30.01.2011

Das geostrategische Glück Tunesiens ... und das Unglück Ägyptens: Warum der Westen weiterhin mit zweierlei Maß mißt

Von Marco Schöller

Seit dem 25. Januar, spätestens aber seit den Ereignissen der letzten drei Tage kündigt sich das Ende des Regimes Mubaraks in Ägypten an. Man kann noch nicht sagen, was sich aus der gegenwärtigen Krise entwickeln wird, aber man kann prophezeien, daß die Situation in Ägypten einen Punkt erreicht hat, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Es ist auch müßig, darüber zu spekulieren, inwieweit die Geschehnisse in Tunesien den Aufstand in Ägypten unterstützt oder gar motiviert haben. Einerseits wurde berichtet, Demonstranten in Kairo hätten die tunesische Nationalhymne gesungen und Slogans gerufen, die das Schicksal Ben-Alis mit der Zukunft von Mubarak in Verbindung brachten. Andererseits mögen nicht alle Ägypter die Frage nach dem Vorbildcharakter Tunesiens für den gegenwärtigen Aufstand, als würde man damit insinuieren, sie seien aus eigenem Antrieb nicht in der Lage, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Aber wie dem auch sei, seit der Flucht Ben-Alis aus Tunesiens ist nichts mehr wie es war in der arabischen Welt, und das wird für eine lange Zeit so bleiben.

 

Aber die Demonstranten in Ägypten haben eine viel schwierigere Aufgabe vor sich: Sie leben in einem Land, das geopolitisch an einer neuralgischen Stelle liegt: am Suezkanal und – was noch viel wichtiger ist –: neben Israel. »Vitale strategische Interessen des Westens«, wie es immer so schön heißt, sind hier betroffen, und die westlichen Staaten haben in den letzten Tagen deutlich gemacht, daß sie die Demonstrationen in Ägypten nicht mit demselben Gleichmut betrachten wie zuvor in Tunesien. Die westlichen Regierungen haben bislang wenig mehr getan, als die Anwendung von Gewalt auf allen Seiten zu geißeln und von Mubarak Reformen und »mehr« Demokratie zu fordern. (Man mag sich, am Rande bemerkt, fragen, was es eigentlich heißt, »mehr« oder »größere« Demokratie zu verlangen – kann man denn teils demokratische Verhältnisse haben, teils nicht?) U.S.-Außenministerin Clinton ruft Mubarak dazu auf, einen »echten und lebendigen Dialog« mit der Opposition im Land zu beginnen, doch angesichts der fast 30-jährigen Unterdrückungspolitik, die Mubarak zu verantworten hat, erscheint dieser Aufruf entweder hilflos oder zynisch. Ohne Zweifel haben die U.S.A. im Moment das »Shah-Problem«, wie Kai Bird auf Slate.com (30. Januar) es treffend analysiert hat, oder anders gesagt: »Gemessen an unseren Idealen dürften wir Mubarak nicht unterstützen, aber gemessen an unseren realpolitischen Zwecken dürfen wir ihn nicht verlieren.« Aus diesem Grund wird das Regime Mubaraks trotz aller Soft-Rhetorik (»Wir erwarten Wandel und Reformen«) weiterhin gestützt, und man hat den Eindruck, der Westen hoffe, Mubarak oder eine Clique aus seinem Umkreis, insbesondere aus der Armee, werde die bisherigen Verhältnisse noch irgendwie bewahren können.

Die Vertreter westlicher Regierungen sprechen es nicht deutlich aus, aber viele westliche Medien lassen in ihren Analysen und Kommentaren keinen Zweifel: Dem Westen liegt mehr an der Stabilität in Ägypten als an einer Verbesserung der dortigen Verhältnisse. Ich versuche, das einmal so zu formulieren, wie es tatsächlich gemeint ist: Es liegt im Interesse des Westens, daß die Menschen in Ägypten weiterhin in einer Diktatur leben, die nichts zu »wünschen« übrig läßt, solange das dortige Regime die islamistische Gefahr unter dem Deckel hält und die Politik Israels mitträgt. Das ist einerseits inakzeptabel und verrät alle Ideale, die der Westen sonst auf seine Fahnen geschrieben hat, andererseits ist das Realpolitik. Um diese Realpolitik zu rechtfertigen, bemühen sich seit zwei Tagen israelische und viele westliche Medien, die Gefahr eines neuen Irans an die Wand zu malen und den Aufstand in Ägypten als »islamistische Revolution« zu verkaufen. In Deutschland leiht die BILD-Zeitung diesen Stimmen ihre Seiten, indem sie etwa Julian Reichelt kommentieren läßt (auf BILD.de kurz nach Mitternacht am 31.01.): Hunderttausende (oder noch mehr) Ägypter wollen eine andere Freiheit als die, die wir meinen. Sie wollen frei genug sein, um aus ihrem Land einen fundamentalistischen Gottesstaat zu machen. Sie wollen die Freiheit, Israel nach Jahrzehnten des Friedens wieder zu einem Feind zu erklären. Sie wollen die Freiheit, die soliden Brücken zu Amerika abzubrechen. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Wir brauchen Ägypten als Verbündeten in dieser chronisch kriegerischen Ecke der Welt. Der Preis der Freiheit ist die Pflicht, Entscheidungen treffen zu müssen. Man könnte ein ganzes Buch über diese Zeilen schreiben. Es wäre die Geschichte des westlichen Imperialismus und der westlichen Doppelmoral, die uns neben vielen anderen tragischen Ereignissen den 11. September beschert hat. Denn Freiheit – nota bene – ist eben nach Reichelt nicht gleich Freiheit: Freiheit ist in der Welt nur die Freiheit, die wir meinen und zulassen. Unsere Freiheit ist diejenige, die uns in die Lage versetzt zu bestimmen, wieviel Freiheit anderen Völkern in der Welt zugestanden werden kann und zu welchem Zweck. Aber Freiheit ist nicht verhandelbar. Verhandelte Freiheit ist Unfreiheit.

Die Ägypter leben, was die momentanen Verhältnisse angeht, auf dem falschen Fleck der Erde. Die Tunesier hatten in dieser Hinsicht mehr Glück, jedenfalls in den letzten Monaten – im 19. Jahrhundert hatten sie dieses Glück nicht. Aber die Weltlage ist nicht mehr dieselbe. Tunesien liegt nicht, wie Ägypten, neben einem Staat, dessen Politik oder gar Existenz der Westen nur mit der Unterstützung diktatorischer Regime im unmittelbaren Umfeld garantiert glaubt. Der Widerspruch, daß diese diktatorischen Regime in den vergangenen Jahrzehnten militanten Widerstand gegen Israel indirekt motiviert und einen Großteil der islamistischen Opposition bzw. des islamistischen Terrorismus erst hervorgebracht haben, zu deren Unterdrückung dann wiederum die nahöstlichen Autokraten und die Armeen westlicher Staaten benötigt werden, scheint diejenigen nicht zu beeindrucken, die einen Status Quo in Ägypten (und anderswo: Saudi-Arabien, Syrien usw.) weiterhin verfechten. Und hat nicht auch gestern der saudische Monarch die Demonstranten in Kairo als Hooligans und Mob bezeichnet und Mubarak darin bestärkt, die Ordnung mit allen Mitteln wieder herzustellen? Dann sei hier nochmals daran erinnert, daß al-Qaida zunächst eine Untergrundorganisation war mit dem Ziel, die saudische Monarchie zu beseitigen, bevor sie den Terror in die Welt trug. Man fragt sich, was an diesen Zusammenhängen so schwierig ist, daß es die Verantwortlichen in westlichen Staaten nicht verstehen können. Ich vermute deshalb daß sie es wohl verstehen können, aber – bislang– nicht verstehen wollen. Die Leute in Ägypten und vielen anderen Staaten bezahlen seit langem den Preis dafür.

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