Von Marco Schöller
Warum es erst Bilder von Bomben und Straßenkämpfen braucht, bevor der Westen hinsieht
Tunesien ist seit vielen Jahren im Visier von Menschenrechtsorganisationen. Es gibt dort Pressezensur, zahlreiche politische Gefangene, und die politische Opposition wird härter verfolgt als in den benachbarten arabischen Staaten. Ben Ali hat sich einen Namen als »harter Hund« gemacht. Das war und ist alles bekannt – zumindest denjenigen, die es bisher wissen wollten. Wie auch in Ägypten herrscht in Tunesien eine »präsidiale Diktatur«, wie man es beschönigend nennt. Gemeint ist die Herrschaft einer kleinen Machtelite, die mit Hilfe des Militärs und westlicher Unterstützung ihr jeweiliges Land als Privatbesitz behandelt und den verfügbaren Reichtum des Landes, den sie in die eigenen Taschen abschöpft, in vom Militär bewachten VIP-Residenzen verprasst. Das ganze wird gesellschaftlich von einer korrupten Partei- und Staatsbürokratie getragen, die für ihre Teilnahme an diesem System mit kleinen Privilegien und einem sicheren Job entschädigt wird. Ein Schelm, wer dabei an die Zustände in der einstigen DDR denkt – aber die DDR stand auf der falschen ideologischen Seite.
Nicht so Tunesien und Ägypten, oder auch Marokko. Diese Länder haben im Westen traditionell eine gute Presse, weil ihre Regierungen dem Westen ideologisch nahestehen, Abermillionen für westliche Rüstungsgüter ausgeben, ihre Gefängnisse den westlichen Geheimdiensten als Folterkammern öffnen und politische Organisationen, die im weitesten Sinn als islamistisch betrachtet werden, mit allen Mitteln verfolgen und unterdrücken. Es passt den westlichen Staaten gut ins Konzept, dass die arabischen Mittelmeeranrainer vermeintliche oder tatsächliche islamistische Terroristen mit Methoden bekämpfen, die in Europa politisch nicht durchsetzbar sind. Gut auch, dass sich diese Staaten dazu verpflichtet haben, afrikanische Flüchtlinge zu internieren und in ihr Elend zurückzuschicken, bevor es diesen gelingt, ihren Fuß auf europäischen Boden zu setzen. Und Tunesien wie Ägypten lassen westliche Firmen unbehelligt investieren, ja schaffen ihnen Voraussetzungen für paradiesische Gewinnmöglichkeiten. Dass schließlich auch die westliche Tourismusindustrie mit ihrem Milliardenbusiness ein Interesse daran hat, dass die genannten Länder so weit wie möglich außerhalb jeder negativen Berichterstattung bleiben, kommt hinzu.
Die Zustände in Ägypten und Tunesien haben sich in letzter Zeit dramatisch zugespitzt. Dass man das im Westen erst zur Kenntnis genommen hat, nachdem es in beiden Ländern zu mehreren Toten aufgrund von Anschlägen oder bei der Niederschlagung von Demonstrationen gekommen ist, zeigt, wie außerordentlich hoch unsere Aufmerksamkeitsschwelle ist, was diese Länder betrifft. Die übliche westliche Appeasement-Haltung gegenüber diesen Staaten – sowohl bei den Medien als auch bei den Regierungen – entlarvt die westliche Humanitäts- und Freiheitsrhetorik als das, was sie ist: Ein politisches Instrument, das man aus der Kiste holt, wenn es der Durchsetzung und Rechtfertigung außenpolitischer oder strategischer Interessen dient. Dass gesagt wird, der Westen müsse in der Welt die eigenen Werte nach Möglichkeit durchsetzen oder verteidigen, dient ja im Fall von Afghanistan und dem Irak immerhin als offizielle Begründung für teure Kriegseinsätze westlicher Armeen, spielt aber in anderen Fällen – etwa hinsichtlich Ägyptens oder Tunesiens, aber auch Saudi-Arabiens und einiger Golfstaaten – keine Rolle.
Man kann diese zwiespältige Haltung natürlich aus grundsätzlichen Erwägungen heraus kritisieren. Aber sie ist auch in pragmatischer Hinsicht und unter Verzicht auf jeden Idealismus hinsichtlich unserer eigenen Werte zu kritisieren, weil sie kurzsichtig ist und unserem Eigeninteresse zuwiderläuft. Man muss ja nicht lange überlegen, um zu sehen, dass diese westliche Haltung auf lange Sicht mehr Probleme schafft als sie löst: So fördert zum Beispiel die politische Unfreiheit in Ägypten die Hinwendung politisch engagierter Menschen zu islamistischen Positionen. Der Islamismus hat sich aufgrund seiner radikalen Thesen, seiner als unbeirrbar und unbestechlich wahrgenommenen Führungsfiguren den Nimbus erarbeitet, eine echte, ja die einzige Alternative zu den bestehenden Verhältnissen zu sein. Und in der Tat: Wer in Ägypten den »regulären« Weg politischer Aktivität wählt, wird feststellen, dass er entweder Teil des gleichgeschalteten und korrupten Staatsparteiensystems werden muss oder von eben diesem System durch Zensur und Verbote daran gehindert wird, sich politisch zu betätigen. In beiden Fällen wird er de facto nichts zur Änderung oder Verbesserung der Verhältnisse tun können. Es gibt also innerhalb des Möglichen bzw. Erlaubten gar kein echtes politisches Engagement. Die Islamisten kritisieren das bestehende System eben dafür und überzeugen viele durch den simplen Umstand, dass sie mit ihrer Kritik recht haben. Und überzeugend sind auch die von lokalen islamistischen Organisationen eingerichteten Sozialstationen in den Armenvierteln Kairos, weil die Menschen dort das erhalten, was ihnen der Staat nicht geben kann.
Wirtschaftlich erleben die genannten arabischen Länder seit vielen Jahren eine Abwärtsentwicklung, die sehr wenige immer reicher macht, einen großen Teil der Bevölkerung immer ärmer und perspektivlos. Auch das ist seit langem bekannt. Aber die Regierenden in diesen Ländern hüten sich, öffentlich kundzutun, wie es in ihren Ländern steht, so dass nicht nur die politische Unfreiheit, sondern auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere weitgehend vor den Augen des Westens verborgen bleibt. Es gibt auch keine Regierungsvertreter in diesen Ländern, die öffentlich anti-westliche Positionen beziehen, wie es etwa im Iran regelmäßig geschieht. Das hat, wie bekannt, dem Iran eine anhaltend negative Presse im Westen beschert, wohingegen es bisher scheinbar niemandem aufgefallen ist, dass die politischen Verhältnisse in Tunesien und Ägypten durchaus – und zwar nach unseren Maßstäben – unfreier sind als im Iran. Nicht dass im Iran alles zum Besten stünde, was nicht der Fall ist, aber dort werden bei Wahlen immerhin konkurriende Kandidaten zugelassen, was in den Einparteiensystemen Tunesiens und Ägyptens gar nicht erst geschieht. Zudem gibt es im Iran trotz aller Einschränkungen eine ansatzweise offene Debatte über politische und gesellschaftliche Fragen, die zwar immer wieder blockiert und staatlich reglementiert wird, aber doch immer wieder zustande kommt. Ein gutes Beispiel für die komplexen Zustände im Iran ist auch die staatliche Aids-Politik: Offiziell hält die Regierungspropaganda das Thema Aids unter dem Deckel, aber gleichzeitig hat der Staat still und leise ein Netz von Tageskliniken und Sanitätsstationen im Land aufgebaut, die sich um Aids-Kranke kümmern. Dafür wurde der Iran von der Weltgesundheitsorganisation als vorbildlich gelobt. Aber der Iran hat im allgemeinen die falsche Presse im Westen – und wo im Fall anderer Staaten, etwa Chinas, praktische Fortschritte trotz anderslautender offizieller Verlautbarungen und Staatspropaganda positiv wahrgenommen und als Hoffnung für zukünftige »Öffnung« interpretiert werden, geschieht im Fall des Irans nichts dergleichen.
In den arabischen Ländern, die sich mit dem Westen arrangiert haben und deren Machthaber nur dank der Militär- und Entwicklungshilfe der westlichen Staaten überleben können, gibt es keine aggressive Staatspropaganda, die sich gegen den Westen richtet, die sich also in den westlichen Medien publikumswirksam verwerten und – im günstigsten Fall – zur Grundlage einer kritischen Berichterstattung machen ließe. Die politischen Zustände in diesen Staaten werden mehr oder weniger als »innere Angelegenheiten« behandelt – das heisst, sie werden gar nicht behandelt. Erst wenn es zu Ereignissen kommt, die im Westen einen emotionalen Nerv treffen, kommt unsere Medienmaschine in Gang. Eine bombardierte Kirche an den Weihnachtstagen, beispielsweise, trifft einen Nerv in unserer Gesellschaft. Dagegen treffen gefolterte Häftlinge, langjährig weggesperrte Schwule, von Schnellgerichten gefällte Todesurteile, unzumutbare Zustände in Krankenhäusern und Gewalt gegen Frauen – alles an der Tagesordnung in Ägypten – offenbar keinen Nerv. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass das Attentat von Alexandria nicht menschenverachtend und, so traurig es ist, auch berichtenswert wäre. Damit soll gesagt sein, dass wir in unserer Gesellschaft eine selektive Wahrnehmung haben, die hinsichtlich der Zustände in den arabischen Ländern das herauspickt, was in unseren gesellschaftlichen Debatten anschlußfähig ist. Konflikte zwischen Muslimen und Christen, zumal sie sich zu blutigen Mordtaten hochschaukeln, sind anschlußfähig. Das gilt neben Ägypten ja auch für Nigeria. Dass aber in diesen Ländern auch sonst Zustände herrschen, die unserem Wertesystem zufolge inakzeptabel sind und die die westlichen Staaten mitzuverantworten haben, ist offenbar nicht anschlußfähig.
Das Attentat auf die Kirchgänger in Alexandria hat im Westen höchstrangige offizielle Stellungnahmen hervorgerufen, die die Religionsfreiheit und den Schutz von Christen einfordern. Das ist zwar an sich zu bejahen und wird hierzulande keinen Widerspruch finden, aber wer fordert im Westen die grundsätzliche Freiheit der Bevölkerung in Ländern wie Ägypten ein? Warum fordert man nicht auch politische Freiheit für alle in diesem Land? Welche Regierung klagt im Westen an, dass in Ägypten auch Muslime oder Angehörige anderer Religionen keine Religionsfreiheit in unserem Sinn haben? Nicht wenige würden hier entgegen, uns als Deutschen liegen eben die Christen besonders am Herzen. Auf diesen Standpunkt kann man sich stellen. Wenn man aber Kritik nur dann äußert, wenn Christen involviert sind, und andere Gegebenheiten, die ebenfalls nicht unserem Wertekanon entsprechen, toleriert oder ignoriert, dann wird man damit leben müssen, dass in islamischen Ländern westliche Regierungen als Vertreter spezifisch christlicher Interessen wahrgenommen werden. Das heizt den Konflikt zwischen Muslimen und Christen weiter an, erinnert aber auch fatal an den Imperialismus des 19. Jahrhunderts: Das Argument, die orientalischen Christen beschützen zu müssen, war eines der Hauptargumente, die das Vorgehen der westlichen Staaten gegen das Osmanische Reich rechtfertigen sollten. Und man wird auch den Vorwurf hinnehmen müssen, der Westen habe tatsächlich gar kein Interesse an der Durchsetzung der von ihm hochgehaltenen Werte, solange diese Durchsetzung nicht bestimmten Eigeninteressen dient oder ein emotionales Bedürfnis stillt. Siehe auch Afghanistan.
Und Tunesien? Die inneren Zustände in dem netten kleinen Ländchen am Mittelmeer waren bisher kaum der Berichterstattung wert, solange die Touristen unbehelligt vom Flughafen in ihr Urlaubshotel oder ihren umzäunten Ferienclub gekarrt werden konnten. Und wenn sich dieser Urlaub auch noch zu Spottpreisen finanzieren ließ, umso besser. Tunesien ist eines der absoluten Billigländer am Mittelmeer. Dass sich das nur mit wirtschaftlichen Nachteilen für die Bevölkerung und einem Verzicht auf Besserung der Lebensverhältnisse bewerkstelligen ließ, machte bisher nur wenigen Kopfzerbrechen. Jetzt brennen in Hammamet, Sousse und Mahdia – bekannt aus Reisekatalogen und Last-Minute-Angeboten – Häuser und Straßensperren. Die Menschen, speziell die junge Generation, haben oft keine Arbeit und keine Perspektive; viele können die gestiegenen Lebenskosten nicht mehr bezahlen. 66 Menschen sind nun in wenigen Tagen zu Tode gekommen. Noch ist kein Tourist unter ihnen, aber Thomas Cook hat damit begonnen, seine Kunden auszufliegen. Der Spaß am Strand hat aufgehört. Doch für die Tunesier hat der Spaß schon lange aufgehört. Wir wollten es aber nicht wissen, normalerweise.
Die europäischen Touristen werden demnächst einen anderen Badestrand buchen, vielleicht am Roten Meer. Ägypten ist auch billig, und nicht einmal die Journalisten der Bild-Zeitung haben bisher herausgefunden, dass die Haie im Roten Meer von muslimischen Extremisten ausgesetzt wurden, um christliche Taucher anzufallen.
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