20.01.2011

Égalité, liberté, fraternité?

Wie sich Frankreich zu den Ereignissen in Tunesien positioniert

 Von Marco Schöller


Frankreich fühlt sich seit vielen Jahrzehnten in besonderer Weise »zuständig« für die Entwicklungen in Tunesien. Seit 1881 durch einen großangelegten Militäreinsatz das französische Protektorat in dem nordafrikanischen Land eingerichtet wurde, ist Frankreich – und alles, wofür Frankreich steht – die wichtigste Konstante für die Entwicklung Tunesiens, in positiver wie in negativer Hinsicht. Auch nach der Unabhängigkeit Tunesiens im Jahr 1956, als die systematische Ausplünderung des Landes – die von den französischen Kolonialbehörden euphemistisch als »Inwertsetzung« (mise-en-valeur) bezeichnet wurde – ihr offizielles Ende fand, blieb der französische Einfluß weitreichend. Das gilt bis in die jüngste Zeit und bis hin zur Kooperation der Regierung Sarkozy mit dem Ben-Ali-Regime in Tunis.



Wie bekannt, faßte Frankreich schon im 19. Jahrhundert die eigene Politik in West- und Nordafrika als mission civilisatrice auf. Neben der wirtschaftlichen »Inwertsetzung« propagierte man zugleich die politische, gesellschaftliche und überhaupt kulturell-geistige »Europäisierung« der Völker im Maghreb, deren Schicksal man nun zu verwalten hatte. Auf die Art und Weise der »Übernahme« Tunesiens war man dabei besonders stolz: »Jedermann pflichtet in Frankreich seit langem der Ansicht bei, daß es anzuerkennen gilt, daß unter den verschiedenen kolonialen Unternehmungen der Republik keine mit so großer Reife konzipiert und vorbereitet, sodann auch so gekonnt durchgeführt worden ist wie die Besetzung des Beylikats von Tunis, gefolgt von der Umwandlung in ein Protektoratsland.« So ist es in der Nouvelle Revue aus dem Jahr 1894 (tome 86, S. 254) zu lesen. Und weiter: »Die unterschiedlichsten Geister neigen heute dazu, die Übernahme Tunesiens nicht nur als die wirtschaftlichste Entwicklung für Frankreich, sondern auch als die einzige Möglichkeit zu betrachten, wie man einem muslimischen Volk, das unter europäischer Oberherrschaft steht, die Vorteile unserer weiter fortgeschrittenen Zivilisation garantiert.«

Der Autor dieser Zeilen versteht unter den »Vorteilen« der hochentwickelten französischen Zivilisation auch die sozio-politischen Errungenschaften der europäischen, speziell der französischen Moderne, die er mit den Begriffen »die Prinzipien von 1789« sowie mit den Menschenrechten in Verbindung bringt. Den Tunesiern, so schreibt er, seien diese Werte teuer, genauso wie sie die Vorteile einer modernen Bürokratie zu schätzen gelernt hätten, die dazu diene, die Lebensverhältnisse zu bessern. »Europäisierung« und »Modernisierung« des tunesischen Volkes bleiben dann über die kommenden Jahrzehnte eine Kernüberzeugung der französischen Kolonialideologie. Im Jahr 1931 resümierte deshalb Jacques Leotard die 50-jährige französische Herrschaft in Tunesien wie folgt: »1881 begann eine neue Ära für Tunesien. Frankreich beteiligte von da an ein mediterranes Volk, das seit Jahrhunderten unterdrückt wurde, an seiner Zivilisation und am Fortschritt der Moderne, und diesem Volk wurde dann Wohlstand durch Arbeit und in Frieden zuteil.« (Bulletin de la Société de géographie et d'études coloniales 1931, tome 52, S. 65.)

Aber so einfach war es dann doch nicht. Einerseits ließen sich die Tunesier nicht einfach »europäisieren«, andererseits nahmen nicht wenige Franzosen mit Befremden zur Kenntnis, daß die Tunesier begannen, politische Werte der französischen Zivilisation für sich zu reklamieren. Wie weit sollte die mission civilisatrice gehen? Doch wohl nicht soweit, sagten viele, daß die im Kolonialreich ansässigen Völker unter Berufung auf »französische Werte« oder die Errungenschaften der französischen Revolution eigene Rechte, vielleicht gar die Unabhängigkeit von fremder Kontrolle einzufordern begannen? Blicken wir dazu noch einmal in den Artikel der Nouvelle Revue aus dem Jahr 1894. Nachdem der Autor mit Stolz dargelegt hat, daß die »Übernahme« Tunesiens den Einheimischen »die Vorteile unserer weiter fortgeschrittenen Zivilisation« garantiere, gibt er zu, daß diese Haltung durchaus nicht allgemein geteilt werde und nicht alle Franzosen damit einverstanden seien, daß Frankreich den von ihm beherrschten Völkern neben der modernen Bürokratie auch die Werte der europäischen Moderne vermittle: »Gibt es also jemanden in Tunesien, der sich über das dort herrschende Regime beklagt?  Diese Leute gibt es in der Tat: Es handelt sich um eine Anzahl von Kolonisten, vor allem solche, die erst jüngst in das Land gekommen sind, die sehr oft die Meinung äußern, daß die Prinzipien von 1789 kein Exportartikel seien, der für die Länder in Übersee bestimmt sei. (...) Und alle, mit denen man über die Menschenrechte spricht, zucken mit den Achseln oder machen sich daran, gelehrte Abhand­lungen über die angeborene Unterlegenheit der arabischen und berberischen Rassen zu verfassen, ganz so, wie es unsere Politiker in Algerien tun.« (Nouvelle Revue, t. 86, S. 255).

Also das alte Dilemma: Westliche Werte ja, aber nicht dann, wenn damit außereuropäischen Völkern ermöglicht wird, die westliche Hegemonie in Frage zu stellen. Natürlich wird keine europäische Regierung im post-kolonialen Zeitalter zugeben, daß sie nach dieser Maxime Politik betreibt. Gibt man nicht Milliarden aus, um den Bewohnern des Iraq und Afghanistans freiheitliche politische Strukturen und westliche Werte zu bringen? Spricht man nicht – gelegentlich – die »Menschenrechtssituation« an, wenn sich westliche Politiker mit den Autokraten der islamischen Welt treffen – in Saudi-Arabien, in Algerien, in Ägypten, in Syrien und anderswo? Das ist die Sprachregelung der offiziellen Politik. Faktisch aber geschieht, insoweit es im westlichen Interesse liegt, meist nichts dergleichen; das diplomatische »Ansprechen der Menschenrechtssituation« verkommt zum politischen Ritual, von dem sich die Vertreter des Westens tatsächlich nichts Konkretes erwarten und das die Vertreter der angesprochenen Staaten über sich ergehen lassen, ohne daraus irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Und Tunesien bildete dabei bis vor kurzem keine Ausnahme. Zuviele Interessen des Westens haben dafür gesorgt, daß man das diktatoriale Regime Ben Alis und seiner Clique hinnahm.

Dazu paßt in fataler Weise das merkwürdige Schweigen der französischen Regierung zu den Vorgängen in Tunesien – und gar nicht davon zu reden, daß die französische Außenministerin Alliot-Marie noch am 11. Januar in Tunis mitteilen ließ, man sei bereit, Ben-Ali bei der Wiederherstellung von Recht und Ordnung im Land zu helfen ... Als dann drei Tage später Ben-Ali nach Frankreich einfliegen wollte, bekam man es mit der Angst zu tun – wohl zunächst vor der Reaktion der zahlreich in Frankreich lebenden Tunesier – und distanzierte sich von dem gestürzten Machthaber. Ein beispielhaftes Lehrstück in Realpolitik: Setze nur auf ein Pferd, das noch gewinnen kann. Die französische Presse hat das Schweigen und die wankelmütige Haltung der französischen Regierung inzwischen machtvoll angeprangert und die Regierung in die Defensive gezwungen. Doch deren Vertreter reden sich mit zahlreichen fadenscheinigen Argumenten heraus: Man habe die rasche Entwicklung der Dinge in Tunesien nicht voraussehen können; man habe die Frustration der tunesischen Bevölkerung unterschätzt. Usw.

Öfters ist auch die folgende Rechtfertigung zu hören: Man wolle Tunesien, das ja ein ehemaliges französisches Protektorat sei, keine Lektionen erteilen, sich nicht als »kolonialistischer Besserwisser« geben. Was für ein Argument! Und was für ein lehrreicher Kontrast mit der Vergangenheit: Zur Kolonialzeit pochte man auf die mission civilisatrice Frankreichs, wobei dann viele diejenigen Werte explizit ausnahmen, die zur politischen Befreiung der beherrschten Völker hätten dienen können. Heute haben sich alle europäischen Staaten die Durchsetzung freiheitlicher politischer Strukturen auf die Fahnen geschrieben, verzichten aber gewissermaßen aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten in ehemaligen Kolonialstaaten, dabei im konkreten Fall auch mitzuwirken oder sich dazu auch nur zu äußern. Resultat: Im einen wie im anderen Fall läßt man die Bevölkerung in einem Land, das um die Erringung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ringt, im Regen stehen.

Aber vielleicht brauchen die Tunesier keinen französischen Zuspruch. Sie haben schon soviel erreicht, daß sie dereinst keinen Franzosen brauchen, der ihnen in 50 Jahren attestieren wird, daß im Jahr 2011 eine neue Ära für Tunesien begonnen hat. Sie können es sich dann, so müssen wir wünschen und hoffen, selbst attestieren. Und wenn dann ein französischer Regierungssprecher verlauten läßt, man habe ja immer gewußt, daß Tunesien gute Chancen zu einer freiheitlichen Entwicklung habe, weil dort ja seit langer Zeit die französische Kultur großen Einfluß habe ... ... ... dann drehe ich ihm eigenhändig das Mikrofon ab und beschimpfe ihn als kolonialistischen Besserwisser.

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