08.07.2011

Die Revolution zuerst: Vom Untertan zum Staatsbürger

 Von Daniel Roters

Seit dem Morgen des 8. Juli strömen Tausende Ägypter auf den Tahrir-Platz in Kairo. Es sind die größten Proteste seit dem Sturz Hosni Mubaraks und die Bilder ähneln denen aus dem Frühjahr. Stellte ich mir persönlich die Frage, ob es noch eine Revolution gibt, muss ich heute hier und jetzt sagen: Die Revolution lebt weiter.

Der Tahrir-Platz am Abend des 8. Juli.
Die Ägypter üben gerade Demokratie. Sie sind wachsam und jeder trägt seinen Teil dazu bei, das Land am Nil in eine bessere Zukunft zu bewegen. Es sind die alten Forderungen: Keine Militärtribunale mehr, Prozesse gegen die, die so lange vom System Mubarak profitierten, Bekämpfung der Armut, Bildung und politische Partizipation für eine seit über 30 Jahren geknechtete Gesellschaft.

Die Proteste wenden sich nun gegen die Militärregierung und gegen deren Vorsitzenden Feldmarschall Tantawi, der seit dem Sturz Mubaraks die Amtsgeschäfte des Landes führt. Es ginge nicht um die Armee selbst, sondern die Führer des Landes, die es versäumten, Gerichtsverfahren gegen Komplizen des ehemaligen Präsidenten anzustrengen und Reformen voranzubringen.

Wieder ist der Tahrir-Platz bevölkert von Ägyptern, die nicht nur demonstrieren und protestieren, sondern in Kommitees wieder eine Art Selbstverwaltung aufgebaut haben. Die Sicherheit der Demonstranten organisieren die Demonstranten selbst. Personen, die den Platz betreten werden kontrolliert. Mobile Lazarette bereiten sich auf die Versorgung Verletzter vor.

Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz hören
Ramy Essam, dem "Sänger der Revolution" zu.
Auch  auf dem Saad Zaghloul-Platz in Alexandria, in Tanta, in Ismailia, in Damietta, in Mahalla El Kobra, in Asyut, in Aswan und in anderen Städten versammeln sich Menschen auf den öffentlichen Plätzen und demonstrieren: Wir sind hier. Wir beobachten euch. In Sharm El Sheikh versammeln sich Menschen, um vor dem Krankenhaus zu protestieren, in dem Hosnii Mubarak behandelt wird. Geschätzte zwei Millionen Menschen im ganzen Land sind auf den Straßen, protestieren, diskutieren und knüpfen an die Proteste vom Frühjahr an.

In Suez strömten Menschen auf die Straßen und protestierten gegen die Freilassung von 10 Polizisten auf Kaution. Sie waren in Haft, weil sie für den Tod zahlreicher Demontranten während der Proteste im Frühjahr verantwortlich gemacht wurden.

Gingen wir davon aus, dass der Sturz Mubaraks ein historischer Moment war, so können wir nun sagen, dass der 8. Juli eine neue Marke gesetzt hat: Ägypter sehen es nun als ihre staatsbürgerliche Pflicht an, wachsam zu sein, zu protestieren, und für elementare Freiheitsrechte einzutreten.

Es geht nicht um Nahrung oder mehr Geld. Es geht um die Vorraussetzungen für eine Gesellschaft, in der staatsbürgerlich gehandelt werden kann und darf, um das Leben der Menschen zu verbessern. Es geht darum Ziele zu stecken und sie durch politische Partizipation zu erreichen. "Freiheit" und "Gerechtigkeit", das sind die Worte, die man an diesem Tage auf dem Tahrir-Platz vernimmt. Und die Demonstranten haben auch durchaus dedizierte Forderungen: Bereits gestern forderten demonstrierende Muslime und Christen die Einführung eines Gesetzes zur Einführung der Zivilehe, um sich scheiden und wieder verheiraten lassen zu können.

Proteste auch in vielen anderen Städten Ägyptens. Hier
demonstrieren die Bürger von Tanta.
Heute wie an keinem anderen Tag dieser lang andauernden Revolution symbolisiert der Tahrir-Platz die Zukunft der politischen Auseinandersetzung in Ägypten: Politische Parteien, auch die Muslimbruderschaft, Jugendkoalitionen, Gewerkschaften, Bürgervereinigungen, Angestellte der Universitäten, Christen und Muslime treten zusammen. Einen großen Sieg haben die Ägypter bereits errungen. Man hat erkannt, dass Demokratie auch bedeutet, Kompromisse einzugehen. Wollten die Muslimbrüder noch vor Tagen nicht an Protesten teilnehmen, stehen sie nun Seite an Seite mit anderen Interessengemeinschaften auf dem Tahrir-Platz.

Die ägyptische und libysche
Flagge zusammengeknüpft als
Zeichen der Solidarität.
Ein Gruß aus Kairo an die Palästinenser.
Doch die Ägypter stehen nicht für sich allein. Der Frühling 2011 hat ein neues Bewusstsein geschaffen, welches langsam aber sicher Untertanen zu Staatsbürgern werden lässt. Die Uhren können nicht mehr zurückgedreht werden. In der arabischen Welt rennt die Zeit in Richtung Verwandlung. Wir in Deutschland müssen uns damit abfinden, dass unsere Regierung schläft, während die arabische Welt erwacht. Wir schlafen nicht nur, sondern senden (un)missverständliche Signale an Menschen, die in Protesten in der ganzen arabischen Welt, um ihre Rechte kämpfen. Wird der deutsche Außenminister wieder auf dem Tahrir-Platz stehen, dann werden ihn Ägypter fragen, warum ausgerechnet Deutschland Panzer an Saudi-Arabien lieferte. Er würde wahrscheinlich nicht einmal antworten. In alter Manier schweigt die Kanzlerin und duckt sich weg.Wir in Europa resignieren, wenig solidarisch miteinander in diesen Zeiten. Solidarität wird auf dem Tahrir-Platz gelebt und manch ermunternder Gruß verlässt den Platz der Befreiung in Richtung Libyen, Bahrain, Syrien, in den Jemen und anderer Orte in der Welt, wo unbeobachtet von den Medien kleine Revolutionen große Ideale zurück in das Leben der Menschen bringen.

Nachtrag (00:45): In Suez haben Arbeiter und Demonstranten zivilien Ungehorsam angekündigt sollte die Militärregierung den Forderungen der Demonstranten nicht nachkommen.

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