01.02.2011

Wenn die Sandale fliegt: Historisches zu einem »Gestus der Revolte« bei den Arabern

Von Marco Schöller

Daß das Ausziehen der Schuhe und ihr anschließender Wurf auf mißliebige Personen zu den Protestbräuchen in der arabischen Welt zählt, ist in der westlichen Welt bekannt, seit ein aufgebrachter irakischer Journalist während einer Pressekonferenz im Dezember 2008 seinen Schuh auszog, ihn in Richtung des U.S.-amerikanischen Präsidenten George W. Bush schleuderte und diesen nur knapp verfehlte. Bush duckte sich geistesgegenwärtig und konnte dem Geschoß ausweichen, aber das Video der Szene ist bis heute ein Klassiker auf YouTube. Und gestern, als am Tag des »Marsches der Million« die ägyptischen Demonstranten auf dem Tahrîr-Platz im Zentrum Kairos versammelt waren, gingen Bilder um die Welt, die zeigten, wie aufgebrachte Ägypter ihre Schuhe hochhielten ... und sie wohl auf den verhaßten Präsidenten Mubarak geworfen hätten, wenn er nur zur Stelle gewesen wäre.

Tatsächlich hat dieser Gestus des Widerstands und der Mißbilligung, der sich speziell gegen Herrschende und Autoritäten richtet, eine lange Geschichte in der arabischen Welt. Besonders interessant ist dabei, daß das erste Beispiel für einen Schuhwurf, das mir aus der historischen Überlieferung der Araber bekannt ist, aus dem frühislamischen Tunesien überliefert ist. Interessant auch, daß die geschichtliche Episode es uns erlaubt zu verstehen, was mit diesem Gestus eigentlich gemeint ist. Doch bevor wir das klären können, muß ich kurz etwas zur Geschichte Tunesiens in frühislamischer Zeit sagen.

Das heutige Tunesien umfaßt den größten Bereich der Region, die in frühislamischer Zeit (und bis ins 19. Jahrhundert hinein) »Ifrîqiyah« genannt wurde – abgeleitet vom Namen der antiken römischen Provinz Africa (proconsularis). Die arabische Eroberung von Ifrîqiyah – und des weiteren Maghrebs (heutiges Algerien und Marokko) – zog sich über viele Jahrzehnte hin. Von dem ersten bekannten Kriegszug in das Gebiet im Jahr 647/8 bis zur Ankunft des Gouverneurs Yazîd ibn Hâtim in Kairouan im Jahr 772 blieb die islamisch-arabische Herrschaft stets bedroht, in den ersten Jahrzehnten vor allem durch den Widerstand der Byzantiner, nach 740 durch unbotmäßige Berberstämme. Eine erste, langfristige Sicherung der islamisch-arabischen Herrschaft in Ifrîqiyah gelang in den Jahren 695–714, und 705 wurde Ifrîqiyah, das bis dahin der Kontrolle des Gouverneurs Ägyptens unterstand, vom umayyadischen Kalifen al-Walîd zu einem eigenständigen Gouvernement erklärt. Kurz danach erscheint dann der Name »Ifrîqiyah« auch auf arabischen Silbermünzen.

Doch auch in den ersten Jahrzehnten des 8. Jahrhunderts bleibt die Lage unsicher, und mehrere, namentlich nicht immer bekannte Heerführer machten sich in Kairouan die Statthalterschaft streitig; mehr als ein Gouverneur des Kalifen wurde ermordet, andere wurden hastig eingesetzt und kurz danach wieder abberufen. Andere arabische Generäle, die aus Syrien nach Ifrîqiyah geschickt wurden, kamen im Kampf gegen die Berber ums Leben. Kritisch wurde die Situation in den 740er Jahren, als es den Berbern gelang, die arabischen Truppen und Neuankömmlinge ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Der Gouverneur Abd ar-Rahmân al-Fihrî und sein Bruder Ilyâs müssen sich ab 746 zahlreicher Aufstände erwehren, die in Tunis (747), den tunesischen Küstenstädten (747), Tripoli (748), Tilimsân/Tlemcen (752) und anderen Orten begannen; einige Städte Ifrîqiyahs konnten die Berber dauerhaft unter ihre Kontrolle bringen. In der ganzen Region herrschten zu diesem Zeitpunkt bürgerkriegsähnliche Verhältnisse. Erst im Lauf der 750er Jahre gelang es dem Gouverneur Abd ar-Rahmân al-Fihrî und seinem Sohn Habîb schließlich, dank einer aggressiven Machtpolitik die Oberherrschaft zurückzugewinnen. Spätere arabische Chronisten schreiben über das Jahr 753: »al-Fihrî hatte sich ganz Ifrîqiyah unterworfen und alle dort lebenden Stämme in die Schranken gewiesen. Seine Soldaten waren überall siegreich, seine Standarten allerorten aufgerichtet. Furcht und Schrecken vor Abd ar-Rahmân (al-Fihrî) hatten alle Bewohner des Maghrebs erfaßt.«

Aber zu diesem Zeitpunkt ergab sich ein anderes Problem: Im Osten war unterdessen die umayyadische Kalifendynastie untergegangen, und die Abbasîden hatten sich erfolgreich an deren Stelle etabliert. Abd ar-Rahmân al-Fihrî war aber Gouverneur von Gnaden der Umayyaden, und obwohl er vom neuen abbasidischen Kalifen al-Mansûr (reg. 754–775) – wie in mehreren Quellen zu lesen ist – offiziell in seiner Funktion bestätigt wurde, erkannte al-Fihrî die Autorität des neuen abbasidischen Kalifen zunächst nur nominell, kurz darauf gar nicht mehr an. Vor allem wollte Abd ar-Rahmân al-Fihrî den abbasidischen Kalifen nicht an den Einnahmen seiner Provinz beteiligen, sondern arbeitete daran, sich selbst eine lokale Herrschaft aufzubauen; die eigene, erfolgreiche Machtfestigung, die ihm in den letzten Jahren gelungen war, mögen ihn darin bestärkt haben. Es mußte also zu einem Showdown zwischen dem Gouverneur Ifrîqiyahs und der abbasidischen Zentralmacht kommen. Die Chroniken berichten, der abbasidische Kalif habe schließlich ein geharnischtes Schreiben nach Kairouan gesandt, in welchem er Abd ar-Rahmân al-Fihrî mit Absetzung und weiteren Konsequenzen drohte.

Als das Schreiben des Kalifen in Kairouan eintraf, geriet Abd ar-Rahmân al-Fihrî seinerseits in Zorn und berief eine »Volksversammlung«, wie es heißt, in die Große Moschee der Stadt ein. Angetan mit einem Seidenschal stieg al-Fihrî auf die Kanzel, lobte Gott und begann dann, den Kalifen zu schmähen und zu beleidigen. Dabei soll er auch gesagt haben: »Ich glaubte, dieser Verräter« – in einer anderen Version: »dieser Tyrann« – »rufe zu Ordnung und Gerechtigkeit auf und sei bereit, diese durchzusetzen! Unter dieser Bedingung habe ich ihm die Treue geschworen, doch nun muß ich erkennen, daß die Dinge anders liegen! Deshalb sage ich mich nun und jetzt von ihm los, so wie ich meine Sandalen ausziehe!« Bei diesen Worten schleuderte er mit zwei Tritten in die Luft seine Sandalen vom Fuß. Mit diesem theatralischen Akt erklärte sich Abd ar-Rahmân al-Fihrî für unabhängig. Dann befahl er, die schwarze Prachtrobe zu bringen, die ihm der Kalif mit seinem ersten Einsetzungsschreiben gesandt hatte, und ließ sie erst zerschneiden, dann verbrennen.

Dieses Ereignis, wie es in mehreren Chroniken geschildert wird, gibt uns Hinweise darauf, wie man den Gestus des »Schuhwerfens« bis in die Gegenwart zu verstehen hat: Indem man die Schuhe – oder in alten Zeiten die Sandalen – auszieht und fortschleudert, sagt man sich von einer Person los. Es ist demnach ein Gestus der Aufkündigung und der Lossagung, nicht so sehr der Verächtlichmachung. So wird man es auch heute noch verstehen müssen, obwohl manche westliche Beobachter fälschlich annehmen, das Werfen von Schuhen sei einfach eine aggressive Handlung und man könnte anstatt Schuhen auch andere Dinge werfen; insinuiert wird dabei zugleich, daß Schuhe, weil an ihnen der Dreck der Straße hafte, ein besonders geeignetes Objekt seien, die Verachtung gegenüber einer Person auszudrücken. Aber das ist nicht gemeint. Ebensowenig ist es korrekt, wie gestern im Fernsehen zu hören war, daß das Hochhalten der Schuhe auf Kairos Tahrîr-Platz bedeute, Mubarak solle sich davonmachen und gewissermaßen »seine Schuhe anziehen und gehen«.

Doch noch einmal kurz zurück zu Abd ar-Rahmân al-Fihrî. Nichts interessierte diesen wohl weniger als Recht und Gerechtigkeit, wie er es in seiner Brandrede vorgab. Ihm ging es um die Erhaltung der eigenen Macht und die Unabhängigkeit vom Kalifen. Aber Abd ar-Rahmân al-Fihrî traf damit trotzdem den Nerv eines Teils der Einwohner von Kairouan, die sei¬ner »Unabhängigkeitserklärung« zustimmten und seine Revolte unterstützten. Doch al-Fihrîs Streben nach Unabhängigkeit sollte keinen Bestand haben. Schon wenige Stunden, nachdem er sich vom Kalifen losgesagt hatte, reifte unter seinen Brüder die Erkenntnis heran, daß nun die Stunde ihres Handelns gekommen war. Das offene Aufbegehren gegen den Kalifen verschaffte ihnen außerdem eine willkommene Rechtfertigung, um gegen Abd ar-Rahmân al-Fihrî und seinen Sohn vorgehen zu können. Abd ar-Rahmâns Brüder traten deshalb als Parteigänger des Kalifen auf, die sich das hehre Ziel gesetzt hatten, die Unbotmäßigkeit eines aufsässigen Gouverneurs zu bestrafen: Zwar ging es auch ihnen nur um die eigene Macht, doch wer im Namen des Kalifen tätig wurde und sich dessen Sache auf die Fahne schrieb, konnte hoffen, dem Konflikt mit den Abbasiden ausweichen zu können und am Ende sogar die Anerkennung als Gouverneur Ifrîqiyahs zu erlangen.

An einem Tag im Mai 755 wurde Abd ar-Rahmân al-Fihrî von seinen Brüdern abgemeuchelt, mit einem Dolch, in seinen Privatgemächern in Kairouan. Doch der Sohn Habîb entkam und organisierte, zusammen mit einem Onkel namens Imrân, den Widerstand. Die Familienfehde nahm dann einen so schnellen wie blutigen Verlauf: Imrân wurde noch 755 von seinem Bruder Ilyâs getötet; Ilyâs wurde vom Sohn Abd ar-Rahmâns, Habîb, in einem Duell getötet; und Habîb selbst fiel kurz danach, im Jahr 757, bei der Verteidigung Kairouans gegen die Berber. Die Dynastie der »Fihrîden«, wie man sie hochtrabend genannt hat, war am Ende, nach nur wenigen Jahren und heftigem, internem Familienstreit. Die Lossagung gegenüber dem Kalifen, die Abd ar-Rahmân in Szene gesetzt hatte, war längst Makulatur. Aber der Gestus blieb bestehen. Und heutigentags ist er nicht nur ein Gestus, der eigensinnigen und machtgierigen Provinzgenerälen dazu dient, sich von höheren Autoritäten loszusagen, sondern er hat sich »demokratisiert« und, wenn man so will, »modernisiert«. Ein gutes Zeichen.

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