28.01.2011

Diktatur und Gesellschaft in Tunesien

"Fast 60 Jahre Diktatur haben die
tunesische Bevölkerung tief
traumatisiert." - Dr. Jemal. Ben Abdeljelil
Ein Gastbeitrag von Jamel. Abdeljelil
Centrum für Religiöse Studien, WWU Münster

Massendemonstrationen in Tunesien, Algerien, Ägypten und im Jemen, ein geflohener Staatschef, eine ungewisse Zukunft - die "arabische Welt" erlebt in den letzten Tagen und Wochen massive politische Veränderungen. Q History-Redakteur Henrik Kipshagen sprach darüber mit Dr. Jamel. Ben Abdeljelil, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Münsteraner Zentrum für religiöse Studien. Dabei ging es auch um die historischen Hintergründe der gegenwärtigen Ereignisse.


Q History: Herr Ben Abdeljelil, bitte stellen Sie sich kurz vor.

Jamel. Ben Abdeljelil: Mein Name ist Jamel. Ben Abdeljelil, geboren in Tunesien. Dort habe ich auch studiert, islamische Theologie an der ez-Zitouna Universität, einer der ältesten Universitäten für islamische Theologie in der arabisch-islamischen Welt, aus dem Anfang des achten Jahrhunderts. Ich habe in Tunesien in den achtziger und frühen Neunziger Jahren studiert, und in dieser Zeit war auch 1987 der Sturz der ersten tunesischen Präsidenten durch Ben Ali. Das geschah in einem sogenannten konstitutionellen Putsch. Am Anfang hat Ben Ali viel versprochen, von Demokratie und Freiheiten. Aber kurz darauf, das hat nicht einmal zwei Jahre gedauert, hat sich die wahre Natur des Regimes offen gezeigt, und es kam zu repressiven politischen Praktiken, zu Repressalien. Opfer dieser Auseinandersetzungen bzw. Spannungen zwischen dem Regime und der tunesischen Gesellschaft, manifestiert in den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und politischen Parteien, waren unter anderem die Gewerkschaften und die Studentenbewegung. Viele wurden verhaftet, nicht wenige wurden ermordet, und viele sind dann ausgewandert, weg aus Tunesien. Ich bin Anfang der 90er Jahre auch weg, nach Österreich, wo ich dann Philosophie studiert und im Bereich islamische Philosophie promoviert habe. Darauf habe ich dort jahrelang als Assistent für Islamwissenschaften im Institut für Orientalistik der Universität Wien gearbeitet, und bin seit einem Semester jetzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter am CRS, Centrum für Religiöse Studien der Universität Münster, tätig, an der Professur für islamische Religionspädagogik. Meine Fachbereiche oder Themenschwerpunkte sind islamische Philosophie und islamische Theologie.

Q History: Könnten Sie vielleicht kurz die Geschichte Tunesien von der Entkolonisierung 1956 bis zum Putsch Ben Alis 1987 nachzeichnen, und gibt es aus dieser Zeit bestimmte Eindrücke oder Erlebnisse, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Jamel. Ben Abdeljelil: Erlauben Sie mir, diese Frage ein bisschen anders zu beantworten. Ich möchte gerne mit dem Sturz dieses Regimes beginnen, mit dem Ende einer Ära, die vielleicht in zwei Teilen zu betrachten ist. Einer Ära der Diktatur mit einer demokratischen Fassade nach außen, die besonders im Westen als solcher wahrgenommen wurde, quasi als Demokratur. Jahrzehntelang wurde das Regime in Tunesien, nicht ganz 60 Jahre lang, vom Westen sehr stark unterstützt. Diese Diktatur, die unter Ben Ali 23 Jahre und unter Bourguiba 30 Jahre gedauert hat, war am Anfang mit der Gründung der Republik, mit der Befreiung und Entkolonialisierung, eigentlich nicht so gedacht. Die Opfer, die zu dieser Zeit erbracht wurden, und die Pioniere bzw. Väter der Unabhängigkeit haben sich etwas anderes gewünscht als eine Autokratie. Diese fast 60 Jahre Diktatur haben die tunesische Bevölkerung tiefgreifend traumatisiert. Fast sechs Jahrzehnte diktatorische Erziehung sozusagen, Unterdrückung, keine Meinungsfreiheit, keine bürgerlichen Grundfreiheiten oder Grundrechte, besonders in den letzten 23 Jahren totale polizeiliche Kontrolle in Form eines Polizeistaates in Tunesien. Das Alles darf trotzdem nicht eine andere Seite, die besonders in der Gründungsphase Anfang der 50er und 60er Jahre durchaus positiv war, nicht ausblenden. Kurz vor der Gründung der tunesischen Republik 1957 wurde die erste Verfassung für die Republik formuliert, und damit wurden grundlegende Richtlinien für die tunesische Politik festgelegt, die sich nachhaltig ausgewirkt haben, bis zur Gegenwart. Meiner Einschätzung nach haben sie sich eher positiv auf die tunesische Gesellschaft und auf die Entwicklung des Landes ausgewirkt. Im maghrebinischen und arabischen Kontext waren sie für Tunesien nicht nur vorteilhaft, sondern bildeten auch eine Ausnahme.

Q History: Was waren denn die zentralen bzw. wirkmächtigsten Aspekte damals?

Jamel. Ben Abdeljelil: Als höchste Priorität für die Wirtschaftsplanung und für die politischen Entscheidungen wurde die Bildung berücksichtigt. Dass die Bildung ein Drittel des gesamten Budgets bekommen hat, war beachtlich, und war eine bewusste Entscheidung des damaligen Präsidenten Bourguiba. Dass das Gesundheitssystem genauso viel bekommen hat, war auch eine grundlegende Entscheidung, die sich nachhaltig positiv ausgewirkt hat. Und dass das Militär einen minimalen Anteil des Budgets bekommen hat, nicht einmal fünf Prozent, bildete eine große Ausnahme in dieser Region. Die Nachbarstaaten haben über sechzig oder siebzig Prozent ihres Budgets für das Militär, für die Bewaffnung, ausgegeben – um die Relationen einmal anschaulicher darzustellen. Also in dieser Hinsicht bildete der junge tunesische Staat eine Ausnahme mit seinen entwicklungspolitischen Entscheidungen. Es hat aber noch weitere Ausnahmen in Tunesien gegeben, die man kennen muss, um die späteren Entwicklungen zu verstehen. Bereits vor dem Ausruf der Republik 1957, und nur einige Monate nach der Unabhängigkeit, wurde am 13. August 1956 ein Familienrecht eingeführt, welches im arabisch-islamischen Kontext sehr liberal war und eine totale Ausnahme bildete. In diesem Familienrecht wurde zum Beispiel die Polygamie strafrechtlich abgeschafft, und es wurden den Frauen die gleichen Rechte wie den Männern gegeben. In der ersten Verfassung, Ende der 50er Jahre, wurden Männer und Frauen vor dem Gesetz gleichgestellt, und Frauen bekamen auch das passive und aktive Wahlrecht. Das muss man mal im Vergleich zu anderen Ländern, auch in Europa, sehen, in denen das erst Jahrzehnte später der Fall geworden ist. Das heißt, die Ansätze für eine offene, liberale und demokratische Gesellschaft sind in Tunesien vorhanden. Diese nenne ich als Infrastruktur für einen Demokratisierungsprozess, für eine offene Gesellschaft und für einen modernen Staat.

Q History: Wie beurteilen Sie denn die langfristigen Wirkungen dieser guten Voraussetzungen? Ist davon in der Zwischenzeit vieles in Vergessenheit geraten oder wieder abgeschafft worden? Denn, wenn deren Wirkung so groß ist, fragt man sich doch, wieso sich ein unfreies, diktatorisches Regime so lange halten konnte…

Jamel. Ben Abdeljelil: Das Problem liegt ziemlich weit zurück. Schon in der Gründungsphase des modernen Staates in Tunesien, aber auch noch früher in der Geschichte, bei den zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gruppen, Parteien, Gewerkschaften – die Arbeitergewerkschaft besteht seit 1920, das ist eine weitere Ausnahme in der arabisch-islamischen Welt. Die Reformbewegung durch Gelehrte und Intellektuelle ist in Tunesien schon im 19. Jahrhundert feststellbar. Ich stelle aber einen merkwürdigen Zustand fest, dass nämlich die kulturellen, gesellschaftlichen Voraussetzungen, die durch diese Entwicklung geprägt sind, mit den politischen Rahmenbedingungen nicht in einer Kohärenz standen. Das heißt, auf der einen Ebene haben wir rechtlich, gesellschaftlich, auch kulturell bis zum 21. Jahrhundert die Voraussetzungen, die einen Demokratisierungsprozess erlauben und umsetzen können. Fakt ist aber, dass der Staat, die Politik, unter einem Stagnationszustand leidet, und dass der Staat in seinen politischen Entscheidungen autoritär gegenüber der Bevölkerung und gegenüber diesen Entwicklungen in der Bevölkerung ist. Das ist fast ein schizophrener Zustand in der tunesischen Gesellschaft, der die tunesische Geschichte jahrzehntelang geprägt hat. Worauf ist dieser Zustand zurückzuführen? Das ruft meiner Meinung nach eine weitere Komplexität, sowohl kulturell als auch gesellschaftlich, hervor, die auch über diesen tunesischen Fall hinausgeht. Tunesien kann nicht eine getrennte Insel in diesem arabischen Raum sein, da sind vielfältige Einflüsse sowohl im arabischen Raum als auch, in anderer Weise, im Mittelmeerraum festzustellen. Aus diesem Kontext heraus kann man zum Teil erklären, wie es zu diesem Zustand der Polarisierung kommen konnte – auf der einen Seite ein ziemlich autoritäres politisches System, auf der anderen Seite eine Gesellschaft, die meiner Meinung nach die soziokulturellen und gesellschaftlichen Strukturen für einen Demokratisierungsprozess erfüllt. Das heißt letztendlich, das Regime hat für die Stagnation der weiteren Entwicklung der tunesischen Gesellschaft eine starke Rolle gespielt.

Q History: Können Sie vielleicht das Lebensgefühl oder die Stimmung schildern, die Sie in der Vergangenheit in Tunesien mitbekommen haben?

Jamel. Ben Abdeljelil: Prägend für mich, und ausschlaggebend für meine Entscheidung, aus Tunesien raus zu gehen, war diese Beengung Anfang der 90er Jahre aufgrund der Konfrontation von Ben Alis Regime und allen oppositionellen Kräften. Unter dem Schild, dass er die Islamisten und die islamistische Gefahr bekämpfe, hat Ben Ali alle oppositionellen Kräfte, auch die, die es möglicherweise erst werden könnten, bekämpft und auszuschalten versucht. Da hatte ich Freunde und Studienkollegen, die bei Straßendemonstrationen nichts anderes verlangt haben als Freiheit, und dann erschossen wurden. Andere wurden verhaftet, buchstäblich in die Wüste geschickt – junge Studenten. In dieser Stimmung damals gab es die Entscheidung, entweder zu stagnieren, still zu halten und wie viele mit der Situation zu leben, oder sich in dem damals schon verlorenen Kampf zu opfern, wegzugehen. Weitere Möglichkeiten habe ich damals nicht gesehen, was auch für viele andere junge tunesische Studenten und andere der Fall war, die nicht unbedingt aktivistisch engagiert waren. Das war eben die allgemein herrschende Stimmung, die bedrückend war. Stellen Sie sich vor, wie bedrückend, wie eng es unter diesen Umständen sein kann.
Der ehemalige tunesische Präsident Ben Ali ist nach Saudi-Arabien geflohen.

Q History: Wie sehen denn Ihrer Meinung nach die langfristigen Wirkungen einer solchen diktatorischen Herrschaft aus?

Jamel. Ben Abdeljelil: Ich bin der Meinung, dass die Diktatur sowohl auf die einzelnen Menschen als auch auf das Kollektive eine verheerende Auswirkung haben kann, nämlich eine angst erfüllende Auswirkung. Und letztendlich entsteht eine Form der Entfremdung, dass man sich in seiner gewohnten Umgebung, in seiner Familie, sogar mit sich selbst nicht mehr zurechtfindet. Eine tiefgreifende Entfremdung, sowohl individuell als auch kollektiv. Es gibt darüber einige Studien, die das auch mit dem Faschismus vergleichen, wie entfremdend und wie zerstörerisch – psychologisch, geistig – sich solch eine Diktatur auf die Menschen auswirken kann. So würde ich diesen Zustand damals beschreiben – Höhepunkt war eben die erste Hälfte der 90er Jahre, später ist es nur graduell schwächer geworden, aber die Substanz der Unterdrückung, der Diktatur, der Repression, ist doch als Begleiterscheinung für dieses Regime von Ben Ali geblieben. Vorher war das auch nicht ganz anders, bei Bourguiba von 1956 bis 1987, aber nicht in dieser Intensität und Stärke wie bei Ben Ali. Das Problem ist, dass die Pluralität, die Vielfalt, besonders auf politischer Ebene und im Sinne der Meinungsfreiheit, nicht erlaubt, nicht möglich, nicht praktizierbar war. Sowohl unter dem alten Regime von Bourguiba 30 Jahre lang, als auch unter der politischen Führung von Ben Ali.

Q History: Dass das Volk den Herrscher absetzt und zur Flucht treibt – wie ist das in die politische Kultur der Region einzuordnen? Ist das ein Ausnahmefall?

Jamel. Ben Abdeljelil: Die unmittelbaren Ursachen für die Demonstrationen, die letztlich zum Sturz des Herrschers, des Diktators geführt haben, sind eigentlich ordinäre Ursachen, die es immer wieder, sowohl in Tunesien als auch woanders, gegeben hat. Nämlich soziale Gerechtigkeit, soziale Unterdrückung, Arbeitslosigkeit – und nicht unbedingt spezifisch politische Ursachen oder Zielsetzungen, von denen die Bevölkerung sich jetzt ganz ideologisch vorstellt, sie als Maximen zu verwirklichen. Das war in Tunesien nicht der Fall. Es hat angefangen mit der Selbstverbrennung von einem jungen Tunesier, Akademiker, der Straßenverkäufer war und von den Behörden schikaniert und erniedrigt wurde. Und aus der Machtlosigkeit dagegen, gegen die Behörden, gegen das Regime, gegen die Autorität, hat er sich selbst angezündet und selbst verbrannt. Das war am 17. Dezember 2010. Darauf hat das Regime mit vollkommener Taubheit sozusagen geantwortet, und das Ganze einfach ignoriert. Ebenso wurden die Demonstrationen der Menschen völlig ignoriert, die zunächst soziale Dinge, Arbeitsplätze und soziale Gerechtigkeit verlangt haben – mehr nicht. Auf die zunehmenden Demonstrationen hat das Regime aber mit Gewalt geantwortet, und am 24. Dezember – einige haben hier und weltweit Weihnachten gefeiert, dort hat es weitere Demonstrationen gegeben – ist das erste Opfer gefallen, von Scharfschützen erschossen. Zu dieser Zeit war ich auch in Tunesien, und es gab nun eine entscheidende Wende: Es ging jetzt nicht mehr um Fragen der sozialen Gerechtigkeit, nicht mehr primär um Arbeitsplätze, sondern um die Absetzung des Regimes und der Person von Ben Ali als Mörder der eigenen Leute, der Zivilisten. Es war auch wieder ein Student, der am 24. erschossen wurde. Ein Kunststudent, der nichts anderes wollte, als sich solidarisch mit dem selbstverbrannten Jungen zu zeigen – und er wurde offen auf der Straße erschossen. Ab diesem Zeitpunkt, würde ich meinen, war die Wende. Ab da wurde Ben Ali, der Präsident, der Autokrat, von den Menschen offen als Mörder bezeichnet. Darauf hat das Regime noch aggressiver reagiert, und bereits am nächsten Tag fielen weitere Opfer, die offen auf der Straße von den Scharfschützen des Regimes erschossen wurden. Es kam in den nächsten Tagen bis zu 60 Opfern, und bis zum Sturz des Regimes wurden 100 Opfer von Amnesty International gezählt und von der UNO bestätigt.

Q History: Ist das nicht eine ziemlich außergewöhnliche Entwicklung? Wie beurteilen Sie das, was da passiert ist, in einem größeren zeitlichen Rahmen?

Jamel. Ben Abdeljelil: Dass es von der Bevölkerung aus Protesten gegen eine falsche Wirtschaftspolitik des Regimes und des Herrschers zum Sturz des Regimes kommt, ist eine qualitative Entwicklung in diesem Prozess. Meistens in der Geschichte Tunesiens, aber auch in den umliegenden Ländern, ist es bei der ersten Phase geblieben. Diese qualitative Wende zum Sturz des Regimes gab es nicht, dass die Menschen, obwohl es jeden Tag Opfer gab, sich nicht mehr scheuten und keine Angst mehr vor dem Tod hatten – jeder, der auf eine Demonstration ging, konnte sich nicht mehr sicher sein, ob er an dem Tag weiterleben würde oder nicht. Aber die Angst war eben nicht mehr da. Diese qualitative Wende ist, so meine ich, in diesem arabisch-islamischen Kontext einmalig. Dass ein solcher Prozess von der Bevölkerung ohne hierarchische Führung eingeleitet wird. Es gab keine charismatische Persönlichkeit, es gab auch keine politischen Strukturen, die diese Demonstrationen organisiert haben. Das war alles von der Bevölkerung selbstorganisiert, und auch das ist etwas Neues. Ich würde sogar meinen, dass die politische Elite, und alle damit zusammenhängenden Strukturen – Parteien und so weiter, sowohl im Regime als auch in der Opposition –, von diesen völlig unerwarteten Entwicklungen überrascht waren. Das ist auch ein weiteres Zeichen für die Entfremdung zwischen der Elite und der Bevölkerung, der Realität. Der Puls ist nicht mehr derselbe bei der Bevölkerung und bei der Elite, die eigentlich stellvertretend für die Bevölkerung da sein sollte. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen, die in Tunesien stattgefunden haben und noch immer als Prozess stattfinden, das was nach dem Sturz des Diktators kommt, werden mittelfristig und langfristig sicher feststellbar sein, auch wenn sie kurzfristig nicht so deutlich in den umliegenden arabisch-islamischen Ländern zu finden sind. Direkte Auswirkungen sind bei ähnlichen nachahmenden Reaktionen in Mauretanien, in Ägypten, mehr oder weniger auch in anderen Ländern zu finden. Aber ich denke, wenn das tunesische Modell, sowohl im Sturz des Diktators als auch im Aufbau einer alternativen Regierung, Erfolg hat, dann wird das unausweichlich übertragbar auf die umliegenden islamischen Länder und Gesellschaften sein.

Q History: Hoffen wir mal, dass es soweit kommt, und dass ein solches tunesisches Modell sich auch entwickelt…

Jamel. Ben Abdeljelil: Sie müssen dabei bedenken, dass eine jahrzehntelange Diktatur, die das Gesamte geprägt hat, nicht leicht aus den Köpfen, aus dem Alltag, aus dem Staatsapparat abzuschaffen ist. Das ist ein langwieriger Prozess, der auch Geduld und strategische Weitsicht braucht. Darüber hinaus muss auch eine neue Kultur gegründet werden. Zwar nicht ganz ex nihilo, aber immerhin haben wir in dieser Region nicht viele Möglichkeiten, worauf wir zurückgreifen könnten. Es gibt einige Ansätze für eine Demokratisierung und eine liberale Gesellschaft, die für ein solches Modell zu nutzen sind, aber die Hegemonie des restriktiven Traditionalismus ist gegenwärtig präsenter und spürbarer als die Ansätze für eine offene, liberale Gesellschaft. Da liegt eine weitere Herausforderung, auf der kulturellen, geistigen Ebene, die noch zu überwinden ist. Für Tunesien muss ein authentisches Modell gefunden werden – es hilft ja nicht weiter, nachahmend jetzt ein französisches, deutsches, britisches oder amerikanisches Modell in Tunesien sozusagen aufzuzwingen. Im Gegensatz, das führt nur zu Enttäuschung und zum Desaster. Das Modell muss aus den inneren Strukturen und Verhältnissen entstehen und sich darauf stützen. Das ist ganz klar eine Herausforderung für das kleine Land Tunesien, aber auch für die gesamte arabisch-islamische Region. Es muss ein Modell der Kohärenz werden, der Versöhnung zwischen der eigenen Identität und der islamischen Identität, zwischen der eigenen Kultur und der islamischen Kultur, mit der eigenen Geschichte und so weiter, und schließlich mit der Moderne. Diese Herausforderung zu bewältigen, ist meiner Meinung nach ein strategischer Prozess.

Q History: Es gibt ja in vielen Ländern der islamischen Welt, die weltliche Regierungen haben – Pseudodemokratien, wenn man so will –, zwei Arten von Opposition. Zum einen die liberalen, oft laizistischen Oppositionsparteien oder –gruppierungen, und zum anderen die islamistischen Organisationen. Letztere übernehmen in einigen Ländern sogar Aufgaben im sozialen Bereich, zu denen die eigentlichen Regierungen nicht fähig sind. Welche Rolle werden Organisationen wie die Muslimbrüder in der Zukunft spielen? Aus der westlichen Perspektive sind solche Fragen ja immer noch hochbrisant…

Jamel. Ben Abdeljelil: Erlauben Sie mir, bevor ich auf die zuletzt gestellte Frage antworte – ich komme noch darauf zurück –, auf Ihre ersten Erläuterungen über die islamische Welt, die islamischen Länder, einzugehen. Ich bin der Meinung, dass diese islamische Welt mit den verschiedenen islamischen Ländern eine Heterogenität besitzt, und nicht homogen verstanden, betrachtet oder wahrgenommen werden darf. Das ist alles sehr vielfältig, sehr unterschiedlich, von Senegal bis Indonesien und Malaysia kann man manchmal kaum einen gemeinsamen Nenner finden, sodass diese Region homogen dargestellt werden könnte. Also da gibt es eine Vielfalt, eine große Breite der Heterogenität, die wahrzunehmen ist und eine Pauschalisierung verhindert bzw. nicht erlaubt. Und da gibt es einige Beispiele, die der Regel widersprechen. In Afrika zum Beispiel der Senegal, der von der Bevölkerung her mehrheitlich islamisch geprägt ist, in der Führung aber nicht selten auch christliche Präsidenten hat. Das gab es schon in der Gründungsphase, aber auch später noch. Das ist wiederum eine Ausnahme bzw. eine andere Regel, die eine allzu homogene Wahrnehmung der islamischen Welt etwas korrigieren kann. Andere Länder, sowohl in Afrika als auch Indonesien oder Malaysia, nehmen wieder andere Entwicklungen. Es ist ja allgemein wahr, dass Demokratieprozesse in all diesen Ländern auf die Kolonialgeschichte zurückzuführen sind, die dort bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts real und prägend war. Viele dieser Staaten sind ja das Ergebnis von Kolonialherrschaften und –strukturen, und die Grenzen zwischen diesen Ländern sind eigentlich ganz neu. Zum Beispiel in Pakistan, im Nahen Osten oder in Nordafrika. Also, da gibt es eindeutig Grenzen, Spannungen, Konstrukte, die zumindest zum Teil in ihrer Entstehung auf die Kolonialgeschichte zurückzuführen sind. Das ist aber noch nicht ausreichend für die Erklärung des Fehlens von Demokratieprozessen, und da bilden diese Länder auch keine Ausnahme. Wir dürfen ja nicht ganz vergessen, dass es auch in Europa bis in die 80er Jahre, und in der heutigen EU, in Griechenland, Portugal, Spanien keine Demokratie gegeben hat, sondern totalitäre Herrschaften, die dort geherrscht haben. Und die Demokratisierungsprozesse in diesen Ländern sind auf die vom Westen ausgehende Integration, wirtschaftlich wie politisch, zurückzuführen. Solche Prozesse sind, wie ich meine, entscheidend. Und auch für die anderen umliegenden arabisch-islamisch geprägten Länder spielen sie gewiss eine Rolle.

Q History: Da sprechen Sie sicherlich einen wichtigen Punkt an. Die zwischenstaatlichen Beziehungen spielen in dieser Hinsicht eine ganz entscheidende Rolle.

Jamel. Ben Abdeljelil: Nun, das ist das Eine. Das Andere ist: Das Problem mit den totalitären Regimen in diesen Ländern ist nicht an sich, dass sie religiös oder laizistisch sind, sondern dass sie totalitär sind. Problematisch sind die Strukturen des Despotismus. Die können alles instrumentalisieren, um ihre Machtherrschaft zu rechtfertigen. Manchmal sind sie religiös, und manchmal sind sie Vorreiter des Laizismus – beides ist meiner Meinung nach falsch, und beides ist nicht zu glauben. Denn bei diesen Dingen geht es um die Beibehaltung der Macht, nicht weniger. Also, wir sollten uns nicht täuschen lassen durch die plakativen Täuschungsmanöver dieser Regime, wenn sie sich jetzt als Schutz gegen einen Tsunami von Islamismus oder religiösem Fanatismus präsentieren. Ich bin eher der Meinung, dass diese totalitären Regime den Nährboden für die Entstehung von solchen gesellschaftlichen Mutationen wie dem religiösen Fanatismus und Ähnlichem darstellen. Sie sind die Voraussetzung für die Entwicklung von solchen abwegigen Entwicklungen in diesen Gesellschaften, und nicht die Garantie dagegen. Die einzige Garantie, die ich mittelfristig wie langfristig sehe, ist die Demokratisierung, die Bewahrung der Menschenrechte, die Bewahrung der Menschenwürde in diesen Ländern als Schutz gegen fanatische Entwicklungen, seien sie nationalistisch, politisch motiviert oder religiös. In Tunesien sollte es, so meine ich, keine Ausgrenzung gegen irgendeine Form von politischer Tendenz geben. Alle, auch die islamistischen Parteien, sollten im Rahmen eines demokratischen Wettbewerbs die Möglichkeit haben, sich vorzustellen – und die Entscheidung bleibt der Bevölkerung. Ich glaube, es wäre unberechtigt, jetzt die Islamisten völlig auszuschließen, als deren Feind sich das Regime von Ben Ali jahrzehntelang dargestellt hat, um die westliche Sympathie und politische Unterstützung zu bekommen. Das ist der falsche Weg, und das wäre eine irreführende Entscheidung. Auch meiner Einschätzung nach – ich würde nicht wagen, eine ganze Prognose zu geben, aber meiner Wahrnehmung nach sind zwar die Islamisten Teil des gesellschaftlichen und politischen Lebens, und der politischen Landschaft Tunesiens, aber sie können keinen hegemonialen Anspruch erheben. Sie sind nur ein Teil unter vielen anderen, die das Recht haben, zu existieren, aber sie werden unter diesen Umständen keine Mehrheit haben. Sie werden eine Partei unter vielen sein, und den richtigen Weg sehe ich darin, die Islamisten in diesen Demokratieprozess zu integrieren. Würden sie ausgegrenzt, würde man sie zu noch radikaleren Positionen zwingen – das wäre die falsche Entscheidung, das wäre der falsche Weg.

Q History: Gerade Ben Ali hat sich ja mit der Bekämpfung des Islamismus einen Namen gemacht, und konnte damit offenbar auch bei westlichen Regierungen punkten…

Jamel. Ben Abdeljelil: Ja, und genau damit hat er eben den Nährboden für den religiösen Fanatismus geliefert, konnte ihn aber nicht von seinen Strukturen her abschaffen. Polizeimacht, Polizeistaat kann solche Phänomene nicht abschaffen, sondern nur auf Zeit verdrängen und unsichtbar machen. Aber ein solcher Verdrängungsprozess löst das Problem nicht, sondern er verschiebt es, bis es vielleicht noch gefährlicher wird und gefährlichere Formen annehmen kann.

Q History: Kommen wir noch einmal zu den konkreten islamistischen Organisationen zurück. Viele westliche Politiker, vor allem in den USA, betrachten die aktuellen Entwicklungen in Nordafrika eher mit Beunruhigung. Manche sprechen sogar offen über die angeblich drohende Gefahr des Islamismus in diesen Ländern. Denn auch wenn es im Moment überhaupt keinen Grund zu der Annahme gibt, dass in Tunesien oder Ägypten etwas Ähnliches geschieht wie vor 30 Jahren im Iran, so drängt sich doch die Frage auf, was Parteien wie etwa die Muslimbrüder jetzt machen werden.

Jamel. Ben Abdeljelil: Ich gebe Ihnen mal was zum Nachdenken. Ganz provokativ gesagt: Es gibt eine unausgesprochene Allianz zwischen den totalitären Regimen in arabischen Ländern und den westlichen Positionen, die Sie nannten. Diese ernähren und vermarkten sich gegenseitig. Das ist meiner Meinung nach selbsttäuschend und sehr oberflächlich. Ich bleibe mal bei dem tunesischen Fall: das islamistische Phänomen ist Mitte der 70er Jahre entstanden, war Anfang der 80er Jahre politisch präsent, und kam Mitte der 80er Jahre dann in eine Konfrontation mit dem Regime von Bourguiba. Auf der Beseitigung dieser islamistischen Gefahr hat sich das neue Regime von Ben Ali begründet, mit dem Legitimationsanspruch, die islamistische Gefahr zu verbannen, und Tunesien und andere Länder davor zu schützen. Das ist nicht immer glaubhaft. Die islamistische Bewegung hat sich in den 60er und 70er Jahren durch die besondere Politik Bourguibas in Fragen der nationalen Identität, in Fragen religiöser Natur usw., also aus diesem Zusammenhang entwickelt; aber das geht teilweise auch noch weiter in die Geschichte zurück, in die Zeit der Entkolonialisierung mit der Präsenz der ez-Zitouna Universität als Trägerin der kulturellen Identität in der Zeit des Kolonialismus, die nun von der neuen Republik zerschlagen wurde und nicht mehr die zentrale Bedeutung hatte wie vorher. Viele solcher Gründe, auch gesellschaftliche und ökonomische Spannungen, nicht zu vergessen die Präsenz der Linken bei den politischen und intellektuellen Eliten in Tunesien in den 60er und 70er Jahren – alle diese Zusammenhänge, sowie die laizistische Neigung des Regimes von Bourguiba, haben zu dieser Reaktion geführt. Das war eine Art Selbstabwehr, es entstand eine Art konstruierter Identität als Gegenpol zu diesem von Bourguiba suggerierten anderen Modell von Identität.

Q History: Hat diese Bewegung sich denn mit der Zeit weiterentwickelt, oder muss man sie eher als etwas Statisches betrachten?

Jamel. Ben Abdeljelil: Zunächst hatte sie nur kulturell, gesellschaftlich und karitativ sozusagen bewahrende Ansprüche, mehr nicht. Diese konnte das Regime auch zum Teil einsetzen, nämlich gegen die Verbreitung der Linken in Universitäten und Gewerkschaften damals. Aber dann hat sich die islamistische Bewegung weiterentwickelt und auch politische Ambitionen geäußert. Das heißt, diese islamistische Bewegung hat einen Prozess durchgemacht. Und sie hat eine Dynamik in sich, die eine statische Wahrnehmung dieses Phänomens, ebenso wie eine homogene Darstellung, verhindert. Ich bin der Meinung, dass diese islamistische Bewegung die letzten zwei Jahrzehnte zum Teil auch im Exil stattgefunden hat, und dass die Erfahrung des Exils auch prägend war. Und zwar nicht nur ideologisch, sondern auch realpolitisch. Denn die meisten Islamisten haben im Westen gelebt. In Großbritannien, in Frankreich oder Deutschland – jedenfalls im Westen. Dies ist nicht ohne Einfluss auf die Bewegung geblieben, und ich würde ein Modell wie das der AKP in der Türkei in Tunesien nicht ausschließen. Ich sehe nichts, was daran falsch sein könnte, und womit man vielleicht Angst machen könnte – das sehe ich nicht ein. Im Gegensatz denke ich, dass die Integration dieses Bestandteils des politischen Lebens in Tunesien die naheliegende Alternative ist, wenn man das Leben und die Entwicklungen dort konstruktiv gestalten will.

Q History: In der Vergangeheit wie in der Gegenwart gestalten sich Unterfangen wie Demokratisierung oder Nation-Building nicht zuletzt dadurch sehr schwierig, dass es in den betroffenen Ländern gewachsene Korruptions- und Clanstrukturen gibt. Diese versuchen dann recht schnell, jede Form politischer Gewalt an sich zu reißen - wie beurteilen Sie dies im Falle Tunesiens? Ist das dort ein ernsthaftes Problem, und wie sollte man damit umgehen?

Jamel. Ben Abdeljelil: Mit dem Sturz dieses Regimes wurden diese Korruptionsstrukturen größtenteils auch zerschlagen bzw. gestürzt. Denn der Clan des gestürzten Präsidenten Ben Ali hat – nach Angaben, die natürlich vorsichtig zu betrachten sind – 40% des BMP sozusagen kontrolliert, in der Hand gehabt. Eben durch diese Korruptionsstrukturen. Diese Korruptionsgrundlage wird jetzt, so hoffe ich, demnächst gänzlich abgeschafft. Es ist natürlich eine ständige Gefahr, in die Korruption zu rutschen. Davon sind viele Länder, auch im Westen, nicht verschont geblieben; etwa wenn wir uns jüngste Beispiele aus der EU – Griechenland und andere – näher anschauen wollen. Das heißt, die Korruptionsgefahr als strukturelle Gefahr für die Demokratie ist ein ernstzunehmendes Moment, eine ernstzunehmende Gefahr. Es gibt keine Garantie dagegen, außer dass die zivilgesellschaftlichen, staatlichen und internationalen Strukturen – ich denke hier an das Partnerschaftsabkommen zwischen Tunesien und der EU, entsprechend dem die EU dann Entwicklungshilfe und sonstige Kooperation, auch in Form von Geld einfließen lässt – auch transparent und überprüfbar sein müssen. Es gibt eben von vornherein keine Garantie, nur die ständige Wachsamkeit und Kontrolle. Das ist die einzige Möglichkeit. Ich würde auch meinen, dass die Demokratie – die im Moment in Tunesien in einem embryonalen Status ist – neu geboren wird, und durch die weltweite Unterstützung konsolidiert wird. Nicht nur von den Staaten im Westen, die sich in der jüngeren Geschichte anders verhalten und nur Despoten und totalitäre Regime unterstützt haben. Ich hoffe, dass sich die Regierenden im Westen durch dieses Modell, durch diese neuen Entwicklungen in Tunesien von dieser falschen Politik abwenden werden, und eher Demokratieprozesse und die Bevölkerung mit ihren Wünschen und Erwartungen unterstützen. Anstelle von Korruptionsstrukturen und totalitären Ambitionen der Herrschenden in diesen Ländern. Ich wiederhole es noch einmal: Wenn das Modell für Demokratie in Tunesien Erfolg hat, ist das, ganz prophezeiend, die beste Rezeptur für die gesamte arabisch-islamische Region. Ich denke, dass sich der Erfolg dort auch übertragen und behaupten kann.

Q History:Herr Ben Abdeljelil, wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte Henrik Kipshagen von Radio Q.

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen