17.12.2011

Das ägyptische Volk braucht keine Zugeständnisse

Von Daniel Roters

Politische Straßenkunst in der Muhammad Mahmoud Straße
in Kairo, die Botschaft deutlich. (Foto: Muhammad Moneib)
Die Zelte auf dem Tahrir-Platz brennen nieder. Menschen werden eingekesselt. Einzelne werden von Dutzenden von Soldaten niedergeschlagen und verprügelt.

Für den amtierenden und vom Militärrat eingesetzten Premierminister Kamal Al Ganzouri zeigen die Bilder dieses Wochenendes ein "Gegenangriff auf die Revolution des 25. Januars". In seiner Rede am Samstag Mittag (17.12.2011) mahnte er die Jugend, die Revolution nicht zu gefährden. Er sprach von der ökonomischen Krise durch die Verunsicherung ausländischer Investoren, über das Haushaltsdefizit und bekräftigte, dass keine Gewalt gegen Demonstranten eingesetzt werden würde. Bei den Ausschreitungen am Freitag sind mindestens 8 Menschen gestorben und mehrere hundert Menschen verletzt worden. Über die Toten und Verletzten kein Wort. Keine Worte der Beruhigung und keine Worte zur Deeskalation.

Al Ganzouri sprach während der heutigen Pressekonferenz nicht über die Gründe der erneuten Proteste. Die sogenannte "Occupy Cabinet" Bewegung hatte seit zwei Wochen vor dem Regierungssitz des amtierenden Kabinetts unter Kamal Al Ganzouri kampiert. Sie fordern eine zivile, souveräne Regierung und den Rücktritt von Al Ganzouri, der das Amt des Premierministers bereits unter Hosni Mubarak von Januar 1996 bis zum Oktober 1999 ausführte. Auch der amtierende Innenminister Mohamed Ibrahim steht unter massivem Druck.

Ibrahim hatte unter anderem eine Null-Toleranz-Politik gegenüber sudanesischen Flüchtlingen gefahren, die gegen Willkür der ägyptischen Asylpolitik demonstriert hatten. Im Dezember 2005 ließ der damalige Polizeichef des Giza-Bezirks Ibrahim ein Protestlager im Stadtteil Mohandiseen räumen. Durch den Angriff der bewaffneten Bereitschaftspolizei kam es zu einer Massenpankik unter den Flüchtlingen. Mindestens 10 von ihnen starben. Dies alles geschah in Sichtweite des Büros der Vereinten Nationen in Ägypten.

Al Ganzouri handelt unverantwortlich. Er kriminalisiert die Forderung der Demonstranten und pflegt weiterhin die paternalistische Rhetorik eines Hosni Mubarak oder eines Omar Suleiman, der im Frühjahr 2011 die Jugend gebeten hatte, sich doch ein wenig zu beruhigen.

Sollte Al Ganzouri keiner handlungsfähigen Regierung vorstehen, dann wären deutliche Worte angebracht. Wie stark und eigenständig die handelnden Akteure in Ägypten sind, wird nicht oder nur unzureichend diskutiert.

Al Ganzouri musste als Premierminister für die Demonstranten als Option indiskutabel sein. Sein Vorgänger Essam Sharaf war der Protestbewegung genehmer. Er hatte frühzeitig deutlich gemacht, dass er die Forderungen der Bewegung unterstützte. Doch sein Rücktritt im vergangenen Monat muss als Zeichen gewertet werden, dass die militärischen Führer des Landes nicht bereit sind, das Feld zu räumen.

Die Medienberichterstattung hat die stattfindenden Wahlen in Ägypten oft als eine Art Zugeständnis des Militärrats an das ägyptische Volk gewertet. Der Wahlprozess in mehreren Phasen wurde von offizieller Seite unter anderem damit begründet, dass Wahlfälschungen minimiert werden sollten. Dies schien Beobachtern plausibel und die Kritik hielt sich in Grenzen. Es scheint so, als wollte man unbedingt glauben, dass ausgerechnet das ägyptische Militär bereit sei, die Macht auf eine autonome zivile Regierung zu übertragen.

Während nun also bis in das Frühjahr hinein gewählt wird, sehen wir nun ein Theater, welches vor unseren Augen aufgebaut wird. Auf dem Rücken der Toten und Geprügelten soll vermittelt werden, dass Ägypten nicht bereit sei für eine demokratisch gewählte Regierung.

Die Bider sprechen für sich. Wir erinnern uns an Menschenschlangen vor den Wahllokalen, Diskussionen über Kandidaten und Programme.

Die Bilder dieses Wochenendes müssen nicht kommentiert werden.

Die Wahlen werden unter Umständen ins Leere laufen und dies nicht, weil die Ägypter und ihre politischen Vertreter nicht bereit sind, sich selbst zu regieren, sondern weil die militärischen Führer des Landes dies unter allen Umständen verhindern wollen.

Dies war 1952 der Fall und auch 2012 wird dies der Fall sein. Das ägyptische Militär wird das Land führen und die Revolution und deren Opfer für sich vereinnahmen.

"Zugeständnisse" seitens des Militärs sind keine Wohltätigkeiten. Sie sind ein Kauf von Zeit. Von Zugeständnissen zu schreiben und zu sprechen ist ein Hohn angesichts der massiven Verletzungen von Menschenrechten.

10.12.2011

Rezension: Karim El-Gawhary - Tagebuch der arabischen Revolution

 Von Daniel Roters

Kein anderer deutschsprachiger Journalist nutzt die neuen Medien so intensiv wie Karim El-Gawhary, Leiter des ORF-Büros in Kairo. Mit seinem neuen Buch "Tagebuch der arabischen Revolution" beweist er, dass er ein Näschen hat für innovativen, spannenden und trotzdem unaufgeregten Journalismus.

El-Gawhary begann sich ein halbes Jahr vor den Ereignissen des Frühlings 2011 mit Facebook und Twitter zu beschäftigen. Auch ein Weblog mit dem Titel Arabesken berichtete fortan aus der Region. Nur wenige nahmen ein leises Brummen, ein sonores Grummeln in Tunesien oder Ägypten wahr. Zum Glück war auch Karim El-Gawhary einer von ihnen. Dank seines Internet-Journalismus liegt uns nun mit "Tagebuch der arabischen Revolution" ein Zeitdokument vor.

Texte aus seinem Blog, Statusmeldungen aus dem Facebook und sogar Transkiptionen von Live-Schaltungen des ORF zu Karim El-Gawhary packen mich. Ich fühle mich als erlebte ich alles noch einmal. Die Tage der Anspannung, der Traurigkeit, der Sorge um meine lieben Freunde in Kairo. Ich habe tatsächlich während des Lesens  den Eindruck, ich sei in Tunesien, in Libyen und in Ägypten gleichzeitig. Jede Seite ist ein Abbild der Ereignisse aus dem Frühjahr, ein Art gedruckte Zeitmaschine auf 237 Seiten.

Und es ist authentisch: Im Gegensatz zu anderen Journalisten hat El-Gawhary nicht nur ein paar laue Sommernächte in Kairo oder Bengasi verbracht, um dann ins ein Flugzeug zu steigen und gen Westen zu fliegen. Er war vor Ort, bei den Menschen und ihren Geschichten.

Spannend, journalistisch präzise und vor allem herrlich unaufgeregt ist El-Gawharys Journalismus. Zwischen zwei Buchdeckeln findet der Leser die Essenz aus mehreren Monaten, in denen die Welt den Atem anhielt und in Richtung arabischer Welt blickte. Nach der Lektüre weiß der Leser dann auch, warum El-Gawharys Artikel nicht nur informieren, sondern mitreißen: Sein Texte sind aber nicht nur gründlich und präzise recherchiert, sondern auch persönlich - ohne dem Leser unangenehm aufzufallen. Gefällt mir!

Tagebuch der arabischen Revolution von Karim El-Gawhary, erschienen bei Kremayer & Scheriau (Wien) im September 2011

04.10.2011

Maikel Nabil Sanad: Ein Tod auf Raten

Von Daniel Roters, Kairo

Sahar Maher (21),
festgenommen am 4. Oktober 2011, sagte uns am 10. Februar 2011:
"Ich nehme an diesen Demonstrationen teil, weil ich meine Würde
und meine Freiheit verteidigen muss."
Am 4. Oktober 2011 sollte die Wende im Fall Maikel Nabil Sanad erfolgen. Nicht zuletzt aufgrund des wachsenden internationalen Drucks hofften seine Unterstützer, dass der Militärgerichtshof den sich seit mehr als 40 Tagen im Hungerstreik befindenden Blogger freilassen würde. Hoffnungen, die jäh zerschlagen wurden.

Sie veranstalten stille Demonstrationen, stehen mit ihren Schildern auf Brücken, in den Straßen und vor den Machtzentren der ägyptischen Militärregierung, um Maikel Nabil Sanad freizubekommen, der seit Ende März in Militärhaft ist.

Heute wurde Sahar Maher festgenommen. Zusammen mit Maikels Bruder Mark hatte sie vor dem Militärgericht für die Freilassung Maikels demonstriert. Sie habe eine Konfrontation zwischen Militär und Demonstranten mit ihrem Handy gefilmt. Beobachter vor Ort berichten auch, dass ein Journalist des Christian Science Monitor festgenommen wurde. Sahar Maher wird zur Stunde verhört. 

Am 04. Oktober 2011 sollte vor dem Militärgericht eine Anhörung stattfinden, die über Maikels Verfahren entscheiden sollte. Es ist der Tag 43, an dem Maikel keine Nahrung und keine Flüssigkeit mehr zu sich nimmt. Ein Tod auf Raten und ein Hilfeschrei, der in den letzten Wochen auch ausländische Medien auf seinen Fall aufmerksam machte.

Erst kürzlich hatte Ruprecht Polenz (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des deutschen Bundestages, in einem Brief an den ägyptischen Botschafter in Deutschland, Ramzy Ezzeldin Ramzy, die Freilassung Maikel Nabil Sanads gefordert:

Es muss sichergestellt sein, dass der Inhaftierte angemessen medizinisch versorgt wird und von jeglicher Art der Misshandlung geschützt ist. Handelt es sich bei Maikel Nabil Sanad um einen politischen Gefangenen, ist er unverzüglich freizulassen.

Heute wurde der Fall Maikel Nabil Sanad auf den 11. Oktober vertagt. Die Begründung für die Verzögerung: Die Akte sei dem Gericht nicht rechtzeitig zugetragen worden. Eine weitere Woche, die Maikel Nabil Kraft kosten wird und ihn in Lebensgefahr schweben lässt. Dies passiert circa eine Woche nachdem der de facto Präsident Ägyptens Feldmarschall Tantawi erklärt hatte, er werde sich für die Beendigung der Militärgerichtsverfahren einsetzen.

Tantawi hatte bei einer Anhörung zum Verfahren gegen Ex-Präsident Mubarak und Omar Suleiman außerdem bekundet, er selbst und das ägyptische Miliär habe nie Befehle erhalten, auf Demonstranten zu schießen. Das sei nicht passiert und es werde nicht passieren.

Sahar Maher wird wahrscheinlich offiziell vorgeworfen werden, sie habe Militäreigentum fotografiert, was in Ägypten illegal ist. Sie könnte im günstigsten Fall mit einer Geldstrafe davonkommen. Inoffiziell könnten Aktionen der Militärregierung gegen Sahar Maher als Drohung und Exempel gegen die Demokratiebewegung in Ägypten verstanden werden.

Und es wird noch viele Freitage geben, an denen sich der Tahrir-Platz mit Demonstranten füllen wird, um für das Ende der Militärherrschaft zu demonstrieren.

Aktualisierung: Sahar Maher ist nach drei Stunden inzwischen wieder freigelassen worden. Sie wird sich am Tag der Anhörung im Fall Maikel Nabil (11. Oktober) ebenfalls vor dem Militärgericht verantworten müssen. Die Vorwürfe: Teilnahme an einer Versammlung an einem Gebäude des Militärs, das Filmen bzw. Fotografieren militärischen Personals.


20.09.2011

Menschenrechtspreis 2011: Khaled Saeed und wenn die Welt zusammenrückt

Khaled Saeed auf einem Stück der Berliner Mauer.
Khaleds Schwester Zahraa Kassem schrieb mit roter Schrift
"Khaleds Rechte sind Ägyptens Rechte" und unten ist zu
lesen "Wir sind alle Khaled Saeed", eine Kalligraphie
von Mohamed Gaber, gemalt von "Case".
Von Daniel Roters, Kairo

Am 19. September verlieh die Friedrich-Ebert-Stiftung den Menschenrechtspreis 2011 an Khaled Saeed (Ägypten) und Slim Amamou (Tunesien). Mit einer künstlerischen Aktion reicht Deutschland den Ägyptern nun die Hand.

Der sogenannte "Arabische Frühling" droht im Fall Ägypten zu erkalten. Die Menschen auf der Straße und die Aktivisten von damals sind ernüchtert über die derzeitige Situation in Ägypten.

Wir berichteten über die zahlreichen Graffitis, die allerorts auftauchen, ein Mahnmal für Ägypten und die Ägypter. Richtig ist aber aber auch, dass an staatlichen Gebäuden versucht wird, die kleinen Kunstwerke abzuwaschen, als habe der Fall Khaled Saeed nie stattgefunden, als habe es keinen Frühling in Ägypten gegeben.

Ein Zeichen, welches Mut macht, ist nun in Berlin gesetzt worden. Die Friedrich-Ebert Stiftung hat am 19. September 2011 den Blogger Khaled Said posthum mit dem Menschenrechtspreis 2011 geehrt. Der im Juni 2010 verstorbene junge Mann hatte belastendes Material über Polizeioffiziere in seiner Heimatstadt Alexandria gesammelt. In einem Internetcafé wurde er dann von Polizisten aufgesucht, auf die Straße gezerrt und zu Tode geprügelt. Die Autoritäten und auch Gerichtsmediziner versuchten im Nachhinein den Fall zu vertuschen, indem sie den Aktivisten und seine Familie diskreditierten.

Schnell verbreiteten sich Fotos des geschundenen Körpers des jungen Mannes über die sozialen Netzwerke. Zwar hatte jeder diese grausamen Fotos gesehen, doch alle Ägypter und diejenigen, die den Fall Khaled Saeed verfolgten, haben ein Bild im Kopf: Das des jungen Mannes, der einem recht selbstbewusst direkt in die Augen zu sehen scheint. Es ist auf keinen Fall das Bild, dass man von einem verwirrten Drogensüchtigen hat, so wie ihn Mubaraks Machtapparat darstellen wollte.

Khaleds Schwester übernahm den Preis für ihren verstorbenen Bruder. Dr. Joachim Gauck hielt die Laudatio auf den jungen Mann, der zum Symbol des ägyptischen Widerstandes wurde. Das Bild, dass bis heute in Form von Hunderten von Graffitis in ganz Ägypten die Menschen mahnt, wurde von dem Künstler  Andreas von Chrzanowski ("Case") auf ein Stück der Berliner Mauer verewigt. Im Rahmen des 50. Jahrestages des Mauerbaus erinnert ein Mauerkunst-Skulpturenpark (Freedom Park, realisiert durch den Künstler Don "Stone" Karl und The Dudes Factory) mit original Berliner Mauer-Elementen an dieses Ereignis.

Die beteiligten Künstler sind im Oktober dieses Jahres im Rahmen eines Projekts des Goethe-Instituts in Alexandria und werden dort ebenfalls ein überlebensgroßes Portrait fertigen.

Ebenfalls erhielt den Menschenrechtspreis 2011 der tunesische Aktivist Slim Amamou (geb. 1977), der in den letzten Tagen der Herrschaft Ben Alis im Gefängnis saß und in der Übergangsregierung das Amt des Ministers für Sport und Jugend ausübte. Schließlich jedoch legte er sein Amt nieder. Er wollte in einer anderen Form am Aufbau eines demokratischen Tunesiens beteiligt sein.

Mit der Ehrung gleich zweier Menschen aus dem arabischen Raum wird vielleicht auch die breite Öffentlichkeit anerkennen, dass die Rebellionen in der arabischen Welt unsere Sichtweisen über die dortigen Gesellschaften verändert haben. Dies wird hoffentlich auch Auswirkungen auf die Diskussionen um den Islam und die arabische Welt in Deutschland haben. Die Anerkennung der Tatkraft, des Idealismus, aber auch des Leides der beiden Männer aus Ägypten und Tunesien gibt Anlass zur Hoffnung.

18.09.2011

Postrevolutionäres Ägypten: Demokratie ohne Demokraten?


Am Beispiel der Proteste gegen die Haft Sheikh Umars
lässt sich demonstrieren wie die Muslimbruderschaft
Demokratie definiert: Sie ist gut, solange sie uns dient.
Von Daniel Roters, Kairo

Es ist besser, aber nicht optimal. Es schwebt etwas in der Luft, nicht schwarz, nicht weiß. Es wird vermittelt: Alles wie immer, läuft doch! Letzten Freitag auf dem Tahrir-Platz herrschte eine friedliche Volksfeststimmung. Popcorn und Cola: "Revolution-Gucken" als Wochenendausflug. Die Revolution ist beendet in den Köpfen der Menschen. Sie scheinen nicht zu ahnen, dass sie um das, was sie schon erreicht haben betrogen wurden.

Gleichzeitig muss die europäische Berichterstattung getadelt werden, die zu gerne von massiver Kriminalität und religiöser Gewalt nach dem Sturz Mubaraks berichtet. Meist werden die europäischen Medien durch soziale Netzwerke dazu verführt veröffentlichte Meldungen unbestätigt zu übernehmen, frei nach dem Motto: Gewalt und Kriminalität in Ägypten? Das muss doch etwas mit Religion zu tun haben! Selbst die Zusammenstöße zwischen Fußballfans bei der letzten Begegnung zwischen den Clubs al-Ahly und Zamalek am Wochenende deuteten ausländische Beobachter als Zeichen religiöser Spannungen zwischen Kopten und Muslimen. Rufe nach Stabilität und Sicherheit werden laut. In Ägypten bedeutet das für viele Menschen aber den Verlust der Freiheit.

Im Frühjahr waren die Ägypter voller Euphorie. Nach dem Sturz Mubaraks schien ein Ruck durch das Land zu gehen. Freiheit und Demokratie war in aller Munde und auf dem Tahrir-Platz wurde beides im kleinen Maßstab gelebt. Gerade die Jugend schien bereit, mehr Verantwortung zu tragen, um das Land in eine bessere Zukunft zu führen. Dass sich dies schwieriger gestalten lässt als erwartet, verdeutlichte eine durch die Konrad Adenauer-Stiftung unterstützte Konferenz, auf der am  18. und 19. September 2011 ein neues politisches System für Ägypten nach den Wahlen diskutiert wurde.

Die 30-jährige Herrschaft Mubaraks hat das Land tief getroffen. Viele Ägypter fühlen sich fremd in der eigenen Gesellschaft, die sich in Tradition und Paranoia flüchtet. Das größte Problem: Wie eine Demokratie aufbauen ohne Demokraten? Das ägyptische Bildungssystem hatte  im Sinne von politischer Bildung nie eine Rolle gespielt. Im Gegenteil: Alles war darauf ausgerichtet, Studenten und Schüler möglichst beschäftigt zu halten, zu ermüden, damit sie nicht auf die Idee kamen, schöngeistig über Frieden und Freiheit zu schwadronieren. Die Universitäten und Schulen im Mubarak-Land waren Hamsterräder, Wartepositionen vor der Arbeitslosigkeit, Beschäftigungstherapie und gelegentlich auch ein Luxusgeschäft im Falle der Privatschulen und -universitäten. Diejenigen, die Programme zur politischen Bildung fordern meinen es gut, doch fehlt der Masse der Menschen einfach die Zeit. Grundbedürfnisse müssen erfüllt werden: Freiheit macht nicht satt.

Die Frage lautet also: Welche Rolle wird die Demokratie in Ägypten spielen? Findet Sie nur anlässlisch angekündigter Wahlen statt oder wird sie eine dauerhaften Platz im Leben der Ägypter haben?
Das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit wird deutlich, wenn vor der US-Botschaft in Kairo, unweit vom Shepheard Hotel, Muslimbruder für die Freilassung des in den USA zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilten Umar Abd ar-Rahman demonstrieren. Abd ar-Rahman ist Führer der islamistischen und als terroristisch eingestuften Organisation al-Gama'a al-Islamiyya, außerdem ein erklärter Gegner des ägyptischen Säkularismus. 

Schon der Weg zur Konferenz machte also deutlich, dass viele Menschen ein demokratisches System wünschen, doch einige wenige zu wenig über demokratische Werte nachdenken.
Muslimbrüder beschimpfen vor der US-Botschaft US-Präsident Obama als Demokratiefeind. Es sei menschenunwürdig, dass Umar Abd ar-Rahman nun sein Leben lang im Gefängnis sitzen müsse, seine Meinungs- und Religionsfreiheit würde beschnitten. Natürlich treten die Muslimbrüder auch während der Konferenz für „Demokratie light“ ein. Demokratie ist momentan IN, autokrate Regime ziemlich OUT…  Dennoch verziehen die Muslimbrüder (und –schwestern) missmutig die Gesichter, wenn es um die Rechte von Frauen und Homosexuellen geht. Ihnen werden direkte Fragen  bezüglich des geforderten Minderheitenschutzes gestellt, doch sie sprechen von „Detailfragen“, die jetzt nicht zu klären seien. Eine Vertreterin der Muslimbruderschaft preiste den Islam als Lösung aller jetzigen Diskussionen um einen säkularen Staat: Der Islam habe den ersten zivilen Staat in der Geschichte begründet. 

Nun geht es aber nicht um die islamische Urgemeinde, sondern um das moderne Ägypten, um eine Nation, die wiederholt in einer Findungsphase steckt. Ägyptens Geographie und die Geschichte des Landes haben eine Art Nationalismus geprägt, bevor es überhaupt Nationen gab. Die Menschen, die hier lebten waren Ägypter und Ägypten war ihre Heimat. Und dies war dann auch der Tenor der meisten Beteiligten. Die prominente Anwältin und Menschenrechtsexpertin Dr. Mona Zulfikar hielt als Vorsitzende des Panels über „Rechte und Freiheiten in der neuen Verfassung“ ein überzeugendes Plädoyer für eine neue Verfassung, in der sich jeder Ägypter widerspiegeln können sollte, Muslime wie Christen, Liberale wie Islamisch-Konservative. Zumindest in dieser Zeit, in der man nach einer neuen Ordnung für Ägypten suche, sollten politische Lager keine Rolle spielen. Sie appellierte an einen staatsbürgerlichen Geist, den Sie während der revolutionären Unruhen im Frühjahr gesehen habe.

Eine neue Verfassung sei die konsequente Umsetzung der Forderungen der Revolution bedeuten, denn sie sei das Mittel, um dem Volk die Herrschaft über das Land zu verleihen. So soll ein Parlament eine größere Rolle spielen. Außerdem wurde die Ansicht vertreten, dass die Zeit des starken Präsidenten vorbei sei. Ägypten brauche einen repräsentativen Präsidenten und einen starken Premierminister.
Doch ich sah den Zuhörern an, dass sie nicht wirklich an einen Wandel glaubten. Wortmeldungen gaben zu bedenken, dass in Ägypten momentan kein Gesetz herrsche, lediglich der Anspruch einer wie auch immer gearteten Ordnung auf Kosten der Freiheit. Viele gehen davon aus, dass selbst nach nun angekündigten Wahlen im November diesen bzw. Januar nächsten Jahres diese Situation der Unsicherheit über Jahre hinweg anhalten könne. 

Schließlich fasste der Journalist und Politikwissenschaftler Ammar Ali Hassan treffend zusammen: „Wir benötigen eine Kultur der Demokratie, denn wie kann es Demokratie geben ohne Demokraten? Der Geist ist willig, das Fleisch aber schwach…“

25.08.2011

Carlos Latuff: Zeichnen für die Freiheit der Anderen

Carlos Latuff
Über die Macht der Bild- und Wortkunst und den Brasilianer Carlos Latuff, der sich in die Herzen vieler Ägypter gezeichnet hat.

Von Kristin Jankowski und Daniel Roters

"Wer einmal das Wasser des Nils getrunken hat, muss den Nil wiedersehen", sagt man in Ägypten gerne. Bereits vor der Revolution haben viele ägyptische Aktivisten Solidarität von Ausländern erfahren, noch bevor die Zensur, noch bevor die Staatsmacht überhaupt ahnte, dass jemals eine Demokratiebewegung in Ägypten die Massen für sich einnehmen konnte.

Bereits im Vorfeld des Volksaufstandes tauchten an wenigen Stellen in Kairo hier und dort Plakate, Karrikaturen und Grafitis auf, die abseits der Medienzensur den Wunsch nach Partizipation nach 30 Jahren der Mubarak-Herrschaft ausdrückten.
Eine Zeichnung in einer Ausgabe von 1878,
die einen Europäer gedemütigten Felachen zeigt.

Was würde der wohl erste arabischsprachige Cartoonist und Karikaturist James Sanua (1839-1912) zu seinen geistigen Nachfahren sagen, die auf seinen Spuren wandeln? In jedem Fall gingen die Aktivisten in Kairo und anderen Städten Ägyptens neue Wege und nutzten moderne Kommunikationstechnologie, um dem Protest gegen das ägyptische Regime durch Texte und Bilder Ausdruck zu verleihen.

James Sanuas Zeitschrift Abu Naddara (Der Mann mit der Brille) erschien ab 1877 und kommentierte auf satirische Art und Weise das politische Tagesgeschehen in Ägypten. Khedive Ismail war nicht amüsiert über die in Satire verpackte Kritik an seiner Finanzpolitik, die Ägypten mehr und mehr in die Arme der Europäer trieb. Schließlich ließ Ismail die Zeitschrift verbieten und Sanua musste ins Exil nach Paris gehen. Dort führte er seine Zeitschrift nun zweisprachig fort. In französischer und arabischer Stimmung machte er satirisch Stimmung gegen die Engländer, die Ägypten zu einer Kolonie der informellen Herrschaft degradiert hatten.

Nach der Revolution ist vor der Revolution. Der General kann
nicht schlafen, weil das Volk "Demokratie!" ruft.
Während der ägyptischen Revolution hat der Brasilianer Carlos Latuff mit seinen Cartoons Berühmtheit in Ägypten erlangt und wird von vielen Ägyptern als Held gefeiert.Viele Gruppen im Facebook sind Carlos Latuff gewidmet, viele Nutzer drücken ihre Dankbarkeit ihm gegenüber aus. Einige der treuesten ägyptischen Fans fordern gar die ägyptische Staatsbürgerschaft für den Mann aus Brasilien, der mit dem Bleistift bewaffnet seinen ägyptischen Freunden zur Seite steht.


Kristin Jankowski sprach mit dem brazilianischen Cartoonisten Carlos Latuff, der mit seinen politischen Cartoons während des ägyptischen Volksaufstandes für Aufmerksamkeit sorgte.


Vor ein paar Tagen bin ich am Tahrir-Platz vorbeigegangen und habe dort einen Demonstranten gesehen, der mit einem breiten Lächeln einen deiner Cartoons in den Händen hielt. Deine Kunst wurde Teil der Aufstände. Denkst du, dass Kunst Menschen befreien kann?


Carlos Latuff: Nur die Menschen können Menschen befreien. Kunst wird ihnen als Werkzeug dienen. Ein Revolutionär kann alle möglichen verfügbaren Werkzeuge nutzen, angefangen bei einem Mobiltelefon bis hin zu einer Waffe. Kunst ist eines dieser Werkzeuge.


Du lebst zur Zeit in Rio de Janeiro in Brasilien, ziemlich weit entfernt von Ägypten. Warum ist es wichtig für dich, die jetzige politische Situation in Ägypten zu dokumentieren? Warum setzt du dich so ein?

Eine Ägypterin auf dem Weg zu einer
Demonstration. Auf dem Rücken prangt ein
Twitter-Hashtag "#July8", dem Tag der
Demonstrationen zum "Schutze der Revolution".
Carlos Latuff: Ich engagiere mich genauso für Ägypten wie auch für Palästina, wo ich 1999 war. Es geht um Internationaliät uns Solidarität mit den Menschen dieser Welt. Ägypter, Palästinenser, Brasilianer, am Ende sind wir doch alle Menschen.


Wie verändern die derzeitigen Ereignisse in Ägypten dein Leben?

Carlos Latuff: Ich neige dazu mich Bewegungen zugehörig zu fühlen, an deren Ziele ich glaube. Es wird dann sehr persönlich...


Die Ägypter fordern Demokratie und Freiheit ein. Die Armee ist immernoch and der Macht. Was denkst du sind die Erfolge der Aufstände bis jetzt?


Carlos Latuff: Ich glaube, dass die Ägypter auf den Straßen bleiben werden. Ich bin sicher, dass es nicht ihr Ziel war Mubaraks Diktatur mit einer Militärdiktatur zu ersetzen. Märtyrer starben nicht umsonst. Die Ägypter werden ringen bis eein demokratisches System herrscht.

Du hast innerhalb einer kurzen Zeit Berühmtheit in Ägyptene erlangt. Menschen teilen deine Cartoons auf Facebook und tragen sie auf Demonstrationen mit sich. Was ist deine Botschaft an die Ägypter, die mitmachen bei diesem Kampf gegen das System?

Carlos Latuff: Meine Cartoons sind meine persönliche Art und Weise meine Solidarität mit den Ägyptern auszudrücken. Es ist meine Art zu sagen: "Ich bin bei euch, mit Herz und Seele".

Du hast eine Serie von Cartoons gezeichnet, die internationale Politiker als Monster darstellen. Wer ist das Monster hier in Ägypten? Was meinst du?

Carlos Latuff: Da gibt es viele. Mubarak zu stürzen hieß nicht, dass es gelungen sei, Ägypten von Schmutz der widerlichen korrupten Charaktere zu befreien.

Einige Leute - insbesondere die Linken - sagen, dass der weltweite Widerstand gegen das globale System des Kapitalismus und der Ungerechtigkeit gerade begonnen habe. Denkst du auch so?

Carlos Latuff: Inshallah! :-)

Künstler sind meist Träumer, Menschen voller Fantasie. Manchmal ist deren Kunst eine Art und Weise die Grausamkeit der Welt zu verarbeiten. Wovon träumst du?

Carlos Latuff: Ich versuche meine Kunst nicht in den Dienst meiner eigenenTräume zu stellen, sondern in den Dienst der Träume anderer. Ich habe keine Träume mehr.

Am 23. Juli, dem Tag der Feiern zur ägyptischen
Revolution von 1952, wurden Demonstranten,
die gegen die Militärrgierung demonstrierten in
Abbasiya/Heloopolis
anegriffen.
Wann kommst du nach Ägypten?

Carlos Latuff: Nicht in der nächsten Zeit. Der ägyptischer Militärrat (SCAF) würde mich sofort am Flughafen verhaften lassen.

Das Interview mit Carlos Latuff erschien zuerst auf "Transit", dem Li-lak Blog des Goethe Instituts in Kairo und wurde hier ins Deutsche übersetzt.

21.08.2011

Libya on my mind

 von Daniel Roters

Colonel Gaddafis Tage sind gezählt, wenn wir den Libyern glauben, die zu den Waffen gegriffen haben, und seit sechs Monaten gegen Libyens Machthaber und dessen Soldaten kämpfen. Die Rebellen kämpfen nun in der Hauptstadt und die Schlinge um Gaddafis Hals schließt sich langsam. Gaddafis Sohn bekräftigte am Samstag bei einer Veranstaltung einer libyschen Jugendorganisation die Durchhalteparolen seines Vaters und schloss eine Kapitulation aus.

Giuma Bukleb
Währenddessen sind wir erleichtert, dass eine gute Freundin, Kristin Jankowski, nach mehrstündiger Haft in Kairo wieder freigelassen wurde. Am Donnerstag (18.08.2011) wurden Frau Jankowski und ihre Begleiter von Soldaten in Haft genommen. Die Umstände der Verhaftung sind zur Stunde nicht näher bekannt.

Was Libyen angeht, so lassen wir doch den libyschen Dichter und Schriftsteller Giuma Bukleb (geb. 1952) zu Wort kommen, der seit diesem Frühling in seinen "Letters from London" regelmäßig über diese aufregende Zeit spricht. Es ist sozusagen eine Dokumentation über die Gedankenwelt eines Künstlers in London, der den arabischen Frühling aus der Ferne erlebt. Diese gesprochenen Briefe sind nicht nur Ausdruck einer Hilflosigkeit, sondern vorallem ein Ausdruck des Hoffens für das Libyen, welches Bukleb 1988 verließ.

In einem dieser gesprochenen Briefe sendet er eine Botschaft in Form eines Gedichtes nach Libyen:

إرحل كي يسرح دفء شمس صبحنا في التين والزيتون وهذا البلد الذي كان يُعرف قبل أن تحتله بالأمين.
وكي نتذوق، بلا وجل، طعم الخبز والزيت
ونعيد، بأمل، ترميم ما كسرت من أحلامنا

Verschwinde
Sodass die Wärme der Morgensonne frei umher ziehen kann zwischen den Feigen- und Olivenbäumen dieses Landes, welches friedlich und sicher war, bevor du es besetzt hast
Und wir den Geschmack des Brotes und des Öls ohne Furcht genießen können
Sodass wir das, was du uns an Träumen zerstört hast wieder auferstehen lassen können.

إرحل
كي يستريح خوفُنا منك للحظة،
وعشبنا ينام، لليلة واحدة، دون كوابيس
ونخلنا يمد ظلال جريده بلا توجس،
وسماؤنا تتنفس الصعداء
وبحرنا يستفيق من غفوته فيرانا، من دونك، واقفين
على أعتاب الصباح
في انتظاره

Verschwinde
Sodass unsere Angst vor dir für einen Augenblick ruhen kann
Und unser Gras für eine Nacht ohne Albträume schlummern kann
Sodass unsere Palmen die Schatten ihrer Blätter ohne Scheu ausdehnen können
Und unsere Himmel erleichtert aufatmen
Und unser Meer von einem Schläfchen aufwacht, uns stehend sehend ohne dich
Auf der Schwelle des Morgens
In Erwartung seiner


ثكلتك الليالي
وخذ معك:
كل ما جمّعت خزائنك من دموع أمهاتنا
وما بذرتَ فينا من أحقادك
رفات اجدادك
نذالات اولادك
أوتاد خيامك
أعواد مشانقك
أبراج معتقلاتك
نُباح كلابك
حرير قفاطينك
بهرج عباءاتك
فخامة تيجانك
نوق حليبك
ذرات الهواء الملوثة بأنفاسك
تصاويرك
أشلاء بطولاتك وأوهامك
جثث المرتزقة الذين اكتريتهم بأموالنا، من كل بلاد، لقتلنا
السوس الذي ينخر في خشب خطاباتك،

Mögen die Nächte dich verdammen
Nimm mit dir:
All das, was deine Tresore gesammelt haben von unserer Mütter Tränen
All das, was in uns gesät wurde durch deine Gehässigkeit
Die sterblichen Überreste deiner Vorfahren
Die Gemeinheiten deiner Söhne
Die Pflöcke deiner Zelte
Die Säulen deiner Galgen
Die Türme deiner Gefängnisse
Das Gebell deiner Hunde
Die Seide deiner Gewänder
Das Blenden deiner Umhänge
Die Erhabenheit deiner Kronen
Die Milch deiner Kamele
Die Teilchen der Luft, die durch deine Atenzüge verschmutzt wurden
Deine Bildnisse
Die Leichen deines Heldentums und deiner Illusionen
Die Leichen der Söldner, die du von jedem Land und von unserem Geld gekauft hast, um uns zu töten
Die Termiten, die am Holz deiner Reden nagen


حتى الزغاريد، إن وجدت، التي بشّرت بميلادك
خذها وارحل
 ودعنا
Sogar die Freudentriller, welche deine Geburt ankündigte - wenn es sie denn überhaupt gab -
Nimm sie und verschwinde!
Lass uns... 

08.07.2011

Die Revolution zuerst: Vom Untertan zum Staatsbürger

 Von Daniel Roters

Seit dem Morgen des 8. Juli strömen Tausende Ägypter auf den Tahrir-Platz in Kairo. Es sind die größten Proteste seit dem Sturz Hosni Mubaraks und die Bilder ähneln denen aus dem Frühjahr. Stellte ich mir persönlich die Frage, ob es noch eine Revolution gibt, muss ich heute hier und jetzt sagen: Die Revolution lebt weiter.

Der Tahrir-Platz am Abend des 8. Juli.
Die Ägypter üben gerade Demokratie. Sie sind wachsam und jeder trägt seinen Teil dazu bei, das Land am Nil in eine bessere Zukunft zu bewegen. Es sind die alten Forderungen: Keine Militärtribunale mehr, Prozesse gegen die, die so lange vom System Mubarak profitierten, Bekämpfung der Armut, Bildung und politische Partizipation für eine seit über 30 Jahren geknechtete Gesellschaft.

Die Proteste wenden sich nun gegen die Militärregierung und gegen deren Vorsitzenden Feldmarschall Tantawi, der seit dem Sturz Mubaraks die Amtsgeschäfte des Landes führt. Es ginge nicht um die Armee selbst, sondern die Führer des Landes, die es versäumten, Gerichtsverfahren gegen Komplizen des ehemaligen Präsidenten anzustrengen und Reformen voranzubringen.

Wieder ist der Tahrir-Platz bevölkert von Ägyptern, die nicht nur demonstrieren und protestieren, sondern in Kommitees wieder eine Art Selbstverwaltung aufgebaut haben. Die Sicherheit der Demonstranten organisieren die Demonstranten selbst. Personen, die den Platz betreten werden kontrolliert. Mobile Lazarette bereiten sich auf die Versorgung Verletzter vor.

Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz hören
Ramy Essam, dem "Sänger der Revolution" zu.
Auch  auf dem Saad Zaghloul-Platz in Alexandria, in Tanta, in Ismailia, in Damietta, in Mahalla El Kobra, in Asyut, in Aswan und in anderen Städten versammeln sich Menschen auf den öffentlichen Plätzen und demonstrieren: Wir sind hier. Wir beobachten euch. In Sharm El Sheikh versammeln sich Menschen, um vor dem Krankenhaus zu protestieren, in dem Hosnii Mubarak behandelt wird. Geschätzte zwei Millionen Menschen im ganzen Land sind auf den Straßen, protestieren, diskutieren und knüpfen an die Proteste vom Frühjahr an.

In Suez strömten Menschen auf die Straßen und protestierten gegen die Freilassung von 10 Polizisten auf Kaution. Sie waren in Haft, weil sie für den Tod zahlreicher Demontranten während der Proteste im Frühjahr verantwortlich gemacht wurden.

Gingen wir davon aus, dass der Sturz Mubaraks ein historischer Moment war, so können wir nun sagen, dass der 8. Juli eine neue Marke gesetzt hat: Ägypter sehen es nun als ihre staatsbürgerliche Pflicht an, wachsam zu sein, zu protestieren, und für elementare Freiheitsrechte einzutreten.

Es geht nicht um Nahrung oder mehr Geld. Es geht um die Vorraussetzungen für eine Gesellschaft, in der staatsbürgerlich gehandelt werden kann und darf, um das Leben der Menschen zu verbessern. Es geht darum Ziele zu stecken und sie durch politische Partizipation zu erreichen. "Freiheit" und "Gerechtigkeit", das sind die Worte, die man an diesem Tage auf dem Tahrir-Platz vernimmt. Und die Demonstranten haben auch durchaus dedizierte Forderungen: Bereits gestern forderten demonstrierende Muslime und Christen die Einführung eines Gesetzes zur Einführung der Zivilehe, um sich scheiden und wieder verheiraten lassen zu können.

Proteste auch in vielen anderen Städten Ägyptens. Hier
demonstrieren die Bürger von Tanta.
Heute wie an keinem anderen Tag dieser lang andauernden Revolution symbolisiert der Tahrir-Platz die Zukunft der politischen Auseinandersetzung in Ägypten: Politische Parteien, auch die Muslimbruderschaft, Jugendkoalitionen, Gewerkschaften, Bürgervereinigungen, Angestellte der Universitäten, Christen und Muslime treten zusammen. Einen großen Sieg haben die Ägypter bereits errungen. Man hat erkannt, dass Demokratie auch bedeutet, Kompromisse einzugehen. Wollten die Muslimbrüder noch vor Tagen nicht an Protesten teilnehmen, stehen sie nun Seite an Seite mit anderen Interessengemeinschaften auf dem Tahrir-Platz.

Die ägyptische und libysche
Flagge zusammengeknüpft als
Zeichen der Solidarität.
Ein Gruß aus Kairo an die Palästinenser.
Doch die Ägypter stehen nicht für sich allein. Der Frühling 2011 hat ein neues Bewusstsein geschaffen, welches langsam aber sicher Untertanen zu Staatsbürgern werden lässt. Die Uhren können nicht mehr zurückgedreht werden. In der arabischen Welt rennt die Zeit in Richtung Verwandlung. Wir in Deutschland müssen uns damit abfinden, dass unsere Regierung schläft, während die arabische Welt erwacht. Wir schlafen nicht nur, sondern senden (un)missverständliche Signale an Menschen, die in Protesten in der ganzen arabischen Welt, um ihre Rechte kämpfen. Wird der deutsche Außenminister wieder auf dem Tahrir-Platz stehen, dann werden ihn Ägypter fragen, warum ausgerechnet Deutschland Panzer an Saudi-Arabien lieferte. Er würde wahrscheinlich nicht einmal antworten. In alter Manier schweigt die Kanzlerin und duckt sich weg.Wir in Europa resignieren, wenig solidarisch miteinander in diesen Zeiten. Solidarität wird auf dem Tahrir-Platz gelebt und manch ermunternder Gruß verlässt den Platz der Befreiung in Richtung Libyen, Bahrain, Syrien, in den Jemen und anderer Orte in der Welt, wo unbeobachtet von den Medien kleine Revolutionen große Ideale zurück in das Leben der Menschen bringen.

Nachtrag (00:45): In Suez haben Arbeiter und Demonstranten zivilien Ungehorsam angekündigt sollte die Militärregierung den Forderungen der Demonstranten nicht nachkommen.

05.07.2011

Frühling in Syrien (Folge 2)

Folge 2 einer Serie über den arabischen Frühling in Syrien. Frau Manstetten ist Studentin an unserem Institut. 
Von Paula Manstetten

Seit nunmehr über 100 Tagen ist Syrien von Unruhen erschüttert, von einer Revolte, von der derzeit wohl niemand mehr so recht glaubt, dass sie noch ein „gutes“ Ende nehmen könnte. Anlass zur Hoffnung gab, dass  am vergangenen Montag erstmals eine von der syrischen Regierung genehmigte Zusammenkunft von über hundert Oppositionellen in einem Damaszener Hotel stattfand (siehe http://english.aljazeera.net/news/middleeast/2011/06/20116283558545951.html und http://www.taz.de/1/politik/nahost/artikel/1/offene-debatte-im-hotel/). Doch einmal mehr haben dieses Treffen, die Reaktionen der Medien und die der oppositionellen Gruppierungen gezeigt, wie komplex und unübersichtlich die Lage in Syrien ist. Zeigt die Tatsache, dass dieses Treffen zustande kommen konnte, dass sich die Opposition von der Regierung instrumentalisieren lässt? Oder kommt hier der Reformwille Baschar al-Assads zum Ausdruck, der sich bereit zeigt, auf die Forderungen der Opposition einzugehen? Jedenfalls gab es Proteste seitens einiger oppositioneller Gruppierungen, die zu keinem Dialog bereit sind, solange Baschar al-Assad nicht zurücktritt. Ebenfalls Proteste gab es von Unterstützern des Assad-Regimes. Die syrische Bevölkerung ist gespalten, die Opposition ist es auch.
***
An der ath-Thawra-Straße(=“Revolutions“straße) in Damaskus –
in der Mitte zu sehen ein Propagandaplakat, unterlegt mit der syrischen Fahne:
„JA zur gemeinsamen Anstrengung und Arbeit – NEIN zum Bürgerkrieg“
Während es ab Mitte März in zahlreichen syrischen Städten kleinere und größere Demonstrationen gab, die zum Teil blutig niedergeschlagen wurden und während bereits die Armee im Einsatz war, um weitere Proteste zu unterdrücken, erlebte ich Damaskus bis zum Ende meines Aufenthalts in Syrien (Ende April) als verhältnismäßig ruhig – unwirklich ruhig, könnte man vielleicht sagen. In gewisser Weise ist die Hauptstadt bis heute erstaunlich unberührt geblieben von der Art von Unruhen, die wir in den westlichen Medien zu sehen bekommen,  diese spielen sich dort in erster Linie in den Vororten oder in einzelnen Stadtvierteln ab, deren Grenzen sie nicht überschreiten. Solange ich in Damaskus war, schien die Revolte unwirklich fern, man hätte gar nicht gewusst, dass es sie gab, hätten die Medien nicht täglich die Unruhen in die Wohnzimmer  getragen, hätte sich nicht auf einmal das Straßenbild politisch aufgeladen.

Das Propagandaministerium leistete offensichtlich exzellente Arbeit, die von eifrigen regimetreuen Bürgern in Eigenregie multipliziert wurde. Der Wind der „Krise“ war in jedem Winkel von Damaskus angekommen, wenn auch auf ganz andere Art und Weise als durch Proteste: Am auffälligsten in Form von syrischen Flaggen und Portraits des Präsidenten in den Straßen, an Kreisverkehren, Bushaltestellen, in Geschäften, aufgeklebt auf Autos und Busse. Ein Großteil der normalen Werbeflächen, die sonst für Duschgels, Kaugummis und Ugarit-Cola warben, wurde nun genutzt, verschiedenste Propagandaplakate zu zeigen. Aus Musikgeschäften und Autos dröhnten nationalistische Lieder, in denen es immerzu um das geliebte Syrien und den geliebten Präsidenten ging, und im vormals als eher langweilig verschrienen Staatsfernsehen, das nun neuerdings anstelle des Senders al-Jazeera in vielen Haushalten, Geschäften, Imbissstuben oder beim Friseur lief, konnte man ebenfalls ständig Musik zur Stärkung des Nationalgefühls hören. Diese Propaganda sickerte mehr und mehr in den Alltag ein, es war unmöglich, ihr nicht ständig zu begegnen. 

„Wir sind alle mit dir“
Die Unruhen: „Eine Verschwörung aus dem Ausland“
Gleich nach meiner Heimkehr aus Latakia erlebte ich im Linienbus nach Damaskus die ersten Früchte der laufenden Propagandamaschinerie. Der Busfahrer hatte das Radio eingeschaltet, berichtet wurde von ausländischen Gruppierungen, die sich ins Land eingeschlichen hätten, um einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Das Radio sendete dann ein „Verhör“ mit einem dieser Verbrecher, doch klang es eher wie ein Interview, ein nettes Geplänkel, wenn man nur auf den Klang der Stimmen und die Sprache achtete. Inhaltlich hatte es das Gespräch in sich. Der Betreffende „gestand“, er sei aus Ägypten, sei dort an der Revolution beteiligt gewesen und nun nach Syrien gekommen, um das Land zu destabilisieren. Er habe außerdem die amerikanische Staatsbürgerschaft. Ob er schon einmal in Israel gewesen sei? „Ja, so etwa drei Mal…“. Er verkörperte insofern fast alle syrischen Feindbilder in einem – es hätte nur noch gefehlt, dass er sich als radikaler Muslimbruder ausgegeben hätte.

Obwohl Präsident Baschar al-Assad mittlerweile immer wieder erwähnt, es gebe ja durchaus Forderungen nach Reformen, die eine gewisse Legitimität hätten, werden Regierung und syrische Staatsmedien bis zum heutigen Tag nicht müde, alle Unruhen auf eine hinterhältige Verschwörung zu schieben. Die zahllosen Todesfälle, die auch die syrischen Medien nicht allesamt totschweigen können, werden zum Ergebnis der Brutalität bewaffneter Gruppen erklärt, die angeblich wahllos auf Passanten schießen und Sicherheitskräfte und Soldaten töten. Von den Protesten in vielen Städten und deren blutiger Niederschlagung berichten die Staatsmedien freilich nicht, wohl aber al-Jazeera, al- ‘Arabiyya, BBC etc., alles Sender, die man in Syrien empfangen kann und die, bevor der Arabische Frühling Syrien erreicht hatte, weit häufiger eingeschaltet wurden als die Staatsmedien.

Ich selbst amüsierte mich anfangs noch über den schier unerschöpflichen Erfindungsreichtum der Presse. Ich dachte, diese Verschwörungstheorie hätte lachhaft erscheinen müssen, weil mir der Zusammenhang zwischen der tunesischen und ägyptischen Revolutionen und dem syrischen Aufbegehren gegen die Diktatur offensichtlich erschien; weil staatliche Medien dafür bekannt sind, Propaganda zu verbreiten. Doch verging mir das Lachen bald, als ich feststellte, dass ein Großteil meiner Bekannten und Freunde genau an diese Verschwörung glaubte und mir immer wieder erklärte, man müsse nun als Nation zusammenhalten. Sie hatten dementsprechend ein ganz anderes Bild von den Geschehnissen, als wir es im Westen vermittelt bekamen. Dass Menschen, die dem Regime ohnehin kritisch gegenüber stehen, den syrischen Medien kein Wort glauben, versteht sich von selbst. Aber all die, die aus welchen Gründen auch immer auf Seiten der Regierung stehen oder neutral und unpolitisch sind, sind leicht von dieser Propaganda beeinflussbar.

Ich musste die ganze Anti-Oppositions-Propaganda nicht nur durch die Nachrichten, sondern auch aus dem Mund meiner Freunde hören – man kann sich vielleicht vorstellen, wie belastend das für mich war, hatte ich doch anfangs mit vielleicht etwas blinder Hoffnung auf die Proteste geblickt, die mit unglaublichem Mut und Zähigkeit mehr Freiheit forderten. Die Süddeutsche Zeitung schrieb einmal, die Verschwörungstheorie mit all ihren Auswüchsen würden „nur die Allerdümmsten“ glauben, auf ARTE hieß es, „das ganze syrische Volk“ lehne sich nun gegen Assad auf. Ich wünschte, es wäre so einfach, denn dann wäre die Krise in Syrien vielleicht bereits gelöst.

Wer sollten eigentlich diese Verschwörer sein? Die an sich leere Aussage „bewaffnete ausländische Gruppen“ wurde vielleicht absichtlich unbesetzt gelassen bzw. mit ganz unterschiedlichen Inhalten gefüllt, Medienpropaganda mischte sich mit Gerüchten und Halbwahrheiten. Am Werk sah man u.a. Israel, die USA (bzw. den „Westen“), den Libanon, Saudi-Arabien, Muslimbrüder und Kurden.

Israel eignet sich in Syrien natürlich bestens als Feindbild, ebenso die USA. Da passte es wunderbar, als sich herausstellte, dass die USA wohl schon seit 2006 die syrische Opposition finanziell unterstützten, wie Mitte April durch WikiLeaks öffentlich wurde (http://www.washingtonpost.com/world/us-secretly-backed-syrian-opposition-groups-cables-released-by-wikileaks-show/2011/04/14/AF1p9hwD_story.html). Diese Unterstützung wurde (irgendwie natürlich auch zu recht) als direkter Angriff auf das Regime Assads gewertet. Als Barack Obama nach dem sog. „Karfreitagsmassaker“ die Gewalt in Syrien aufs Schärfste verurteilte, sandte das syrische Fernsehen in Dauerschleife, eine offizielle Quelle habe verlauten lassen, Obamas Aussage beruhe nicht auf einer objektiven Einschätzung der Lage. Überlegungen zu Sanktionen und zur Möglichkeit eines direkten Eingreifens in Syrien waren dann Wasser auf die Mühlen der syrischen Staatsmedien, die hierin die Bestätigung für ihre These sahen, dass die USA, ja der gesamte Westen es sich zum Ziel gesetzt habe, Assad zu stürzen.

Über die Anfänge  der Unruhen in Der’a kursierte u.a. folgendes Gerücht: ein dort ansässiger Stammesverband,  der sich enger mit seinen Stammesgenossen in Saudi-Arabien verbunden fühle als mit dem Staat Syrien, sei von Saudi-Arabien aus finanziell unterstützt worden, um Unruhen in Syrien zu schüren. Syrien pflegt traditionell enge Kontakte zum schiitischen Iran und zur schiitischen Organisation Hisbollah im Libanon – was dem sunnitisch geprägten Saudi-Arabien zweifelsohne mehr als nur ein Dorn im Auge ist, diese Tatsache machte die Geschichte in den Augen vieler plausibel.

Auch den Muslimbrüdern, die in Syrien seit Jahrzehnten aufs Schärfste verfolgt werden, schob man die Schuld an den Unruhen in die Schuhe. Diese Unterstellung spielt mit den Ängsten vor der Erstarkung radikal-islamischer Kräfte, die in einem multireligiösen Land wie Syrien natürlich besonders groß sind. Man muss allerdings sagen, dass sich Muslimbrüder bzw. tendenziell mit den Muslimbrüdern sympathisierende Syrer tatsächlich vergleichsweise stark an den Protesten zu beteiligen scheinen. Das legen verschiedene Videos, Flugblätter und gelegentliche Jihad-Aufrufe nahe. Früh wurde auch bekannt, dass der Administrator einer der Facebook-Gruppen der Opposition ein Muslimbruder ist, der sich in Schweden befindet. Was auch immer das konkret bedeuten mag – solche Details sind es leider, die das Bild der Opposition unter den bisher unbeteiligten Syrer mitprägen.


Tishreen-Zeitung von 14.4., Titelblatt:
„…terroristische Geständnisse: „Wir wurden von
ausländischer Seite mit Geld und Waffen ausgestattet,
um Sabotageakte in Syrien durchzuführen.“
Um die Verschwörungstheorie zu untermauern und gleichzeitig das aktive Vorgehen der Regierung gegen diese Bedrohung unter Beweis zu stellen, publizierten Zeitungen und Fernsehen immer wieder Bilder von gefassten „Terroristen“, deren Waffen- und Geldlagern. Auf dieser Schiene konnten dann auch die zahlreichen Festnahmen von Protestierenden insbesondere in den letzten zwei Monaten erklärt werden – es handele sich schließlich um mutmaßliche Terroristen. Auch aus Der’a hieß es offiziell, die Armee habe dort Jagd auf
Terroristen gemacht.

Nun ist es tatsächlich so, dass im Laufe der Proteste auch immer wieder Angehörige des Geheimdienstes, Soldaten und Offiziere zu Tode gekommen sind. Die große Frage ist nur, wie. Wie die Opposition, die jeden ihrer Toten als „Märtyrer“ bezeichnet, nannte die Presse diese Offiziere ebenfalls „Märtyrer“: gestorben im Kampf für das Vaterland. Sie wurden feierlich beigesetzt, Bilder der Begräbnisse füllten ganze Titelseiten der Zeitungen.

“The family of the martyrs expressed pride of their sons
who sacrificed their lives for the sake of defending the
Homeland's unity and stability. The martyrs' fellow colleagues
stressed their determination to confront the terrorist groups
which attempt at sabotaging the country in order to restore
security and calm and proceed with the reform process.”

 (so auf der Seite der Syrian Arab News Agency SANA)
Kurzmeldungen über Märtyrer aus der Armee kehrten im Radio in Dauerschleifen wieder. Als Täter beschuldigt wurden neben den üblichen bewaffneten Gruppierungen auch gewalttätige Demonstranten. Die Opposition hat derweil ein ganz andere Erklärung parat, die, sollte sie stimmen, wirklich schockierend ist: Diese Soldaten hätten sich geweigert, auf Demonstranten zu schießen, und seien daher exekutiert worden. Mittlerweile geht man davon aus, dass es tiefe Zerwürfnisse innerhalb der Armee gibt, ganze Einheiten dazu bereit sind, zu desertieren, wenn sich die Möglichkeit bieten sollte.
Wir wissen aber weiterhin nichts genaues; dass vereinzelte oppositionelle Gruppierungen sich bewaffnet haben und gegen die hart durchgreifende Armee kämpfen, scheint auch nicht ausgeschlossen zu sein, obwohl das wohl eher die Ausnahme ist. Das Problem ist wirklich, dass Syrien keine ausländischen Medien in die Orte lässt, in die die Armee einmarschiert ist, um „Jagd auf Terroristen“ zu machen.  Eine unabhängige Berichterstattung ist völlig unmöglich – damit müsste die Regierung natürlich eigentlich all ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Aber sie hat auch hier eine medienwirksame Strategie gefunden: Die ausländischen Medien seien von den Verschwörern instrumentalisiert, um das Chaos im Land zu vergrößern, berichten die Staatsmedien.

Im Krieg mit al-Jazeera

Propagandaplakate gegen
Al Jazeera
Wie schon zuvor in anderen arabischen Ländern, schlug sich der arabische Nachrichtensender Al-Jazeera auf die Seite der Protestierenden. Insofern war seine Berichterstattung natürlich auch nicht mehr frei und „objektiv“, sondern hatte das Ziel vor Augen, auch in diesem Land den Sturz des Regimes voranzutreiben. Pro-Assad-Demonstrationen fanden dementsprechend kaum Beachtung oder wurden als „vom Regime erzwungen“ abqualifiziert, während aus all dem Videomaterial der Opposition oft nur die drastischsten und schockierendsten Szenen ausgesucht wurden. Al-Jazeera verleiht der Opposition eine laute Stimme, das ist sicherlich zu begrüßen.  Die Frage ist nur, ob es mit dieser Strategie gelingen kann, mehr und mehr Menschen aus der syrischen Bevölkerung gegen die Regierung zu mobilisieren. Denn die Staatspresse begann bereits sehr früh mit einer regelrechten Hetzkampagne gegen al-Jazeera, die nicht wirkungslos blieb.
Neben diesen Plakaten, die gegen den Sender verbreitet wurden, wurden immer wieder Demonstrationen vor al-Jazeera-Büros organisiert. Das syrische Fernsehen war fleißig damit beschäftigt, einzelne Berichte von al-Jazeera auseinander zu nehmen und als Lügen zu „entlarven“. Es wurde dann gezeigt, wie der Sender mit Hilfe von Fotoshop Bilder und Videos fälsche, alte Videos oder Videos aus anderen Ländern als Dokumente für die Ereignisse in Syrien verwende, Fake-Interviews sende (alles Methoden, mit denen wahrscheinlich gerade die Staatsmedien schon viel Erfahrung gesammelt haben!). Von hier war es nur ein kleiner Schritt dahin, zu behaupten, al-Jazeera sei mitverantwortlich für das Chaos im Land, sei Mittäter der Verschwörung. Es kann der syrischen Opposition nur schaden, wenn dann gelegentlich herauskommt, dass einige in Umlauf gebrachte Foltervideos tatsächlich aus dem Irak stammten oder dass die engagierte Bloggerin „A gay girl in Damascus“ tatsächlich ein 40jähriger Amerikaner war, der unter einem Pseudonym schrieb (http://www.washingtonpost.com/lifestyle/style/a-gay-girl-in-damascus-comes-clean/2011/06/12/AGkyH0RH_story.html).

(Selbst-)Darstellung  Baschar al-Assads in den Medien

Eine Gruppe auf Facebook:
„Die syrische Revolution
mit Baschar al-Assad“.
Derartige Gruppierungen schreiben sich
Assads vorgeblichen Reformwillen
auf die Fahnen und sehen hierin
die „richtige“ Revolution.
Das Bild von Assad, wie es die Staatsmedien darstellen, unterscheidet sich natürlich erheblich vom Bild des „Schlächters“, der „auf Demonstranten schießen lässt“ und der „seine Bluthunde auf die Opposition loslässt“, wie es in den westlichen Medien präsent ist. In den syrischen Medien zeigt sich Assad als jemand, der stark und entschlossen gegen die Verschwörung kämpft und der „sein Volk“ bittet, ihm den Rücken zu stärken. Gleichzeitig betont er seinen Willen zu Reformen und seine Bereitschaft, gegen Korruption und Arbeitslosigkeit aktiv zu werden.


Wenn die westlichen Medien berichten, Assad lasse seine Gegner brutal niederschießen, hört man im syrischen Fernsehen, dass der Präsident selbst immer wieder ein Ende des Blutvergießens gefordert habe und erklärt habe, er verbiete den Sicherheitskräften unter allen Umständen, auf friedliche Demonstranten zu schießen. Die Armee sei dagegen eingesetzt worden, um die Bevölkerung vor den terroristischen bewaffneten Gruppierungen zu schützen.
Am 30. März hielt Assad seine erste Rede seit Beginn der Unruhen. Sie wurde live übertragen und ich sah sie zusammen mit zwei syrischen Freunden. Es  ist lohnend, sich diese Rede einmal in Ausschnitten anzusehen. (Auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=LUkrS5d23JE&feature=fvst – Die komplette Rede in englischer Übersetzung ist hier nachzulesen: http://www.sana.sy/eng/21/2011/03/30/pr-339334.htm).  Gleich zu Anfang stellte sich das Gefühl eines seltsamen Kontrasts zwischen Assad und seinen Zuhörern ein. Von den anwesenden Abgeordneten standen immer wieder einzelne auf und unterbrachen ihn in seiner Rede, um in übertriebenem Pathos Lobeshymnen auf ihn und nationalistische Gedichte vorzutragen. Im Vergleich zu diesen Abgeordneten wirkte Assad verständig und bedacht, gespielt locker. Er machte Witze, lachte selbst am lautesten über sie, dann gab er „freimütig“ zu, sich mit den Reformen – an denen man ja seit Jahren arbeite – „etwas“ verspätet zu haben. Man kann es leider nicht anders sagen: Wenn man ihn so sieht, ist es schwer, sich ihn als blutrünstigen Schlächter vorzustellen (was nicht heißt, dass er nicht trotzdem einer sein könnte).

Vielmehr habe ich zunehmend den Eindruck, dass er doch weit weniger Macht hat, als man annimmt, die Fäden also – möglicherweise mit seinem Einverständnis – hinter seinem Rücken gezogen werden. Die Familienstrukturen und die Machtverteilung im  Assad-Clan dürften recht kompliziert sein. Die Tatsache, dass Assad vielleicht ein Schwächling ist, spricht ihn aber von keiner Verantwortung frei – er ist und bleibt das Sinnbild dieser Diktatur. Am Abend nach der Fernsehansprache war auf al-Jazeera und in den meisten westlichen Medien zu lesen, das syrische Volk sei enttäuscht von dieser Rede, da Assad nur wage Versprechungen gemacht habe und zudem angekündigt habe, hart gegen jegliche Opposition durchzugreifen. (Die Reaktionen der Medien auf seine zweite und kürzlich auf seine dritte Rede waren übrigens in etwa dieselben). Mein Eindruck war ein ganz anderer. Meine Freunde waren zufrieden mit Assads Rede, beruhigt und optimistisch, dass die Unruhen nun bald vorüber sein würden.

In meinem Bekanntenkreis blieb das Bild von Assad auch weiterhin durchweg positiv. Schließlich erfüllte er augenscheinlich einige Forderungen der Opposition, indem er die Notstandsgesetzgebung aufhob und ein Gesetz verabschiedete, das Demonstrationen erlaubt. Dazu muss ich auch sagen, dass Syrer mir mehrfach sagten, sie hätten nie zuvor von diesem Ausnahmezustand gehört. Er betraf nur diejenigen, die sich politisch engagierten, unpolitische Menschen bekamen von ihm nichts zu spüren. „Sie haben den Ausnahmezustand aufgehoben, aber genau jetzt erleben wir doch einen Ausnahmezustand“, sagten manche.

***

Die Tatsache, dass Teile der syrischen Krise sich auch auf der Ebene der Medien abspielen, ist meiner Meinung nach zentral, will man auch nur annähernd verstehen (oder eher erahnen), was sich derzeit in Syrien abspielt. Und zwar „abspielt“ nicht im Sinne harter Fakten, sondern bezogen auf das Lebensgefühl der „normalen“, nicht unbedingt direkt betroffenen Menschen, ihre Ängste, ihre Einstellung zur Regierung und zur Opposition. Entscheidend für die weitere Entwicklung in Syrien wird neben dem Durchhaltevermögen der Opposition und der Positionierung der syrischen Armee eben auch die Tendenz der öffentlichen Meinung sein. Diese wird neben eigenen Erfahrungen vor allem durch die Medien geprägt, und da die „Wahrheit“ über die aktuellen Geschehnisse nicht greifbar ist, sind es die Konstruktionen der Wirklichkeit durch die Medien (und natürlich auch durch Gerüchte und Mund-zu-Mund-Propaganda), die die Stimmung in der Bevölkerung beeinflussen. Bevor wir nun, in unserer Ach-so-Aufgeklärtheit, all die Syrer auslachen, die der Version der von der Regierung gesteuerten Staatsmedien glauben, denen wir ja nachsagen würden, dass sie grundsätzlich lügen, sollten wir uns vielleicht fragen, wie oft wir selbst die Nachrichten, die wir hören, hinterfragen. Ich kann nur jedem raten, einmal die Website der syrischen Nachrichtenagentur zu besuchen (http://www.sana.sy/index_eng.html  ) und die Wirkung dieser suggestiven Berichterstattung am eigenen Leib auszutesten.

30.06.2011

Ägypten: Lang lebe die Revolution?

Über die neu entflammten Proteste in Kairo, ihre Hintergründe und ein Schlag von Ereignissen und Absurditäten.

Von Daniel Roters

Menna Gad ist 22 Jahre alt und in Kairo für den DAAD tätig. Am 28. Juni will sie nach Hause gehen. Sie weiß nicht, dass Sie wahrscheinlich Zeugin des Anfangs neuer blutiger Proteste ist. Genau fünf Monate nach den schweren Straßenkämpfen vom Januar geht Sie vom Stadtteil Agouza in Richtung ihres Hauses. Gegen 19 Uhr beobachtet sie am Al-Balloon Theater circa 200 Menschen. Es ist Geschrei zu hören. Die Situation scheint angespannt.

Viele Beobachter sind sich einig: Diese von Menna beobachtete Szene war der Anfang der blutigsten Auseinandersetzungen seit dem Sturz Hosni Mubaraks. In Agouza hatten sich zuvor Familien vieler Todesopfer der Revolution getroffen, um der Toten zu gedenken. Man trauerte auch um das jüngste Opfer: Mahmoud Khaled (24) war am 28. Januar - dem Tag des Zorns - wie viele andere Ägypter auf der Straße, um für ein besseres Ägypten zu demonstrieren. Die Staatsmacht griff ein und hunderte Menschen verloren ihr Leben, tausende wurden verletzt. Sicherheitskräfte schossen dem jungen Mann in den Kopf. Eine Staatskarosse überollte ihn und Polizisten zertrümmerten ihm die Beine, bevor man ihn in Sicherheit bringen konnte. Schließlich lag er mehrere Monate im Koma und starb am 27. Juni an den Folgen der Schussverletzung. Es wurden Stimmen der Angehörigen und Freunde eingefangen, die vor dem Kasr Al-Aini Hospital Mubarak und den den Ex-Innenminister Habib Al-Adly für den Tod des jungen Mannes verantwortlich machen.

Glaubt man vielen übereinstimmenden Berichten, dann wurde der Trauerzug am Abend des 28. Juni von Schlägern angegriffen. Die Polizei soll eingegriffen und ausgerechnet Angehörige des Trauerzuges festgenommen haben. Schnell verbreitete sich der Vorfall, auch über die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter. Wie die Situation vor Ort wirklich aussah, ist unklar. Jedenfalls wird unverhältnismäßig oft davon gesprochen, dass es so gewesen sein muss, wie oben beschrieben. Ein Bericht wird aber nicht wahrer, je öfter man ihn druckt. Ob die Polizei mit gutem Grund eingriff, Demonstranten grundlos festgenommen wurden oder Schläger die Gewalt schürten und die Polizei zum Eingreifen zwang ist definitiv nicht so eindeutig, wie es in den Medien dargestellt wird.

Es sind die alten geblieben. Ein aktuelles Bild, dass sich
durchaus auch auf den Januar datieren leiße.
Hunderte Menschen folgten den Aufrufen, in Richtung Tahrir-Platz zu marschieren. Die Polizei wollte die Demonstranten daran hindern, den Platz zu besetzen und setzte Tränengas und Gummigeschosse ein, um die Menge auseinander zu treiben. Das ägyptische Gesundheitsministerium gab bekannt, dass bis zur Stunde über 1000 Menschen bei den erneuten Protesten verletzt worden sind. Die Szenen erinnern an die Tage des Frühlings, die Zeit der schweren Kämpfe und der vielen Opfer. Für viele Ägypter ist es erschreckend, dass die Polizei mit den gleichen Methoden vorgeht: Auseinandertreiben, demoralisieren, Einzelne als Exempel misshandeln. Wieder bitten die Demonstranten um Lebensmittel, medinzinisches Material und Ärzte. Auf die Armee hoffen indes viele Ägypter nicht mehr. Auch Menna sagt, es sei naiv gewesen zu glauben, dass die Armee und das Volk eine Hand sind, die sich um das Land sorgt und kümmert und es erneuern will.

Gleichzeitig hat der Oberste Militärrat eine Stellungnahme auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht. Die Vorfälle, so der Militärrat, seien ein neuer Beweis für das Ziel, Ägyptens Sicherheit und Stabilität zu erschüttern. Die Drahtzieher versuchten das Blut der Märtyrer der Revolution zu verwenden, um Gräben zwischen dem Volk und dem Sicherheitsapparat zu schaffen.

Zu einer Fernsehansprache zu den Vorfällen durch Premierminister Essam Sharaf kam es nicht. Er ließ sich entschuldigen. Er sei auf dem Weg nach Äquatorialguinea, um dem 17. Gipfel der Afrikanischen Union beizuwohnen. Er wird dort General Tantawi vertreten, der seit der Machtübernahme des Militärs die Funktion des Staatschefs in Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Militärrates ausfüllt.

Die Zeltstadt auf dem Tahrir-Platz im Freudentaumel.
Am 11. Februar 2011 tritt Hosni Mubarak nach einer
30-jährigen Präsidentschaft zurück.
In der folgenden Nacht wurde der Tahrirplatz wieder bevölkert von tausenden Ägyptern, die sich an die Zeit erinnerten, als sie dort in einer Zeltstadt lebten. Sie hatten eine eigene Administration, eigene Gesetze, eigene Zeitungen und veranstalteten Diskussionsrunden und kulturelle Events und bewegten mit ihrer Standhaftigkeit Hosni Mubarak zum Rücktritt.

Diese und die nächsten Tagen werden wieder turbulente Tage für Ägypten. Die Nachrichten überschlagen sich. Jede Meldung über die Verzögerung von Prozessen gegen die Verantwortlichen der Tötungen von Demonstranten wird mit neuen Streikaktionen beantwortet. So hatte Anfang der letzten Woche die Vertagung des Prozesses gegen Ex-Innenminister Al Adly zu Tumulten vor dem Gericht geführt. Al Adly wird vorgeworfen, für die Tötung von 800 Menschen während des 18-tägigen Aufstandes verantwortlich zu sein, der zum Sturz Mubaraks führte. Das von der Administration kristisierte unverhältnismäßige Verhalten der Polizei in der Nacht vom 28. auf den 29. Juni bewegt immer mehr Menschen dazu, wieder in Richtung Tahrir-Platz zu gehen. Tahrir heißt Befreiung und diese haben die Demonstranten vor Augen. Die Ägypter wollen ihr Land zurück.

Aktuelle Bilder: Ein Demonstrant sucht Deckung
Man kann nur mutmaßen, welche Elemente in Ägypten für die neuen Unruhen verantwortlich zu machen sind. Richtig ist, dass viele Ägypter nun wieder die Polizei im Visir haben. Sie soll nach dem Willen vieler Ägypter, ähnlich wie die Staatssicherheit, völlig umstrukturiert werden. Amr Gharbeia, ein Mitglied einer ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte ist der Meinung, dass der Polizeiapparat sofort hätte aufgelöst werden müssen. Die Polizei sei neben der Staatssicherheit das Hauptmittel der Unterdrückung durch Mubarak gewesen. Der derzeitige Minister für Kultur Emad Abu Ghazy geht davon aus, dass ehemalige Günstlinge Mubaraks die Fäden in der Hand halten und nun gezielt Gewalt schüren wollen. Andere sind der Ansicht, dass die gerichtlich verordnete Auflösung der Amtsgerichte in Ägypten, deren Bedienstete ausschließlich der Partei Mubaraks angehörten, zu den neuen Unruhen führte.

Einige aussichtsreiche Präsidentschaftskandidaten äußerten sich ebenfalls. So verlangte El Baradei eine Erklärung durch den Militärrat. Es stünde die Frage im Raum, warum Polizeikräfte Gewalt gegen Demonstranten einsetzten. Amr Moussa schrieb über Twitter: "Ich rufe jeden dazu auf, Ägyptens Stabilität, das Ansehen des Landes und die Revolution zu schützen. Das Blut der Märtyrer soll nicht umsonst geflossen sein."

 Abu El Fotouh, Generalsekretär der Vereinigung Arabischer Ärzte und ehemaliges Mitglied der Muslimbrüder verurteilte die Gewalt gegen die Demonsranten und forderte den Rücktritt des amtierenden Innenministers Mansour Al Essawy. Gruppen der Jugendbewegung fordern Prozesse gegen verantwortliche Polizisten und die Entlassung des Polizeichefs von Kairo.

Viele Beobachter sind sich einig darüber, dass es der Übergangsregierung unter Premierminister Essam Sharaf nicht gelungen sei, diese Phase des Übergangs zu bewältigen und eine Aufarbeitung der politischen und gesellschaftlichen Missstände in Ägypten zu betreiben.

In der Tat gibt es keine Programme, keine Diskussionen über Inhalte und wenn sie geführt werden, dann sind sie überschattet von Misstrauen. Die Ursachen der neuen Unruhen sind nicht in den Details zu suchen. Sicherlich sind alle Erklärungsansätze Teil der Ursache. Letztendlich aber muss geklärt werden, welche Befugnisse die Polizei durch den Militärrat erhält. Sollte der Militärrat verantwortlich sein für den massiven Polizeieinsatz, dann wäre es möglich, dass die Militärregierung unter allen Umständen verhindern wollte, dass die durch Jugendorganisationen für den 8. Juli angekündigten Proteste in ähnlicher Intensität stattfinden wie die Proteste des 25. Januar, die den Anfang der Revolution markierten.

Nach dem Fußballspiel trafen sich Fans und Demonstranten
am Mittwochabend auf dem Tahrir-Platz
Es mangelt an Ernsthaftigkeit bei allen Beteiligten. Während sich innerhalb der Jugendorganisationen Rangeleien um öffentliche Auftritte ergeben und ein ungeahnter Narzismus zu Tage tritt, übt sich die Übergangsregierung in Kosmetik: Brot und Spiele für das Volk, wenn kurzfristig entschieden wird, dass das Kairoer Fußball-Derby Ahly gegen Zamalek nun doch am Mittwochabend stattfinden sollte. Während Demonstranten auf dem Tahrir-Platz ihre nächsten Aktionen planen, die Polizei die Stellung hält und die Arme zusieht, spielen Ahly und Zamalek 2:2. Herzlichen Glückwunsch!

Essam Sharaf reist zum Gipfeltreffen der Afrikanischen Union. Dort habe er eine wichtige Rede zu halten, um die Interessen des palästinensischen Volkes zu untermauern. Was ist mit den Interessen des ägyptischen Volkes? Eine neue Art von Patriotimus, die ich nicht verstehe? Viele waren froh, dass Sharaf das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hatte. Er hatte den Demonstranten noch Monate zuvor Mut gemacht. Heute stellt sich Ernüchterung bei den Demonstranten ein.

Die Armee surft auf Facebook und die Gerichte, die heute ein Urteil im Fall des durch Polizisten zu Tode gefolterten Khaled Saeed fällen sollten, vertagen den Urteilsspruch einfach auf den 24. September.

Eine weitere Absurdität "im Namen des Volkes": Samir Abdel Mageed verlor am 28. Januar während der Proteste ein Auge. Polizisten hatten ihn beschossen. Das zuständige Gericht verurteilte das Innnenministerium 50.000 ägyptische Pfund (ca. 5785 Euro) an den Mann zu zahlen. 25000 Pfund habe der Mann an Arztkosten aufbringen müssen und 25000 Pfund stünden ihm als Schmerzensgeld zu. Das Opfer selbst hatte 5 Millionen Pfund gefordert. Ach, ich vergass: Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton gab heute bekannt, dass man wieder intensiver mit den ägyptischen Muslimbrüdern spreche. Zeiten ändern sich...

Man sollte sich auch in Erinnerung rufen, dass zur Stunde Demonstranten verhaftet werden und ohne Verfahren einen mehrtägigen Arrest in einem Militärgefängnis ausitzen müssen. Täter der meisten Übergriffe auf Demonstranten sind frei und es gibt innerhalb des momentanen politischen Sytems in Ägypten keine Instanz, die dies korrigiert.

Übrigens, sollten Sie ägyptische Bockshornkleesamen zur Aufzucht von Sprossen verwenden, sollten Sie spätestens jetzt damit aufhören. Die stehen nähmlich nunmehr im Verdacht ein Heim für die gefährlichen EHEC-Erreger zu sein.