30.01.2011

Das geostrategische Glück Tunesiens ... und das Unglück Ägyptens: Warum der Westen weiterhin mit zweierlei Maß mißt

Von Marco Schöller

Seit dem 25. Januar, spätestens aber seit den Ereignissen der letzten drei Tage kündigt sich das Ende des Regimes Mubaraks in Ägypten an. Man kann noch nicht sagen, was sich aus der gegenwärtigen Krise entwickeln wird, aber man kann prophezeien, daß die Situation in Ägypten einen Punkt erreicht hat, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Es ist auch müßig, darüber zu spekulieren, inwieweit die Geschehnisse in Tunesien den Aufstand in Ägypten unterstützt oder gar motiviert haben. Einerseits wurde berichtet, Demonstranten in Kairo hätten die tunesische Nationalhymne gesungen und Slogans gerufen, die das Schicksal Ben-Alis mit der Zukunft von Mubarak in Verbindung brachten. Andererseits mögen nicht alle Ägypter die Frage nach dem Vorbildcharakter Tunesiens für den gegenwärtigen Aufstand, als würde man damit insinuieren, sie seien aus eigenem Antrieb nicht in der Lage, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Aber wie dem auch sei, seit der Flucht Ben-Alis aus Tunesiens ist nichts mehr wie es war in der arabischen Welt, und das wird für eine lange Zeit so bleiben.

28.01.2011

Diktatur und Gesellschaft in Tunesien

"Fast 60 Jahre Diktatur haben die
tunesische Bevölkerung tief
traumatisiert." - Dr. Jemal. Ben Abdeljelil
Ein Gastbeitrag von Jamel. Abdeljelil
Centrum für Religiöse Studien, WWU Münster

Massendemonstrationen in Tunesien, Algerien, Ägypten und im Jemen, ein geflohener Staatschef, eine ungewisse Zukunft - die "arabische Welt" erlebt in den letzten Tagen und Wochen massive politische Veränderungen. Q History-Redakteur Henrik Kipshagen sprach darüber mit Dr. Jamel. Ben Abdeljelil, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Münsteraner Zentrum für religiöse Studien. Dabei ging es auch um die historischen Hintergründe der gegenwärtigen Ereignisse.

25.01.2011

Gibt uns Tunesien Europa zurück?

Warum uns die tunesische Revolution zwingt, neu darüber nachzudenken, was Europa bedeutet

Von Marco Schöller

Von vielen Menschen wird »Europa« als ein Begriff wahrgenommen, der vor allem eines besagt: Ausschluß. Es sind diejenigen, die aufgrund historischer, wirtschaftlicher oder auch geographischer Argumente an Europa nicht teilhaben dürfen und denen es – wie im Fall der afrikanischen Bootsflüchtlinge – verwehrt wird, sich in Europa für längere Zeit aufzuhalten. Wir haben also mehrere Ebenen: die politische, auf der sich zunächst alle Debatten über die EU-Erweiterung im Osten Europas oder auch den EU-Beitritt der Türkei bewegen. Und die gesellschaftliche bzw. sozioökonomische Debatte, die innerhalb der EU-Staaten darüber geführt wird, wieviel Zuwanderung – und aus welchen Ländern und mit welcher Qualifikation! – Europa verträgt. Die erste Debatte kann dabei leicht, wie im Fall der Türkei, dazu instrumentalisiert werden, um darüber zu streiten, inwiefern sich Europa als vermeintlich kulturelle »gewachsene«, christlich-jüdisch geprägte Großregion gegenüber »fremden« Kulturen positionieren kann oder soll. Die zweite Debatte, die den Maximen eines mehr oder weniger menschenverachtenden sozioökonomischen Effizienzwahns verpflichtet ist, ist erst jüngst in diese Richtung hin instrumentalisiert worden, speziell im Kielwasser der Sarrazin-Diskussion, deren Urheber zufolge indische Computerspezialisten wünschenswert, anatolische Sozialstaatsschmarotzer dagegen nicht wünschenswert sind – wenn es nur so einfach wäre!

23.01.2011

Gold im Ärmel: Gier und Moral eines Autokraten, Tunesien Anno Dazumal


Von Marco Schöller

Golddinar, geprägt unter Ziyâdat-Allâh
Über die Cliquenwirtschaft des Ben-Ali-Regimes ist die westliche Öffentlichkeit in den letzten Tagen ausführlich unterrichtet worden. Mit der Ausbeutung des Landes zur persönlichen Bereicherung verbindet man inzwischen v.a. den Namen von Laila Trabelsi, der Gattin des gestürzten tunesischen Präsidenten. Ob sie tatsächlich nicht weniger als 1,5 Tonnen Gold außer Landes brachte, scheint kaum glaubhaft und wurde von der tunesischen Staatsbank bereits dementiert; vermutlich wird es wahr sein. Ob sie kurz vor ihrem Abflug sagte: »Packt erst das Gold ein und hängt dann alle auf!« ist nicht zu klären. Die BILD-Zeitung taufte sie »die gierige Leila«, in ausländischen Medien wurde sie als »Imelda Marcos von Tunis« betitelt.


20.01.2011

Égalité, liberté, fraternité?

Wie sich Frankreich zu den Ereignissen in Tunesien positioniert

 Von Marco Schöller


Frankreich fühlt sich seit vielen Jahrzehnten in besonderer Weise »zuständig« für die Entwicklungen in Tunesien. Seit 1881 durch einen großangelegten Militäreinsatz das französische Protektorat in dem nordafrikanischen Land eingerichtet wurde, ist Frankreich – und alles, wofür Frankreich steht – die wichtigste Konstante für die Entwicklung Tunesiens, in positiver wie in negativer Hinsicht. Auch nach der Unabhängigkeit Tunesiens im Jahr 1956, als die systematische Ausplünderung des Landes – die von den französischen Kolonialbehörden euphemistisch als »Inwertsetzung« (mise-en-valeur) bezeichnet wurde – ihr offizielles Ende fand, blieb der französische Einfluß weitreichend. Das gilt bis in die jüngste Zeit und bis hin zur Kooperation der Regierung Sarkozy mit dem Ben-Ali-Regime in Tunis.

18.01.2011

Die Große Hoffnung

Warum wir die historischen Ereignisse in Tunesien nicht kleinreden dürfen

 Von Marco Schöller

Am Montagabend wurde in Tunesien die neue Übergangsregierung vorgestellt, doch weil an ihr fünf Mitglieder der alten Regierungspartei beteiligt sind, hat man die neue Regierung, im Ausland wie in Tunesien, nur mit Zurückhaltung oder Skepsis be­grüßt. Nun sind weniger als 24 Stunden später vier Minister aus Protest gegen die Beteiligung der alten Regierungspartei bereits wieder zurückgetreten, und in Tunesien demonstriert man am Abend gegen die verbliebenen Minister; viele fordern nichts weniger als die Auflösung der alten Regierungspartei. Kaum im Amt, wackelt die neue Regierung und manches deutet daraufhin, daß sie die nächsten Tage nicht in der jetzigen Form überleben wird.

14.01.2011

Wir wollen es ja nicht wissen, normalerweise...

Von Marco Schöller

Warum es erst Bilder von Bomben und Straßenkämpfen braucht, bevor der Westen hinsieht

Tunesien ist seit vielen Jahren im Visier von Menschenrechtsorganisationen. Es gibt dort Pressezensur, zahlreiche politische Gefangene, und die politische Opposition wird härter verfolgt als in den benachbarten arabischen Staaten. Ben Ali hat sich einen Namen als »harter Hund« gemacht. Das war und ist alles bekannt – zumindest denjenigen, die es bisher wissen wollten. Wie auch in Ägypten herrscht in Tunesien eine »präsidiale Dikta­tur«, wie man es beschönigend nennt. Gemeint ist die Herrschaft einer kleinen Macht­elite, die mit Hilfe des Militärs und westlicher Unterstützung ihr je­weiliges Land als Privatbesitz behandelt und den verfügbaren Reichtum des Landes, den sie in die eigenen Taschen abschöpft, in vom Militär bewachten VIP-Residenzen verprasst. Das ganze wird gesellschaftlich von einer korrupten Partei- und Staatsbürokratie getragen, die für ihre Teilnahme an diesem System mit kleinen Privi­legien und einem sicheren Job entschädigt wird. Ein Schelm, wer dabei an die Zustände in der einstigen DDR denkt – aber die DDR stand auf der falschen ideologischen Seite.