner Zeit die übliche Kleidervorschrift für Frauen in Tunesien war, besondere Aufmerksamkeit und unterstreicht, daß der Schleier in der genannten Form in den koranischen Bekleidungsvorschriften nicht belegt sei.

Den Vers »Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihren Blick senken und ihre Scham wahren, ihren Schmuck nicht offen legen, außer dem, was davon sichtbar ist. […]« (Koran 24:31) legt al-Haddâd unorthodox aus: Die Vorschrift, die Augen niederzuschlagen, führe demnach zu der Schlußfolgerung, daß Blicke zwischen Männern und Frauen nicht durch einen Schleier getrennt sein könnten, denn andernfalls wäre die Vorschrift ja gegenstandslos. Durch die Aussage »soweit er (sc. der Schmuck) nicht normalerweise sichtbar ist« (illâ mâ zahara minhâ), lege der Koran nicht wörtlich fest, was von der Frau sichtbar sein darf und was bedeckt sein muß, damit die Auslegung keine »statische« sei, sondern an die Entwicklungen und die Bräuche der jeweiligen Zeit angepaßt werden könne. Und al-Haddâd geht noch einen Schritt weiter:
»Dies verdeutlicht, daß der Schleier, den wir der Frau als eine Grundlage des Islam auftragen – sei es indem wir sie im Hause verweilen lassen oder indem wir ihr den Gesichtsschleier überziehen – keine Angelegenheit ist, die sich ohne weiteres als eine islamische bestimmen läßt. Vielmehr verdeutlicht der Wortsinn des Verses die Ablehnung des Schleiers aufgrund der (Auslegungs)schwierigkeiten, die mit ihm verbunden sind. Was uns sicher sein läßt, daß der Schleier nicht auf dem Islam basiert, ist die Tatsache, daß, wenn er etwas "Eindeutiges" gewesen wäre, das der Prophet befürwortet hätte, wie es seine (sc. des Schleiers) Anhänger behaupten, doch dann wäre es nicht möglich, dass die geistigen Führer des Islam darüber uneins waren; dazu gehören doch die Gefährten des Propheten und die Gelehrten, die deren Zeit erlebten.«
Es wird ersichtlich, daß al-Haddâd den Schleier bzw. die komplette Verhüllung der Frau, einschließlich ihres Gesichts, zu den Elementen zählt, die zwar im Islam existieren, jedoch nicht zu seinem »Fundament« gehören.

Der Diskussion wird ein weiterer entscheidender Vers hinzugefügt: »Prophet, sag deinen Frauen, deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herabziehen. So werden sie am ehesten erkannt und nicht gekränkt. Gott ist voller Vergebung und barmherzig.« (Koran 33:59). Al-Haddâd schließt aus diesem Vers ein Verbot der Zurschaustellung weiblicher Reize (tabarruj), um unzüchtige Gedanken bei Männern zu vermeiden. Man müsse außerdem dabei berücksichtigen, daß die Frauen der vorislamischen jâhilîya ihr Dekolleté, ihren Nacken sowie ihre Beine nicht zu bedecken pflegten. Die in dem Vers enthaltene Bekleidungsvorschrift diene dazu, die muslimische Frau von der Nichtmuslimin zu unterscheiden und sie vor »boshaftem Gerede« (sû' al-qawl) zu schützen. Nach der Darstellung al-Haddâds werden damit gleichzeitig islamische Werte geschützt.

Er betont darüberhinaus, daß man das Gebot des hijâb (Gesichtsschleiers) fälschlicherweise dahingehend interpretiere, die Frau zu Hause abzuschirmen und soziale Kontakte zwischen den beiden Geschlechtern zu unterbinden. Al-Haddâd widerlegt diese Annahme durch den folgenden Koranvers: »Keine Beschwernis sollen haben der Blinde, der Krüppel, der Kranke und ihr selbst, wenn ihr in eurem Haus esst, in dem eures Vaters oder eurer Mutter, eurer Brüder oder Schwestern, eurer Onkel und Tanten väterlicherseits, eurer Onkel und Tanten mütterlicherseits, in einem, dessen Schlüssel ihr beseitzt, oder dem eines Freundes. Es ist für euch kein Vergehen, gemeinsam oder getrennt zu essen. Doch wenn ihr in Häuser geht, dann grüßt einander mit gesegnetem, gutem Gruß von Gott! So macht Gott euch die Zeichen klar. Vielleicht versteht ihr!« (Koran 24:61). Dieser Vers zeigt laut al-Haddâd, daß der Islam seine Anhänger ermutigt, freundschaftliche Beziehungen zueinander zu pflegen. Daran sei nichts Verwerfliches, solange man keine »verdorbenen« Absichten verfolge.

Insgesamt seien die zitierten Verse Vorsichtsmaßnahmen, die die Gesellschaft vor Verderbtheit schützen, die jedoch nicht zu einem Hindernis im Alltagsleben der Menschen ausarten sollen. Dies sei zwar der Fall, allerdings sei nicht der Islam, sondern vielmehr die ignorante Auslegung seiner Gebote dafür verantwortlich:
»Die Lehre, die wir aus diesen edlen Versen ziehen, ist, daß die Maßnahmen, die zur Vorbeugung vor Schandtaten dienen, nicht zu störenden Faktoren im Leben der Menschen und zu Behinderung ihrer Interessen werden sollten. (Dies steht) im Gegensatz zu unserer heutigen Auffassung des Islam, mit der wir die Frau und dadurch uns selbst vernichtet haben Dadurch wären wir muslimischer als der Islam (verlangt). Welch Unglück und welche Ignoranz.«
Was die Herkunft des Schleiers betrifft, so legt al-Haddâd dar, daß er ursprünglich ein über Jahrhunderte hinweg praktizierter Stammesbrauch sei. Einige Stämme gingen sogar so weit, das Tragen des Schleiers auch in Anwesenheit von engsten Familienangehörigen wie Vätern oder älteren Brüdern vorauszusetzen. Bei einigen Stämmen, den sogenannten mulaththamûn (»die Verhüllten«) ist das Tragen des Schleiers selbst für Männer Pflicht; »Verhüllte« in diesem Sinn nennt man in Nordafrika insbesondere auch die Tuareg. Dennoch merkt al-Haddâd an, daß der Schleier zwar in Städten und Dörfern getragen wird, nicht jedoch in der Wüste, wo die Menschen »ihren Instinkten folgen«. In diesem Sinne schreibt er: »Jedes Mal, wenn ich über die Angelegenheit des Schleiers nachdenke, dann sehe ich darin unseren Egoismus, der sich hinter religiösen Gefühlen versteckt, als Festung, mit der er sich über Andersdenkende erhebt.«

Auf gesellschaftlicher Ebene sei der Schleier besonders problematisch, wenn es um die Partnerwahl gehe. Al-Haddâd argumentiert, daß die Partnerwahl aufgrund des Schleiers stark eingeschränkt werde. Der Mann habe sich bei der Brautwahl an den Beschreibungen der Familie der Braut zu orientieren, welche nicht selten überschwenglich –  und wenig wirklichkeitsgetreu! – seien. Deshalb könne der Mann nie wirklich wissen, was er »bekomme«, und tatsächlich werde er nicht selten getäuscht. Das Ergebnis sind unglückliche Ehen und eine hohe Scheidungsrate. Das Ablegen des Schleiers sei deshalb mit Vorteilen für beide Geschlechter verbunden, und tatsächlich, so der Autor, legten immer mehr Frauen den Schleier ab, orientiert am Beispiel der Europäerinnen.

Al-Haddâd betont jedoch, daß das Ablegen des Schleiers nicht mit der völligen Entblößung von Nacken, Brust und Gliedmaßen sowie dem Tragen von reizvollem Schmuck und Parfum einhergehen sollte. Mit anderen Worten: Das geforderte Ablegen des Schleiers soll nicht in ein blindes Nachahmen europäischer Bräuche ausarten, wie von Verfechtern des Schleiers bereits drohend vorhergesagt wurde. Entscheidend sei es, das richtige Maß der Dinge zu finden. Dabei sollten sich Frauen vor allem auf ihre Pflichten und ihre Verantwortung konzentrieren und sich nicht zu einem Objekt männlicher Begierde degradieren.

* * *

Die Quintessenz der Ausführungen al-Haddâds kann durchaus in der bereits erwähnten progressiven Rechtsprechung und der zeitgemäßen Auslegung islamischer Vorschriften gesehen werden. Al-Haddâd zeichnet sich vor anderen Reformern durch seinen energischen Modernisierungsdrang und die Erkenntnis aus, daß eine Umgestaltung der tunesischen Gesellschaft nur realisierbar ist, wenn vorher die Situation der tunesischen Frau geändert und ihre Emanzipation gewährleistet wird.

Der namhafte französische Islamwissenschaftler Jacques Berque bemerkte nicht zu Unrecht:
»Les réformistes, qui de surcroît ont sur eux l’avantage de l’élocution, les ridiculisent. Mais, ce faisant, ils ne dépassent pas certaines limites. Eux-mêmes ne touchent qu’avec mille précautions à des questions comme celle de la femme. C’est ce qu’on voit bien au moment de la querelle soulevée par le livre de H’addâd (sic!)« (J. Berque: Le maghreb entre deux guerres, Band 2, S. 639 f.)
Das erklärt vielleicht auch die Reaktionen, die al-Haddâds Werk in Tunesien hervorrief. Die kolonisierten Muslime, die wesentlich darauf bedacht waren, ihre kulturelle Identität zu verteidigen, mußten nun zusehen, wie al-Haddâd aus ihren eigenen Reihen an ihrem kulturellen Gerüst rüttelte und sich gegen ihre Traditionen wandte. Die Annahme, daß al-Haddâd mit seinen Gedanken seinem Land und seiner Zeit voraus war, ist somit nicht unbegründet.

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß einige Autoren al-Haddâd als Feministen bezeichnen. Inwieweit es sich bei al-Haddâds Diskurs jedoch tatsächlich um einen »feministischen« handelt, muß ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob sich al-Haddâd selbst als Feminist verstanden hat. Seine frauenfreundliche Haltung kann ihm freilich keiner aberkennen. Davon zeugt nicht nur sein Werk Imra'atunâ fî š-šarî'a wa-l-mujtama', denn in seinen Gedanken liest man u.a.:
»Wir lieben die Frau – und wir hassen sie. Wir lieben sie als Beute zwischen unseren Händen, auch wenn sie unsere Existenz zerstört – und wir hassen sie als Freie und Vernünftige neben uns, weil wir wissen, wie wir Lust durch die Reizung unserer Sinne erfahren können. Wir wissen jedoch nicht, wie wir Lust durch die Reizung unserer Seelen und Gedanken erfahren können.«
Trotzdem stellt sich die Frage, ob al-Haddâd wirklich die Befreiung der tunesischen Frau um der Frauen willen fordert. Ob er ihre vollständige Gleichberechtigung im Sinne des Feminismus fordert, ist ebenfalls zweifelhaft. Seine Motivation geht eher von seinem persönlichen Islamverständnis aus und dem Willen, den »wahren« Geist des Islam zu verwirklichen, von dem seiner Meinung nach die tunesische Gesellschaft »abgefallen« ist. Tatsächlich hat er erkannt, daß eine gesellschaftliche Reform nur erreicht werden kann, wenn vorher die Situation der Frau geändert wird. Die Emanzipation der Frau sollte demnach schon aus gesellschaftlichem Interesse verwirklicht werden.

Literatur:
Iman Hajji: Ein Mann spricht für die Frauen. at-Tahir al-Haddad und seine Schrift ›Die tunesische Frau in Gesetz und Gesellschaft‹, Berlin 2009 (Islamkundliche Untersuchungen 291).

Quellen und moderne Studien:
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Anmerkung der Redaktion:

Iman Hajjis Buch wurde auf Qantara.de von Martina Sabra rezensiert:
»Der tunesische Islamgelehrte und Aktivist Tahar Haddad. Ein korantreuer Rebell«

Aus aktuellem Anlaß sei hier auch auf den am 5. April 2011 ebenfalls auf Qantara.de erschienenen Beitrag von Lamya Kaddor hingewiesen:
»Koran-Auslegung: Warum ich als Muslima kein Kopftuch trage«

Zu dem im Beitrag erwähnten französischen Islamwissenschaftler Jacques Berque siehe hier.
Rezensionen seines Buches »Le maghreb entre deux guerres«:

07.04.2011

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