25.01.2011

Gibt uns Tunesien Europa zurück?

Warum uns die tunesische Revolution zwingt, neu darüber nachzudenken, was Europa bedeutet

Von Marco Schöller

Von vielen Menschen wird »Europa« als ein Begriff wahrgenommen, der vor allem eines besagt: Ausschluß. Es sind diejenigen, die aufgrund historischer, wirtschaftlicher oder auch geographischer Argumente an Europa nicht teilhaben dürfen und denen es – wie im Fall der afrikanischen Bootsflüchtlinge – verwehrt wird, sich in Europa für längere Zeit aufzuhalten. Wir haben also mehrere Ebenen: die politische, auf der sich zunächst alle Debatten über die EU-Erweiterung im Osten Europas oder auch den EU-Beitritt der Türkei bewegen. Und die gesellschaftliche bzw. sozioökonomische Debatte, die innerhalb der EU-Staaten darüber geführt wird, wieviel Zuwanderung – und aus welchen Ländern und mit welcher Qualifikation! – Europa verträgt. Die erste Debatte kann dabei leicht, wie im Fall der Türkei, dazu instrumentalisiert werden, um darüber zu streiten, inwiefern sich Europa als vermeintlich kulturelle »gewachsene«, christlich-jüdisch geprägte Großregion gegenüber »fremden« Kulturen positionieren kann oder soll. Die zweite Debatte, die den Maximen eines mehr oder weniger menschenverachtenden sozioökonomischen Effizienzwahns verpflichtet ist, ist erst jüngst in diese Richtung hin instrumentalisiert worden, speziell im Kielwasser der Sarrazin-Diskussion, deren Urheber zufolge indische Computerspezialisten wünschenswert, anatolische Sozialstaatsschmarotzer dagegen nicht wünschenswert sind – wenn es nur so einfach wäre!


Europa erscheint in diesen Debatten als ein politisches und/oder wirtschaftliches Konstrukt, was bereits daran sichtbar wird, daß wir dazu tendieren, in diesen Debatten nicht von »Europa«, sondern von »EU« zu sprechen. Dieses Konstrukt bezieht seine Identität mehr und mehr durch Abgrenzung. Hinzu kommen, seit langer Zeit, auch strategische Interessen, die den politischen Konstellationen nicht selten widersprechen: Seit vielen Jahrzehnten ist die Türkei ein wichtiger NATO-Staat, der den westlichen Staaten (einschließlich der U.S.A.) einen militärischen Fuß in der Tür des instabilen Nahen Ostens ermöglicht. Zugleich aber wehren sich eben die Parteien in Europa, welche die NATO-Politik am heftigsten verteidigen, gegen eine Einbindung der Türkei in den europäischen Verbund. Wirtschaftliche Sonderabkommen gebe es ja schon, rechtfertigt man sich, und alles darüber hinaus gehe dann doch zu weit.

Vielen Europäern ist diese Verengung des »europäischen Gedankens« oder des »europäischen Projekts« seit langem ein Dorn im Auge, und mit gutem Recht. Es ist deshalb Navid Kermani zu danken, der heute abend in der Ringvorlesung des Exzellenz-Clusters der WWU Münster zum Thema Integration sprach, daß er einen Gutteil seiner Ausführungen dem »europäischen Projekt« widmete. Vor allem machte er darauf aufmerksam, was nicht oft genug geschehen kann, daß es sich bei diesem Projekt um ein Europa handle, das nicht geographisch, nicht politisch und nicht wirtschaftlich definiert sei, sondern geistig. Europa sei in erster Linie ein »geistiges Projekt«, übernational und überkonfessionell. Es ist eine geistige Heimat und eine supranationale »Identität«, die sich über Werte definiert, die nicht verhandelbar sind: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Meinungsfreiheit. Und – das ist der wichtigste Punkt, den Kermani mehrfach hervorgehoben hat –: Europa ist nicht eine geschlossene Identitätsgemeinschaft, die je nach Wohlwollen und Gutdünken entscheidet, wer ihr angehören darf und wer nicht. Im Gegenteil: Man wird Europäer, wenn man die nicht verhandelbaren europäischen Werte, die nichts mit Ethnie, Religions- und Staatsangehörigkeit zu tun haben, annimmt, verteidigt, als die eigenen anerkennt. Man schließt sich Europa an, wenn man grundlegende europäische Werte teilt. Man kann davon nicht ausgeschlossen werden.

Was geschieht zur Zeit in Tunesien? Wir erleben dort eine Revolution, die sich von Anfang an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit auf die Fahnen geschrieben hat. Und in den letzten Tagen gibt es vermehrt Stimmen unter den Demonstranten in Tunesien, die sich nicht nur auf diese Werte berufen, sondern auf Präzedenzfälle der europäischen Geschichte, insbesondere auf das symbolische Gründungsereignis der europäischen Moderne: den Sturm auf die Bastille. »Die Kasbah« – gemeint sind die alten und neuen Regierungsbauten am südlichen, etwas überhöht liegenden Rand der Altstadt von Tunis – »ist unsere Bastille« ist auf Transparenten zu lesen. Den 14. Januar – der Tag, an dem Ben-Ali aus Tunesien floh –, bringt man inzwischen allerorten mit dem 14. Juli, dem Tag des Sturms auf die Bastille im Jahr 1789, in Verbindung. Die zahlreichen expliziten und impliziten Verbindungen der Geschehnisse in Tunesien mit denen der französischen Revolution beschäftigt auch die französische Presse seit Tagen, besonders nachdem der Revolutionshistoriker Jean Tulard in Le Monde vom 18. Januar unter dem Titel »Das Jahr 1789 der tunesischen Revolution (L'an 1789 de la révolution tunisienne)« ein langes Interview gegeben hat. Zwar diskutiert man inzwischen – je nach Einschätzung, welchen Verlauf die Ereignisse in Tunesien noch nehmen werden –, ob 1789 oder nicht vielmehr die Julirevolution 1830 ein passenderer historischer Bezugspunkt seien. Aber es steht außer Frage, daß die Tunesier in ihrem Ringen um politische und gesellschaftliche Freiheit sich bewußt auf die historische Tradition Europas berufen, und in erster Linie auf die französische Revolution.

Das Erbe der französischen Revolution – die ja nur sehr langfristig zur Etablierung der europäischen Werte geführt, zunächst aber viel Blutvergießen, dann die Diktatur eines Größenwahnsinnigen und schließlich die Restauration absolutistischer Regime hervorgebracht hat – gehört unstreitig zum »geistigen Projekt« Europas. In diesem Sinn haben sich die Tunesier zu Europäern deklariert, ob wir es wollen oder nicht. Fatal ist, daß viele in Europa das nicht recht wahrhaben wollen: Die rechten, ausländerfeindlichen Parteien in Holland, Italien usw. nicht, weil ihnen mit der so ganz »unislamischen«, an europäischen Werten orientierten Revolution in Tunesien der Mythos von den fanatischen und antiwestlichen Arabern bzw. Muslimen unter der Hand zu zerbröckeln droht. Aber auch viele EU-Politiker, die zum Schein dem »europäischem Projekt« verschrieben sind, betrachten dieses ja tatsächlich nur als politischen oder wirtschaftlichen Schutzschild, der die Wahrung eigener Interessen garantieren soll. Deshalb machte es ihnen auch keine Mühe, mit dem vormaligen Autokraten in Tunesien zu kooperieren, wenn sich dadurch das exklusive Europa-Projekt nach außen abschotten ließ, Stichwort: Flüchtlingsproblematik. Als nun die Tunesier begannen, Werte des »geistigen Europas« einzufordern, sahen das viele EU-Politiker, bis in die höchsten Regierungsämter, skeptisch und fanden nur sehr zögerlich Worte der Solidarität oder Unterstützung. Vielmehr dachten sie wohl daran, welche praktischen Nachteile ein Umsturz in Tunesien haben könnte, wenn sich die Bevökerung die Freiheiten erstreitet, die Europa längst hat. Und nicht wenige werden auch an die anderen arabischen Staaten gedacht haben, die durch die tunesische Revolution nicht eben stabiler werden. Es werden doch bald nicht noch mehr Potentaten das Weite suchen müssen, deren Kooperation das »europäische Haus« bisher so lebenswert gemacht hat?

Aber die EU-Politiker sind keine Europäer. Wer sich – im oben ausgeführten Sinn – als »geistiger« Europäer fühlt, muß die tunesische Revolution begrüßen. Zum einen, weil sie schon aufgrund der Werte, die uns wichtig sind, die wir für unverzichtbar halten und unter deren Nutznießung wir leben dürfen, aus Prinzip verteidigt und begrüßt werden muß. Zum anderen aber, weil sie unsere Aufmerksamkeit wieder auf das Wesentliche lenkt: Europa ist zunächst ein »geistiges« Haus, das viele Kammern hat, und die Kammern müssen jedermann offenstehen, der die Hausordnung anerkennt, hochhält oder schützt. Es gibt keinen Hausverwalter, der sich die Bewohner zunächst ansieht, ob sie genug Talent und Geld mitbringen, um in dem Haus wohnen zu dürfen. Und es gibt auch keine randalierenden Nachbarn, die vom Hausverwalter geduldet werden, damit nicht jeden Tag neue Bewohner vor der Tür stehen.

Als aufrechter Europäer, der in Europa und den unverhandelbaren europäischen Werten seine »geistige Heimat« und das Fundament seiner politischen Überzeugungen hat, muß man mit der offiziellen Politik der EU alles andere als zufrieden sein. »Die europäische Politik ist desaströs« sagte Navid Kermani in der Diskussion nach seinem Vortrag, und er meinte damit eben die Abschottungs- und Realpolitik, die nicht selten die Werte verrät, zu deren Verteidigung sie gedacht ist. Ein Europäer in diesem »geistigen« Sinn muß die EU-Politik kritisieren, denn das gehört zu seiner europäischen Identität: Er ist keinem Staat und keiner Staatengemeinschaft verpflichtet, sondern einer Idee.

Nun muß ich am Ende noch etwas Wasser in den Wein schütten: Ist nicht, so ist angemerkt worden, die Überhöhung eines »geistigen Projekts Europas« nicht schon wieder ein eurozentrisches Denken, das in ganz subtiler Manier sich einer supranationalen, nicht religionsgebundenen und überhaupt kulturell nicht gebundenen Ideologie bedient, um damit vor dem Hintergrund der Globalisierung nur wieder die europäische Hegemonie zu sichern und alles Außereuropäische zu vereinnahmen? Und ist nicht im Fall Tunesiens, so ist aus Frankreich in diesen Tagen oft zu hören, jeder Hinweis auf europäische Werte neokolonialistisch und Zeichen eines immer noch vorhandenen Paternalismus? Man brauche doch den Kolonialisierten von einst heute keine Lehren erteilen?

Nein, möchte ich entgegnen, das »geistige Europa« steht allen offen und wird von niemandem dominiert. Es ist nicht in dem Sinn eurozentrisch, als es einer bestimmten Ethnie, Religion oder auch nur geographisch bestimmbaren Region Hegemonie sichern soll. Europa ist auch nicht christlich-jüdisch (oder keltisch-germanisch oder slavisch-avarisch usw. usw.), sondern es ist zunächst und vor allem frei – und in diesem Sinn universell. Und nein, die Idee Europas als geistiges Projekt ist nicht neokolonialistisch, vor allem dann nicht, wenn die Demonstranten in Tunesien selbst explizit auf die europäischen Werte verweisen und sich auf historische Präzedenzfälle der europäischen Tradition berufen. Überhaupt wird man, wenn man nach Frankreich blickt, feststellen, daß sich vor allem diejenigen Politiker nicht zu den Verhältnissen in Tunesien äußern wollen, um nicht als paternalistisch oder »neokolonial« dazustehen, die bis vor wenigen Tagen das Ben-Ali-Regime noch mehr oder weniger wortgewaltig unterstützt haben. Aber die Geschichte geht über sie hinweg. Ich wage sogar zu sagen, daß die heutige Generation in Tunesien zum ersten Mal die positiven Nachwirkungen der französischen Kolonialpolitik spürt: Nicht zufällig ist Tunesien durch die enge und langjährige Anbindung an die Diskussionen in Frankreich und die allgemein vorhandenen Sprachkenntnisse heute in der Lage, europäisch-universelle Werte sich zu eigen zu machen und zum eigenen Vorteil zu adaptieren. Davon ist man in vielen anderen arabischen Staaten, namentlich in Ägypten oder Syrien, noch weit entfernt, weshalb die dortige Entwicklung mit größerer Skepsis und vorsichtiger Zurückhaltung zu betrachten sein wird.

Die tunesische Revolution schenkt uns die große Chance, neu über die europäischen Werte nachzudenken, die unsere gewählten Vertreter – die EU-Politiker – nur zu leichtfertig mit Füßen treten, wenn es realpolitischen, wirtschaftlichen oder strategischen Interessen dient. Aber wie gesagt, wir sprechen von einem anderen Europa – und die Tunesier auch.

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