Tâhir al-Haddâd (1899-1935): Tunesiens verkannter Reformer, Tunesiens nationales Symbol
Dritter und letzter Teil
Von Iman Hajji
»Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß der Islam unschuldig ist, wenn es um den Vorwurf geht, er verhindere Reformen. Dies ist der Grund, der mich zum Verfassen dieser meiner Schrift über die Frau in Gesetz und Gesellschaft veranlasste, damit wir sehen, wer der Rechtleitende ist und wer nicht nur selbst in die Irre geht, sondern auch die anderen irreleitet. Ich hoffe, damit einer mir auferlegten Pflicht nachzukommen, in der ich eine Schuld sehe, die ich gegenüber dem Volk, dem ich angehöre, und einer Nation, von der ich ein Teil bin, habe.«
Tâhir al-Haddâd veröffentlichte sein Werk
Imra'atunâ fî š-šarî'a wa-l-mujtama' im Oktober des Jahres 1930. In einer Zeit, in der in Tunesien eine nicht zu unterschätzende Frauenfeindlichkeit herrschte, widmete al-Haddâd seine Schrift eben diesen Frauen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden bzw. denen es, al-Haddâd zufolge, nicht möglich war, überhaupt ein Teil der Gesellschaft zu sein.
Frauendiskriminierung stellte für al-Haddâd eine große Malaise dar, die gesellschaftlichen Fortschritt hemmt und der aus diesem Grund entgegengewirkt werden muß. Es war für al-Haddâd eine nationale Pflicht, das Buch zu verfassen, und er hoffte, damit einen Beitrag zur Umgestaltung der tunesischen Gesellschaft zu leisten. Dabei versuchte er vor allem zu verdeutlichen, daß die Frauenunterdrückung nicht im Islam verwurzelt ist.
Die historische Entwicklung der Stellung der orientalischen Frau wird an verschiedenen Vergleichspunkten skizziert: Die beklagenswerte Situation der Frau in vorislamischer Zeit (
jâhilîya) wurde vom Islam verbessert, ihr sozialer Status durch den Islam angehoben. Jedoch entwickelte er sich nach al-Haddâd dann wieder zurück, bedingt durch verschiedene Faktoren wie beispielsweise veraltete lokale Traditionen, was mit einer erneuten Entrechtung der Frauen einherging. Da dies weder im Sinne des Islam ist noch gesellschaftsfördernd wirkt, müsse dieser Zustand geändert werden.
Al-Haddâd bezieht sich auf Koran und Sunna und spricht sich gegen das Prinzip des
insidâd bâb al-ijtihâd aus, also gegen die »Verriegelung« oder auch »Zumauerung« des »Tors des Ijtihâds«. Damit steht al-Haddâd in der Tradition des Reformers Jamâl ad-Dîn al-Afghânî (1839-97) und dessen Schülers Muhammad 'Abduh (1849-1905), für die »das Tor des Ijtihâd« ebenfalls keineswegs verschlossen war. Auch der jemenitische Gelehrte aš-Šawkânî hatte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts vehement bestritten, daß »das Tor des Ijtihâds« zu schließen, ja daß es überhaupt jemals geschlossen worden sei.
Al-Haddâd argumentiert, daß einzelne Gesetze im Islam häufig die Antwort auf ganz spezifische historische Ereignisse oder gesellschaftliche Begebenheiten gewesen und somit nicht selten kontextgebunden seien. Darüber hinaus gebe es jedoch Grundprinzipien, die unabhängig von jeglichen Faktoren von allgemeiner Gültigkeit sind. Dazu zählen der Monotheismus wie auch moralgeleitetes Handeln oder die Achtung von Gerechtigkeit, Würde und Gleichheit aller Menschen. Ferner existierten im Islam Phänomene fort, die bereits in vorislamischer Zeit im Gebrauch waren, die jedoch im Laufe der weiteren historischen Entwicklung hätten aufgehoben werden können. Er nennt als Beispiele Sklaverei und Polygamie und betont, daß diese Phänomene zwar im Islam weiterbestehen, jedoch nicht zu seiner Essenz gehören. Das Aufheben dieser Traditionen würde ihm zufolge dem Islam nicht schaden.
Es können an dieser Stelle nicht alle Punkte behandelt werden, die al-Haddâd bezüglich der rechtlichen Stellung der Frau diskutiert. Ich beschränke mich daher auf die Thematik des Schleiers. (Andere Themen, die in seinem Werk diskutiert werden sind u.a. Ehe bzw. das Recht auf freie Partnerwahl, Polygamie, Scheidung und Erbrecht.)
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Al-Haddâd widmet
der Frage des Ganzkörperschleiers, der zu seiner Zeit die übliche Kleidervorschrift für Frauen in Tunesien war, besondere Aufmerksamkeit und unterstreicht, daß der Schleier in der genannten Form in den koranischen Bekleidungsvorschriften nicht belegt sei.
Den Vers »Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihren Blick senken und ihre Scham wahren, ihren Schmuck nicht offen legen, außer dem, was davon sichtbar ist. […]« (Koran 24:31) legt al-Haddâd unorthodox aus: Die Vorschrift, die Augen niederzuschlagen, führe demnach zu der Schlußfolgerung, daß Blicke zwischen Männern und Frauen nicht durch einen Schleier getrennt sein könnten, denn andernfalls wäre die Vorschrift ja gegenstandslos. Durch die Aussage »soweit er (sc. der Schmuck) nicht normalerweise sichtbar ist« (
illâ mâ zahara minhâ), lege der Koran nicht wörtlich fest, was von der Frau sichtbar sein darf und was bedeckt sein muß, damit die Auslegung keine »statische« sei, sondern an die Entwicklungen und die Bräuche der jeweiligen Zeit angepaßt werden könne. Und al-Haddâd geht noch einen Schritt weiter:
»Dies verdeutlicht, daß der Schleier, den wir der Frau als eine Grundlage des Islam auftragen – sei es indem wir sie im Hause verweilen lassen oder indem wir ihr den Gesichtsschleier überziehen – keine Angelegenheit ist, die sich ohne weiteres als eine islamische bestimmen läßt. Vielmehr verdeutlicht der Wortsinn des Verses die Ablehnung des Schleiers aufgrund der (Auslegungs)schwierigkeiten, die mit ihm verbunden sind. Was uns sicher sein läßt, daß der Schleier nicht auf dem Islam basiert, ist die Tatsache, daß, wenn er etwas "Eindeutiges" gewesen wäre, das der Prophet befürwortet hätte, wie es seine (sc. des Schleiers) Anhänger behaupten, doch dann wäre es nicht möglich, dass die geistigen Führer des Islam darüber uneins waren; dazu gehören doch die Gefährten des Propheten und die Gelehrten, die deren Zeit erlebten.«
Es wird ersichtlich, daß al-Haddâd den Schleier bzw. die komplette Verhüllung der Frau, einschließlich ihres Gesichts, zu den Elementen zählt, die zwar im Islam existieren, jedoch nicht zu seinem »Fundament« gehören.
Der Diskussion wird ein weiterer entscheidender Vers hinzugefügt: »Prophet, sag deinen Frauen, deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herabziehen. So werden sie am ehesten erkannt und nicht gekränkt. Gott ist voller Vergebung und barmherzig.« (Koran 33:59). Al-Haddâd schließt aus diesem Vers ein Verbot der Zurschaustellung weiblicher Reize (
tabarruj), um unzüchtige Gedanken bei Männern zu vermeiden. Man müsse außerdem dabei berücksichtigen, daß die Frauen der vorislamischen
jâhilîya ihr Dekolleté, ihren Nacken sowie ihre Beine nicht zu bedecken pflegten. Die in dem Vers enthaltene Bekleidungsvorschrift diene dazu, die muslimische Frau von der Nichtmuslimin zu unterscheiden und sie vor »boshaftem Gerede« (
sû' al-qawl) zu schützen. Nach der Darstellung al-Haddâds werden damit gleichzeitig islamische Werte geschützt.
Er betont darüberhinaus, daß man das Gebot des
hijâb (Gesichtsschleiers) fälschlicherweise dahingehend interpretiere, die Frau zu Hause abzuschirmen und soziale Kontakte zwischen den beiden Geschlechtern zu unterbinden. Al-Haddâd widerlegt diese Annahme durch den folgenden Koranvers: »Keine Beschwernis sollen haben der Blinde, der Krüppel, der Kranke und ihr selbst, wenn ihr in eurem Haus esst, in dem eures Vaters oder eurer Mutter, eurer Brüder oder Schwestern, eurer Onkel und Tanten väterlicherseits, eurer Onkel und Tanten mütterlicherseits, in einem, dessen Schlüssel ihr beseitzt, oder dem eines Freundes. Es ist für euch kein Vergehen, gemeinsam oder getrennt zu essen. Doch wenn ihr in Häuser geht, dann grüßt einander mit gesegnetem, gutem Gruß von Gott! So macht Gott euch die Zeichen klar. Vielleicht versteht ihr!« (Koran 24:61). Dieser Vers zeigt laut al-Haddâd, daß der Islam seine Anhänger ermutigt, freundschaftliche Beziehungen zueinander zu pflegen. Daran sei nichts Verwerfliches, solange man keine »verdorbenen« Absichten verfolge.
Insgesamt seien die zitierten Verse Vorsichtsmaßnahmen, die die Gesellschaft vor Verderbtheit schützen, die jedoch nicht zu einem Hindernis im Alltagsleben der Menschen ausarten sollen. Dies sei zwar der Fall, allerdings sei nicht der Islam, sondern vielmehr die ignorante Auslegung seiner Gebote dafür verantwortlich:
»Die Lehre, die wir aus diesen edlen Versen ziehen, ist, daß die Maßnahmen, die zur Vorbeugung vor Schandtaten dienen, nicht zu störenden Faktoren im Leben der Menschen und zu Behinderung ihrer Interessen werden sollten. (Dies steht) im Gegensatz zu unserer heutigen Auffassung des Islam, mit der wir die Frau und dadurch uns selbst vernichtet haben Dadurch wären wir muslimischer als der Islam (verlangt). Welch Unglück und welche Ignoranz.«
Was die Herkunft des Schleiers betrifft, so legt al-Haddâd dar, daß er ursprünglich ein über Jahrhunderte hinweg praktizierter Stammesbrauch sei. Einige Stämme gingen sogar so weit, das Tragen des Schleiers auch in Anwesenheit von engsten Familienangehörigen wie Vätern oder älteren Brüdern vorauszusetzen. Bei einigen Stämmen, den sogenannten
mulaththamûn (»die Verhüllten«) ist das Tragen des Schleiers selbst für Männer Pflicht; »Verhüllte« in diesem Sinn nennt man in Nordafrika insbesondere auch die Tuareg. Dennoch merkt al-Haddâd an, daß der Schleier zwar in Städten und Dörfern getragen wird, nicht jedoch in der Wüste, wo die Menschen »ihren Instinkten folgen«. In diesem Sinne schreibt er: »Jedes Mal, wenn ich über die Angelegenheit des Schleiers nachdenke, dann sehe ich darin unseren Egoismus, der sich hinter religiösen Gefühlen versteckt, als Festung, mit der er sich über Andersdenkende erhebt.«
Auf gesellschaftlicher Ebene sei der Schleier besonders problematisch, wenn es um die Partnerwahl gehe. Al-Haddâd argumentiert, daß die Partnerwahl aufgrund des Schleiers stark eingeschränkt werde. Der Mann habe sich bei der Brautwahl an den Beschreibungen der Familie der Braut zu orientieren, welche nicht selten überschwenglich – und wenig wirklichkeitsgetreu! – seien. Deshalb könne der Mann nie wirklich wissen, was er »bekomme«, und tatsächlich werde er nicht selten getäuscht. Das Ergebnis sind unglückliche Ehen und eine hohe Scheidungsrate. Das Ablegen des Schleiers sei deshalb mit Vorteilen für beide Geschlechter verbunden, und tatsächlich, so der Autor, legten immer mehr Frauen den Schleier ab, orientiert am Beispiel der Europäerinnen.
Al-Haddâd betont jedoch, daß das Ablegen des Schleiers nicht mit der völligen Entblößung von Nacken, Brust und Gliedmaßen sowie dem Tragen von reizvollem Schmuck und Parfum einhergehen sollte. Mit anderen Worten: Das geforderte Ablegen des Schleiers soll nicht in ein blindes Nachahmen europäischer Bräuche ausarten, wie von Verfechtern des Schleiers bereits drohend vorhergesagt wurde. Entscheidend sei es, das richtige Maß der Dinge zu finden. Dabei sollten sich Frauen vor allem auf ihre Pflichten und ihre Verantwortung konzentrieren und sich nicht zu einem Objekt männlicher Begierde degradieren.
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Die Quintessenz der Ausführungen al-Haddâds kann durchaus in der bereits erwähnten progressiven Rechtsprechung und der zeitgemäßen Auslegung islamischer Vorschriften gesehen werden. Al-Haddâd zeichnet sich vor anderen Reformern durch seinen energischen Modernisierungsdrang und die Erkenntnis aus, daß eine Umgestaltung der tunesischen Gesellschaft nur realisierbar ist, wenn vorher die Situation der tunesischen Frau geändert und ihre Emanzipation gewährleistet wird.
Der namhafte französische Islamwissenschaftler
Jacques Berque bemerkte nicht zu Unrecht:
»Les réformistes, qui de surcroît ont sur eux l’avantage de l’élocution, les ridiculisent. Mais, ce faisant, ils ne dépassent pas certaines limites. Eux-mêmes ne touchent qu’avec mille précautions à des questions comme celle de la femme. C’est ce qu’on voit bien au moment de la querelle soulevée par le livre de H’addâd (sic!)« (J. Berque: Le maghreb entre deux guerres, Band 2, S. 639 f.)
Das erklärt vielleicht auch die Reaktionen, die al-Haddâds Werk in Tunesien hervorrief. Die kolonisierten Muslime, die wesentlich darauf bedacht waren, ihre kulturelle Identität zu verteidigen, mußten nun zusehen, wie al-Haddâd aus ihren eigenen Reihen an ihrem kulturellen Gerüst rüttelte und sich gegen ihre Traditionen wandte. Die Annahme, daß al-Haddâd mit seinen Gedanken seinem Land und seiner Zeit voraus war, ist somit nicht unbegründet.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß einige Autoren al-Haddâd als Feministen bezeichnen. Inwieweit es sich bei al-Haddâds Diskurs jedoch tatsächlich um einen »feministischen« handelt, muß ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob sich al-Haddâd selbst als Feminist verstanden hat. Seine frauenfreundliche Haltung kann ihm freilich keiner aberkennen. Davon zeugt nicht nur sein Werk
Imra'atunâ fî š-šarî'a wa-l-mujtama', denn in seinen
Gedanken liest man u.a.:
»Wir lieben die Frau – und wir hassen sie. Wir lieben sie als Beute zwischen unseren Händen, auch wenn sie unsere Existenz zerstört – und wir hassen sie als Freie und Vernünftige neben uns, weil wir wissen, wie wir Lust durch die Reizung unserer Sinne erfahren können. Wir wissen jedoch nicht, wie wir Lust durch die Reizung unserer Seelen und Gedanken erfahren können.«
Trotzdem stellt sich die Frage, ob al-Haddâd wirklich die Befreiung der tunesischen Frau um der Frauen willen fordert. Ob er ihre vollständige Gleichberechtigung im Sinne des Feminismus fordert, ist ebenfalls zweifelhaft. Seine Motivation geht eher von seinem persönlichen Islamverständnis aus und dem Willen, den »wahren« Geist des Islam zu verwirklichen, von dem seiner Meinung nach die tunesische Gesellschaft »abgefallen« ist. Tatsächlich hat er erkannt, daß eine gesellschaftliche Reform nur erreicht werden kann, wenn vorher die Situation der Frau geändert wird. Die Emanzipation der Frau sollte demnach schon aus gesellschaftlichem Interesse verwirklicht werden.
Literatur:
Iman Hajji:
Ein Mann spricht für die Frauen. at-Tahir al-Haddad und seine Schrift ›Die tunesische Frau in Gesetz und Gesellschaft‹, Berlin 2009 (
Islamkundliche Untersuchungen 291).
Quellen und moderne Studien:
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Anmerkung der Redaktion:
Iman Hajjis Buch wurde auf
Qantara.de von
Martina Sabra rezensiert:
»Der tunesische Islamgelehrte und Aktivist Tahar Haddad. Ein korantreuer Rebell«
Aus aktuellem Anlaß sei hier auch auf den am 5. April 2011 ebenfalls auf
Qantara.de erschienenen Beitrag von
Lamya Kaddor hingewiesen:
»Koran-Auslegung: Warum ich als Muslima kein Kopftuch trage«
Zu dem im Beitrag erwähnten französischen Islamwissenschaftler
Jacques Berque siehe
hier.
Rezensionen seines Buches »
Le maghreb entre deux guerres«: