18.01.2011

Die Große Hoffnung

Warum wir die historischen Ereignisse in Tunesien nicht kleinreden dürfen

 Von Marco Schöller

Am Montagabend wurde in Tunesien die neue Übergangsregierung vorgestellt, doch weil an ihr fünf Mitglieder der alten Regierungspartei beteiligt sind, hat man die neue Regierung, im Ausland wie in Tunesien, nur mit Zurückhaltung oder Skepsis be­grüßt. Nun sind weniger als 24 Stunden später vier Minister aus Protest gegen die Beteiligung der alten Regierungspartei bereits wieder zurückgetreten, und in Tunesien demonstriert man am Abend gegen die verbliebenen Minister; viele fordern nichts weniger als die Auflösung der alten Regierungspartei. Kaum im Amt, wackelt die neue Regierung und manches deutet daraufhin, daß sie die nächsten Tage nicht in der jetzigen Form überleben wird.


Die Situation in Tunesien ist immer noch instabil, der Ausgang der tunesischen Revolution immer noch ungewiß. Große Teile des alten Sicherheitsapparates scheinen immer noch intakt und erschweren die Rückkehr zu geordneten Verhältnisse. Dennoch erinnert die Konstellation in Tunesien an die Ereignisse im Herbst-Winter 1989, als in der DDR ein letzter Versuch der bis dahin herrschenden Regierungspartei unternommen wurde, mit neuen alten Gesichtern den Lauf der Dinge fürs erste unter Kontrolle zu bringen. Der Ausgang dieses Versuchs ist bekannt. Ist es also gerechtfertigt, die Entwicklung in Tunesien nun mit weniger Optimismus als noch vor wenigen Tagen zu betrachten?

Viele westliche Beobachter gefallen sich im Moment darin, die Tragweite der Ereignisse und ihre möglichen Folgen kleinzureden. Manche verweisen darauf, daß wir postmodernen Europäer ein »romantisches Verhältnis« zu Revolutionen haben und dazu neigen, diese ungeachtet ihrer Auswirkungen oder ihrer Bedeutung zu glorifizieren. Impliziert wird dabei auch, daß wir uns bei der Berichterstattung und Bewertung solcher Ereignisse dazu verleiten lassen, die tatsächlichen Verhältnisse im Sinn eines Wunschdenkens umzudeuten. Anders gesagt: Wir begleiten die Entwicklungen in Tunesien nicht mit soviel wohlwollender Aufmerksamkeit, weil es die Realität rechtfertigt, sondern weil wir uns einen günstigen Ausgang erhoffen. Das ist nicht ganz unrichtig, und ich teile diese Einschätzung im Prinzip. Aber ich teile nicht die Ansicht, das sei unredlich oder verwerflich. Ganz im Gegenteil: Revolutionen haben uns Europäer frei gemacht, und wir haben alles Recht der Welt zu wünschen, daß anderen Völkern das auch gelingt. Und ja, ich wünsche es. Ich hoffe, daß sich die Tunesier nicht um die Früchte ihrer Revolution bringen lassen, und ich wünsche, daß es endlich ein freies, rechtsstaatliches und demokratisches arabisches Land gibt, von dem in Zukunft wichtige Impulse ausgehen können.

Ganz übel ist es, daß im Moment – besonders in einigen rechten Medien der U.S.A. – vermehrt Stimmen laut werden, die den Ereignissen in Tunesien überhaupt jede politische Motivation absprechen und die Revolution als Hungeraufstand oder einzig als Revolte frustrierter Jugendlicher abtun. »Tunesiens Jasmin-Revolution hat nicht mit Demokratie, sondern mit Demographie zu tun (Tunisia's Jasmine-Revolution is about Demography, not democracy)« schreibt Anne Applebaum unter Slate.com am 17. Januar. Gewalttätige Aufstände und der Sturz eines Diktators seien nicht der beste Weg, demokratische Verhältnisse zu begründen. Das sei 1979 im Iran gescheitert, wo bald wieder ein neues autoritäres, ja extremistisches Regime installiert wurde, und das sei gescheitert auf dem Platz des Himmlischen Friedens und, in jüngster Zeit, in der Ukraine. Soweit Applebaum. Aber keines dieser vermeintlichen Gegen­beispiele ist ja mit der Situation in Tunesien vergleichbar: Die iranische Revolution war von Anfang vom schiitisch-islamischen Klerus mitgestaltet (wenn auch zu Anfang nicht von ihm dominiert), und allein die Tatsache, daß es einen organisierten Klerus gab, der sich dann die Revolution zunutzemachen konnte, ist ein spezifisch schiitisches Phänomen und hat mit den Verhältnissen in der sunnitischen Welt, geschweige denn mit denen in Tunesien, nichts zu tun. Der Studentenaufstand in China war zu keiner Zeit ein Volksaufstand, und die Entwicklungen in der Ukraine sind aus den spezifischen Bedingungen eines postsowjetischen Staates und der Einmischung Rußlands zu erklären – und nichts davon trifft auf die Verhältnisse in Tunesien zu.

Zu Wort gemeldet hat sich auch – in einem Artikel in The New Republic  bzw. unter tnr.com vom 18. Januar – Josef Joffe. Der bekanntermaßen streitbare und transatlantisch unterwürfig-loyale Befürworter aller militärischen und völkerrechtswidrigen Einsätze der »westlichen Wertegemeinschaft« in den letzten zwei Jahrzehnten, die offiziell dazu dienen sollten, die politischen Verhältnisse in arabischen Ländern – v.a. im Irak – zu ändern, hält nun die Entwicklung in Tunesien für nicht richtungsweisend für die Zukunft der arabischen Welt: Why Tunisia isn't a tipping point for the Arab World. Tunesien sei ein isoliertes Phänomen, daß keine Auswirkungen auf den Lauf der Dinge in den anderen arabischen Staaten habe werde, sagt Joffe voraus. Auch er verweist – wie Applebaum – auf die Entwicklung der iranischen Revolution, die ja zu nichts Gutem geführt habe. Daß dieses Argument im Fall Tunesiens nicht taugt, kann ich hier nur wiederholen. Die iranische Revolution ist mit der Konstellation in Tunesien ebensowenig vergleichbar wie die Intifada im Palästina der 1990er Jahre.

Warum diese kritischen Stimmen, die vor allem aus dem amerikanischen Dunstkreis und von allen, die sich darin heimisch fühlen, kommen? Ich habe den Verdacht, die revolutionären Ereignisse in Tunesien werden in diesem Dunstkreis so negativ aufgenommen, weil sie so deutlich und mehr als alles andere das schmähliche Scheitern der bisherigen U.S.-amerikanischen (und in deren Schlepptau auch westeuropäischen) Politik zeigen, Demokratie mit Waffengewalt in islamische Länder zu importieren. Es ist den genannten Autoren offenbar unerträglich, daß ein Volk in einem arabischen Land das in die Hand genommen hat, was sich mit dem milliardenteuren Einsatz westlicher Armeen bisher nicht bewerkstelligen ließ. Trotz aller Unwägbarkeiten, die es immer noch gibt, ist hier ein Land auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen, ohne daß sich das westliche Regierungen und Schreibtischstrategen auf die Fahnen schreiben können. Die Revolution in Tunesien stellt das klägliche Vorgehen des Westens im Iraq und in Afghanistan nun in ein noch schlechteres Licht, als das ohnehin bereits der Fall war. Aber es ist bedauernswert, daß die Befürworter dieses Vorgehens nun das nicht eingestehen, sondern den politischen Kampf in Tunesien kleinreden oder nur unter negativen Vorzeichen zu beurteilen in der Lage sind. Wäre es jetzt nicht notwendig, daß jeder, der den westlichen Freiheitstraum verteidigt, aufsteht und ausruft: »Ich bin ein Tunesier!«? Stattdessen schmollen die rechten Freiheitsideologen, weil es ein Volk gewagt hat, ohne ihr Zutun die Sache der Freiheit zu verfechten. Es ist eine Schande.

Aber sie sollen nicht das letzte Wort haben. Denn was haben die Tunesier nicht schon alles erreicht? Man wird das am ehesten beurteilen können, wenn wir einen Blick auf die algerischen Verhältnisse werfen. Der algerische Dissident Boualem Sansal hat, in seiner Verzweiflung über die politische Lage, im Jahr 2006 einen offenen »Wut- und Hoffnungsbrief an meine Landsleute« (Lettre de colère et d'espoir à mes compatriotes) veröffentlicht (Paris: Gallimard 2006 unter dem Titel Poste restante: Alger). Dort macht er seinem Zorn und seinem Frust über die Verhältnisse in Algerien Luft und ruft seine Landsleute dazu auf, die Dinge nun endlich in die Hand zu nehmen. Sansal schreibt am Beginn seines »Briefes« unter der Überschrift »Der Preis der Schweigens«:
»Im Grunde haben wir niemals die Gelegenheit gehabt uns zu unterhalten, ich meine: so ganz unter uns, wir Algerier, frei, ernsthaft, methodisch, ohne a priori, von Angesicht zu Angesicht, um einen Tisch sitzend, bei einem Glas. Wir hätten uns soviel zu sagen, über unser Land, über dessen gefälschte Geschichte, über dessen zerstückelte und verheerende Gegenwart, über die Hypotheken, die auf seiner Zukunft lasten, über uns selbst, gefangen in den Netzen der Diktatur und dem ideologischen und religiösen Dauerbeschuß, desillusioniert bis zum Überdruß, über unsere Kinder, die unter einem solchen Regime in erster Linie bedroht sind.
Das ist wirklich traurig. Und so bedauerlich es ist: Es läßt sich nicht mehr rückgängig machen. Ein ganzes Leben ist vorbei, vielleicht zwei, ganz sicher noch mehr, und immer noch schweigen wir uns an, jeder in seiner Ecke.«
Die Tunesier, noch vor Monaten in derselben Situation, haben jetzt, wie zu hoffen steht und tatsächlich ja schon begonnen hat, die Chance, dieses Schweigen zu brechen. Es braucht Freiheit, um gemeinsam über das eigene Schicksal zu reden, ja um dieses überhaupt erst zur Sprache zu bringen und zum Thema zu machen. Und das Sprechen über das eigene Land, die eigene Geschichte, die eigene Zukunft schafft Freiheit. Das ist nichts Geringes, und in der politischen Geschichte der arabischen Welt seit Jahrzehnten ohne Gegenstück.

Nichts wäre also falscher, als jetzt einen – wenn auch vorsichtigen – Optimismus hinsichtlich der kommenden Entwicklung zu verlieren. Die Chance, die sich in Tunesien der arabischen Welt bietet, ist immer noch vorhanden – und historisch viel zu bedeutsam, um sie unterschätzen zu dürfen. Fakt ist, daß es sich bei der Revolution in Tunesien um ein historisches Geschehen ersten Ranges handelt, für das es in der politischen Geschichte der letzten Jahrzehnte in der arabischen Welt keinen Präzedenzfall gibt. Schon allein das, was bis jetzt vom tunesischen Volk erreicht wurde, genügt, um kommende Entwicklungen in der arabischen Welt entscheidend zu beeinflussen. Das »tunesische Beispiel« ist nicht mehr rückgängig zu machen. Es ist auch relativ unwichtig, ob dieses Beispiel schon kurzfristig Rückwirkungen auf die Verhältnisse in anderen arabischen Staaten – namentlich in Ägypten, dessen innenpolitische Lage zur Zeit besonders gespannt ist – haben wird. Langfristige Wirkungen wird es in jedem Fall haben.

Seit 1967, als die arabische Welt nach der Demütigung im 6-Tage-Krieg in eine Art Schockstarre verfiel, die nicht nur die Festigung der autokratischen Regime in den 1970er Jahren förderte, sondern auch der Ausbreitung eines gewaltbereiten Islamismus den Boden bereitete, gab es kein gleichermaßen bedeutendes Ereignis in der arabischen Welt. Es ist ein Ereignis, das jeden Superlativ rechtfertigt, weil es die politische Selbstwahrnehmung der Bevölkerung in der arabischen Welt von Grund auf ändert und auch denen, die bisher angesichts der Machtstrukturen in ihrem jeweiligen Land an der Erfolglosigkeit jeder oppositionellen Tätigkeit verzweifelten, Hoffnung gibt. Die Revolution in Tunesien ist eine Stunde Null für die arabische Welt. Und es ist die Große Hoffnung, die wir für die arabische Welt haben müssen. Es ist so verantwortungslos wie zynisch, diese Hoffnung kleinzureden.

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