31.03.2011

Kinder der Revolution - Maikel Nabil aus Ägypten droht mehrjährige Haft

Maikel Nabil Sanad (25)
Über den jungen Friedensaktivisten Maikel Nabil und eine Revolution, die ihre eigenen Kinder frisst...

Ein Gastbeitrag von Kristin Jankowski

"Ich bin sehr traurig und wütend", sagt Kirolos Nagy. Seine Stimme zittert. Er holt tief Luft : "Ich verstehe nicht, warum die Armee Maikel Nabil einsperrt. Nach welchem Gesetz hat das Militär gehandelt? Maikel ist seit vielen Jahren mein Freund. Ich weiss nicht, was mit ihm passieren wird. Das macht mir grosse Angst."

In der Nacht vom 28. auf den 29. März 2011 hat das ägyptische Militaer den Blogger und Antimilitaristen Maikel Nabil festgenommen.

Maikel Nabil saß oft mit seinen Freunden in einem Strassencafe in der Nähe der Börse in Kairo. Es ist Cafe mit bunten Stühlen und Plastiktischdecken. Maikel hat seinen Tee immer mit einem Löffel Zucker getrunken. Wenn er jemandem zur Begrüssung die Hand gereicht hat, lächelte er und seine grossen braunen Augen funkelten.

"Er war mit jedem befreundet. Ich habe viel mit ihm über Gott und Frieden gesprochen. Unsere Unterhaltungen waren immer sehr tief", erinnert sich Kirolos Nagy. "Und jetzt ist er weg. Zuerst haben wir dem Militär vertraut. Und nun haben sie unseren Freund festgenommen. Ich bin wirklich sehr enttäuscht", so der 21-jährige. "

Angeblich kam die Militärpolizei zwischen 3 Uhr und 4 Uhr morgens zu Maikels Wohnung. Er war alleine Zuhause. Ich weiß leider auch nicht, was genau passiert ist", sagt Amr Bakly. "Ich kenne Maikel seit vielen Jahren. Wir haben uns aufgrund unserer politischen Arbeit kennengelernt", erzählt er. "Ich denke, dass er festgenommen wurde, weil er über die Armee geschrieben hat. Er war immer gegen die Armee. Maikel ist ein Friedensaktivist", weiss der 29-jährige. "Ich bin wirklich sehr besorgt. Wir wissen, dass die Armee viele Leute gefoltert hat. Ich habe Angst um meinen Freund und ich kann ihm nicht helfen."

Amr Bakly hat durch das soziale Netzwerk Facebook von der Festnahme Maikel Nabils erfahren. "In dem Moment war ich wirklich sehr wütend" erinnert er sich. "Maikel ist immer direkt, er ist immer klar in seinen Worten. Das mag ich an ihm. Maikel ist mutig, niemand kann ihn kontrollieren. Maikel ist ein Kämpfer", so Amr Bakly.

Maikel Nabil ist am 1. Oktober 1985 in Assuit geboren. Dort hat er Tiermedizin studiert. Maikel Nabil war Mitglied in verschiedenen politischen Parteien und hat sich in zahlreichen Nichtregierungsorganisationen engagiert. Im Jahr 2006 begann er Texte auf seinem Blog (http://www.maikelnabil.com) zu veröffentlichen.

Am 9. April 2009 gründete er die Bewegung "No for Compulsory Military Service". Es ist die erste Organisation in Ägypten, die sich gegen die allgemeine Militärpflicht einsetzt. Maikel Nabil ist Kriegsdienstverweigerer. Im November 2010 wurde er von der Armee befreit. In einer Erklärung beschreibt er, warum er nicht von dem Militär eingezogen werden will. Er sieht sich selbst als Pazifisten, er will keine Waffe in der Hand halten. "Ich bin nicht bereit etwas gegen meinen Willen zu tun - ganz egal welcher Preis dafür zu bezahlen ist", schreibt er auf seiner Internetseite. Das Rekrutieren bezeichnet er als eine Art Sklaverei und er sei ein freier Mensch. "Momentan bin ich nicht bereit meine Freheit aufzugeben und sie in die Hände von militärischen Gangs zu geben. Alles was sie tun können ist zu töten, zu schlachten und Blutbäder anzurichten."

Während des Aufstandes in Ägypten wurde Maikel Nabil am 4. Februar 2011 für zwei Tage festgenommen. Er war auf dem Weg zum Tahrir-Platz - zur Demonstration gegen das Mubarak Regime. Doch er wurde von der Militärpolizei aufgehalten und festgenommen. Maikel Nabil behauptet, er wurde während der Haft geschlagen. Mehrmals wurden seine Augen verbunden. Zudem gibt er an, er wäre sexuell genötigt worden."Es waren die schlimmsten Tage meines Lebens" beschreibt Maikel Nabil.

Einige Wochen später wurde Maikel Nabil wieder festgenommen. Einige seiner Freunde behaupten, die Militärpolizei sei am frühen morgen des 29. März 2011 zu seiner Wohnung gekommen und habe ihn von dort weggebracht.

"Ich habe am Abend des 29. März mit Maikels Bruder Mark und seinem Vater in einem Cafe in Downtown gesessen", erzählt Sahar Mahar. Sie kennt Maikel Nabil seit rund 1,5 Jahren. "Maikel hatte Glück und konnte zwei Anrufe machen. Heimlich. Angeblich war es das Telefon eines Offiziers. Maikel hat seinen Bruder angerufen. Einmal um etwa 8 Uhr morgens und um ungefähr 12 Uhr. Beim ersten Anruf hatte er Mark erzählt, was passiert sei. Beim zweiten Anruf sagte Maikel, dass er innerhalb der kommenden zwei Stunden vor ein Militärgericht gestellt wird", so die 21-jährige. "Hätte er die Anrufe nicht machen dürfen, dann würden wir gar nicht wissen, wo er ist" sagt sie besorgt. "Als Maikel zum zweiten Mal bei seinem Bruder anrief, war er sehr verängstigt und erzählte, dass er wahrscheinlich für 18 Jahre ins Gefängnis kommen wird. Wir haben kurz danach mit einem Anwalt gesprochen und er sagte uns, dass sich Maikels Höchststrafe auf drei Jahre belaufen kann", erzählt Sahar Maher weiter. "Beschuldigt wird er angeblich wegen Verbreitung von Lügen ueber das Militär, Beleidigung der Armee und das Gefährden der Inneren Sicherheit."

Am 8. März 2011 hatte Maikel Nabil auf seinem Blog einen Artikel über das aegyptische Militär veroeffentlicht. Darin geht es um das brutales Vorgehen der Armee gegen friedliche Demonstranten.

"Vor einigen Tagen hatte Maikel während eines Treffens im Hisham Mubarak Center - einer Rechtsanwaltskanzlei, die sich mit Menschenrechten beschaeftigt- erzählt, dass er bald den zweiten Teil seines Artikels über die Verbrechen der Armee veröffentlichen will", weiß Sahar Maher. "Wer weiss, wer ihm dabei zugehört hat".

Derzeit befindet sich Maikel Nabil angeblich in dem Militärgefaengnis in dem Stadtteil Nasr City in Kairo. "Innerhalb der nächsten 14 Tage soll eine endgültige Entscheidung über Maikel gefaellt werden", sagt Sahar Maher. "Wir sind alle wirklich sehr besorgt um ihn."

28.03.2011

»Orient«-Ausstellungen im ersten Halbjahr 2011 in Dtld. und Europa


(a) Orientphotographie, Kunstphotographie

»Erinnerung Ägypten«: Im Zeichen von Romantik und Orientalismus

Ausstellung im Musée national d’histoire et d’art, Marché-aux-Poissons, Luxembourg, noch bis zum 28. August 2011 (Di.-So. 10-18 Uhr): Frühe Fotografien, Karten und Lithografien erlauben dem Besucher einen Einblick in die Zeit, als es noch keinen Massentourismus in dem Land am Nil gab.

Land am Nil: Ägypten in historischen Fotografien

Ausstellung im Photomuseum Bad Ischl vom 9. April bis 17. Juli 2011: Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts war Ägypten ein begehrtes Reiseziel. Das wohlhabende Bildungsbürgertum suchte auf der erweiterten „Grand Tour“ im östlichen Mittelmeerraum neben kulturellen Eindrücken immer auch die Erfahrung von »Orient und Exotik«.

Majida Khattari: »Captives«

Ausstellung vom 31. März bis zum 14. Mai 2011 in der Artothèque de Caen, Caen: »Depuis 1996, Majida Khattari crée des défilés-performances inspirés de la situation des femmes dans les sociétés arabes afin de bousculer les codes de représentations orientalistes.« – Ein zeitgenössischer Gegenentwurf zum Orientalismus des 19. Jahrhunderts: Die »Odalisken«-Photographien von Majida Khattari in einer Ausstellung in Caen.

Friedrich-Schiller-Universität Jena: Alphons-Stübel-Sammlung früher Orient-Photographie

Eine umfangreiche Sammlung früher Orientphotographien gehört zu den Schätzen des Instituts für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients in Jena: Ungefähr 500 großformatige Originalabzüge der berühmten Photostudios aus Konstantinopel, Beirut, Kairo, Alexandria und Port Said aus der Zeit zwischen 1850 und 1890 stellen eine der bedeutendsten Sammlungen ihrer Art dar.

»Bilderfund - Frühe Orientphotographie, gesammelt von Alphons Stübel (1835-1904)«

Ausstellung vom 3. März 2011 bis 8. Mai 2011 in der Galerie Stadtspeicher, Am Markt 16, Jena.

Lalla Essaydi: Série «Les femmes du Maroc»

Die Serie «Les femmes du Maroc» der 54-jährigen marokkanischen Künstlerin Lalla Essaydi ist in der Zürcher Galerie Edwynn Houk zu sehen: Galerie Edwynn Houk, Stockerstrasse 33, Zürich.



(b) Islamische / orientalische Kunst

al-Fann: Kunst der islamischen Welt aus der Sammlung al-Sabah, Kuwait

Die Ausstellung vom 22. März 2011 bis 19. Juni 2011: »al-Fann: Kunst der islamischen Welt aus der Sammlung al-Sabah« mit Stücken aus der al-Sabah Collection of Islamic Art im Kunsthistorischen Museum (KHM), Wien.

Ägypten, Orient und die Schweizer Moderne. Die Sammlung Rudolf Schmidt (1900-1970)

Ausstellung im Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, Basel, vom 25. März bis 31. Juli 2011: Das Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig präsentiert zum ersten Mal die einzigartige Sammlung Rudolf Schmidt aus Solothurn: Die Ausstellung konfrontiert antike Kunstwerke mit der klassischen Schweizer Moderne.

»Schahname. Heroische Zeiten. Tausend Jahre persisches Buch der Könige«

Ausstellung im Pergamonmuseum, Berlin, Veranstalter: Museum für Islamische Kunst. Vom 19. März bis So 19. Juni 2011.

Siehe auch hier: Zur Ausstellung Schahname - Tausend Jahre persisches Buch der Könige.




(c) Europäische »Orientalismus-Malerei«

L'Oriente nella pittura dell'Ottocento italiano

Ausstellung in Barletta (Apulien, Italien) vom 4. März bis zum 5. Juni 2011: A Palazzo Marra, sede della Pinacoteca de Nittis, dal 4 marzo al 5 giugno, un centinaio di selezionatissime opere raccontano l'Oriente nella pittura dell'Ottocento italiano nella più approfondita esposizione mai allestita sul tema.

Œuvres orientalistes: »Orient rêvé, Orient vécu«

Ausstellung im Museum Saint-Loup in Troyes, vom 23. Januar 2011 bis 26. April 2011: Le musée Saint-Loup présente les oeuvres orientalistes de ses collections. Une vingtaine d'oeuvres, peintures et sculptures, illustrent ce courant artistique du 19e siècle.

»L’orientalisme en Europe. De Delacroix à Matisse«

Ausstellung über Orientalismus-Malerei des 19. und 20. Jhs. im Centre de la Vieille Charité, Marseille, vom 27.Mai bis 28. August 2011. Es handelt sich um dieselbe Ausstellung, die bis zum 1. Mai in der Münchner Hypo-Kunsthalle zu sehen ist.

Orientalismus in Europa

Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München, bis zum 1. Mai 2011.
Zu dieser Ausstellung siehe auch:

Heimführung des Orients (NZZ vom 16.03.2011, Mona Sarkis)
Eine Münchner Werkschau huldigt dem orientalisierenden Europa des 19. Jahrhunderts und zeigt in über 150 Werken Orientalisten aus ganz Europa. Ihrem Exotismus sollen wir unbekümmert folgen, rät die Ausstellung und scheint dabei vorzuschlagen: War und ist es nicht doch schön, im Namen des «Anderen» zu sprechen?

Naiver Ästhetizismus (qantara.de vom 08.03.2011, Mona Sarkis)
Mit dem Kolonialismus im 18. und 19. Jahrhundert bekam auch der Orientalismus in der europäischen Kunst Auftrieb. Vielen Darstellungen ist eine kulturelle Arroganz eingeschrieben, die bis heute nicht überwunden ist – wie eine Ausstellung in München zeigt. Mona Sarkis war vor Ort.

Impressionen aus Ägypten. Emile Prisse d’Avennes (1807-1879)

Ausstellung vom 01. März bis 05. Juni 2011 in der Bibliothèque nationale de France, site Richelieu, Paris: Die BNF enthüllt den unschätzbaren, z.T. unveröffentlichten ikonografischen Fundus dieses großen französischen Ägyptologen des 19. Jahrhunderts.

Dazu siehe auch hier:
Visionen von Ägypten - Beeindruckende Orientalistik-Ausstellung: Emile Prisse d'Avennes war einer der angesehensten Orientalisten des 19. Jahrhunderts. Seine Aufenthalte in Ägypten dokumentierte er in einer Vielzahl von Zeichnungen und Aquarellen. Die "Bibliothèque nationale de France" in Paris stellt diesen Fundus jetzt aus.



(d) Anderes

Lawrence von Arabien

Ausstellung im Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln, vom 30.04.2011 bis 11.09.2011: Spätestens seit David Lean´s Kinofilm »Lawrence von Arabien« aus dem Jahre 1962 ist T. E. Lawrence in Europa und den USA eine der bekanntesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Dabei changiert das öffentliche Bild zwischen kollektiver Erinnerung und den Ergebnissen historischer Recherchen.

L'Orient des femmes vu par Christian Lacroix

Ausstellung im Musée du quai Branly, Paris, von 08.02. bis 15.05.2011: »Véritable hymne aux femmes orientales, l’exposition dévoile un autre visage des femmes, du nord de la Syrie à la péninsule du Sinaï, en présentant un ensemble exceptionnel de 150 costumes et parures traditionnels du Proche-Orient, sélectionnés par le couturier Christian Lacroix, avec le concours de Hana Chidiac, responsable des collections Afrique du Nord et Proche-Orient du musée du quai Branly.«

24.03.2011

Poetik der Revolution – Der russische Blick auf den Orient, Folge 1

Sergej Alexandrovic Esenin (1895-1925)

Von Alev Masarwa

»Diesseits oder jenseits der Barrikaden« zu stehen, war vielleicht die einzige Alternative für die Literaten Rußlands 1917. Eine schwere Entscheidung für Dichter einer »intellektuellen Landschaft«, die in ihrer Diversität und Buntheit derjenigen in den Vierteln Bagdads in nichts nachstand: hier die Imaginisten, dort die Futuristen, daneben die Akmeisten, Konstruktivisten, Symbolisten, Rayonisten, Realisten ... alle mit ihren eigenen Visionen für das neue Rußland und überhaupt für das Neue in der Kunst. Hinter diesen geistigen und intellektuellen Gruppierungen standen die herausragenden Dichter der Zeit. Ein Großteil rettete sich vor dem bolschewistischen Vorgehen ins westliche Ausland.

Sergej Esenin blieb. Er hatte sich bereits vor der Revolution einen Namen als wilder »Bauerndichter« gemacht und war bekannt für seine Alkoholexzesse und seine Schlagfertigkeit. Als Halbwüchsiger mit unbändigen blonden Locken war er aus dem Rjasaner Dorf Konstantinova ausgezogen, um von Bely und Blok zu lernen und der Welt seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Dabei war er stets gut gekleidet aber laut und betrunken. Die Menschen liebten ihn für seine ungekünstelten Verse, für sie verkörperte er das »echt Russische«, er besang die Birkenwälder und die weiten, gesunden Steppen. Er vereinte in seiner Lyrik (wie auch in persona) Düster-Derbes und Sanft-Schwermütiges auf eine für typisch russisch gehaltene Weise.

Mit Gedichten wie »Нивы жаты, рощи голы«, »die Felder gemäht, die Wälder nackt« (1917), sowie »товарищ«, »der Genosse« (1917) galt Esenin für seine Anhänger als der erste Revolutionsdichter. Sein großer, populärer Gegner war kein Geringerer als der »andere« Revolutionsdichter und Futurist Wladimir Majakowskij (1893-1930). In ihren spektakulären öffentlichen Dichterduellen in Fabrikhallen und Kasernen legten beide ihre leidenschaftliche Virtuosität zur Schau und kämpften um die Gunst des Publikums. Majakowskij galt als der Dichter der Massen, des Proletariats. Für Esenin war eine neue Welt nur dann vorstellbar, wenn die alte Dorfgemeinschaft, die unberührte Steppe und der Auerhahn in ihm aufgehoben waren.

Die Frage, was das zu konservierende, das »eigentlich Russische« war, scheint auch Esenin gespalten zu haben. Obwohl seine Gedichte trotz der steten Weiterentwicklung seiner poetischen Sprache eine konstante Antwort darauf geben, war sein Leben geprägt von Zerrissenheit und Extremen – Majakowskij bemerkte abfällig, daß Esenin zu dieser Zeit mehr in Polizeiberichten zitiert wurde als in Büchern. Seine Eskapaden – Gedichtbände Esenins hierzu hießen »Verse eines Skandalisten«, »Beichte eines Hooligans« sowie »Das Moskau der Kneipen« – nahmen zu und bewegten Esenin dazu, sein »Urlager« aus lyrischer und physischer Distanz neu zu betrachten.

Von Juli bis September 1921 bereiste er Taschkent, Baku und Tiflis, dann unternahm er mit seiner Frau Isadora Duncan eine Europa- und USA-Reise, nur um dann enttäuscht nach Moskau zurückzukehren. Im Winter 1924/25, bereits geschieden, erhoffte er sich Heilung von seinem Alkoholismus im Kaukasus. In dieser »Verortungs- und Heilungsphase«, die de facto eine Entzugsphase war, nahmen neue Farbeindrücke, ihre Helligkeitsstufen, der Alkohol, »die verschleierte Schöne«, persische Dichter sowie zentrale Motive der Diwan-Literatur Einzug in seine Gedichte. Es entstanden die Gedichtzyklen mit »Persischen Motiven« (in den Jahren 1924 und 1925; zu einigen Beispielen siehe unten).

Anders als die Ethnographie des Fremden, wie sie Viktor Šklovskij wenige Jahre zuvor in seiner »Sentimentalen Reise« (nach Persien) beschrieben hatte, setzte sich Esenin ernsthaft mit dem kulturellen Gut des »Fremden« auseinander. In Batumi, wo er sich ausgiebig mit der 1916 erschienenen russischen Übersetzung persischer Dichtung beschäftigte, schrieb er: »Ich habe begriffen, was Poesie ist.« Die Zeit zwischen 1924 und 1925 gehört wohl zu den besten Zeiten des Dichters und zu den produktivsten. Paradoxerweise, zugleich konsequenterweise nähert er sich in dem Maß, wie er mit orientalischer Dichtung in Berührung kommt, seinem Puschkin-Ideal und wird klarer und souveräner im Reim. Dabei verläßt Esenin nie sein eigentliches »heimatliches Lager«. Während er in Moskau und Petrograd versuchte, Widersprüche in Exzessen zu übertünchen, scheint für ihn im Kaukasus die Möglichkeit einer Synthese und Weiterentwicklung gekommen zu sein, um die physische Trennung von seinem »Urlager« Rjasan endlich geistig und lyrisch zu überwinden. Der Orient diente ihm dazu, das Seinige neu zu »sprechen« und die notwendigen Metamorphosen seines Geistes durchzustehen.

Kurze Zeit später, am 27. Dezember 1925, beging Sergej Esenin Selbstmord in einem Leningrader Hotelzimmer. Seinem einzig treuen Freund hatte er mit eigenem Blut folgendes Abschiedsgedicht geschrieben:

Auf Wiedersehen, mein Freund, auf Wiedersehen.
Mein liebster, du bleibst in meiner Brust.
Das Gehen war vorherbestimmt,
es verspricht eine Wiederbegegnung

Auf Wiedersehen, mein Freund, ohne Hand und Wort,
Verzage nicht, und sei nicht traurig.
Sterben ist auf dieser Welt nichts Neues,
doch wohl auch das Leben nicht.


Literatur
  • Esenin, Sergej: Stichotvoreniya i poemy./Y. A. Andreev. Leningrad 1990.
  • Esenin, Sergej: Socineniya. Moskva 1991.
  • Zelinsky, Bodo (Hrsg.): Die russische Lyrik. Köln u.a. 2002. (Russische Literatur in Einzelinterpretationen; 1).
  • Lauer, Reinhard: Geschichte der russischen Literatur: von 1700 bis zur Gegenwart. München 2009 (2. Aufl.).
  • Kissel, Wolfgang S. (Hrsg.): Flüchtige Blicke: Relektüren russischer Reisetexte des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2009.


Esenin: Aus den »Persischen Motiven«

»Ich bin nie am Bosporus gewesen«:*

Никогда я не был на Босфоре,
Ты меня не спрашивай о нем.
Я в твоих глазах увидел море,
Полыхающее голубым огнем.

Не ходил в Багдад я с караваном,
Не возил я шелк туда и хну.
Наклонись своим красивым станом,
На коленях дай мне отдохнуть.

Или снова, сколько ни проси я,
Для тебя навеки дела нет,
Что в далеком имени — Россия —
Я известный, признанный поэт.

У меня в душе звенит тальянка,
При луне собачий слышу лай.
Разве ты не хочешь, персиянка,
Увидать далекий, синий край?

Я сюда приехал не от скуки —
Ты меня, незримая, звала.
И меня твои лебяжьи руки
Обвивали, словно два крыла.

Я давно ищу в судьбе покоя,
И хоть прошлой жизни не кляну,
Расскажи мне что-нибудь такое
Про твою веселую страну.

Заглуши в душе тоску тальянки,
Напои дыханьем свежих чар,
Чтобы я о дальней северянке
Не вздыхал, не думал, не скучал.

И хотя я не был на Босфоре —
Я тебе придумаю о нем.
Все равно — глаза твои, как море,
Голубым колышутся огнем.

21 декабря 1924


Ich bin nie am Bosporus gewesen,
Darum frage mich nicht danach.
Erst in deinen Augen habe ich das Meer gesehen,
Lodernd wie ein blauer Feuerschein.

Ich zog nie nach Bagdad mit Karawanen,
Brachte Seide nicht, noch Henna hin.
Beug dich etwas vor, du schöne Pflanze,
Gönn mir etwas Ruhe auf den Knien.

Ich sag dir, und hoff auf eine Kusshand,
Ist's für dich auch gar nicht int'ressant,
Dass ich Dichter bin im fernen Russland,
Noch dazu bekannt und anerkannt.

Die Taljanka klingt in meiner Seele,
Mondschein – und ich hör nur Hunde belln;
Würdest du nicht, Perserin, gern sehen
Mein tiefblaues Land, so weit und fern?

Ich kam nicht hierher aus Langeweile,
Du riefst mich, noch Unsichtbare, her.
Mich umarmen zarte Schwanenhände, deine,
Die zwei Schwingen leicht vergleichbar wärn.

Lang schon wünsch ich mir vom Schicksal Ruhe,
Hätt mein altes Leben fast verflucht,
Gib mir doch von frohen Dingen Kunde,
Die dein Land erfülln im Überfluss.

Dämpf in mir die Schwermut der Taljanka,
Heb den Lebensgeist mit frischem Wein,
Dass ich an des fernen Nordes Pflanze
Nicht mehr denken muss, seufzen und sehnen.

Obwohl ich nie am Bosporus gewesen –
Für dich denke ich mir einen aus.
Deine Augen gleichen ganz dem Meere,
Zeigen flackerblauen Feuerschein.

21. Dezember 1924

[* Geringfügig veränderte Fassung von Alev Masarwa auf Grundlage der Übersetzung von Eric Boerner]



Auszüge aus weiteren Gedichten der »Persischen Motive«:**


Голубая родина Фирдуси,
Ты не можешь, памятью простыв,
Позабыть о ласковом урусе
И глазах, задумчиво простых,
Голубая родина Фирдуси.

Хороша ты, Персия, я знаю,
Розы, как светильники, горят
И опять мне о далеком крае
Свежестью упругой говорят.
Хороша ты, Персия, я знаю.

... ... ...

Firdausis blaues Heimatland,
Kannst doch nicht so kalt, gedankenschwach,
Ganz vergessen jenen Russenmann
Und die Augen, einfach und bedacht,
Ach Firdausis blaues Heimatland.

Persien, ich weiß, bist wunderschön,
Rosen, die wie Kerzenleuchter strahlen
Und vom fernen Landstrich mir erzählen,
Wenn sie frisch und biegsam vor mir stehn.
Persien, ich weiß, bist wunderschön.

... ... ...

(März 1925)

* * *

У всего своя походка есть:
Что приятно уху, что – для глаза.
Если перс слагает плохо песнь,
Значит, он вовек не из Шираза.

Про меня же и за эти песни
Говорите так среди людей:
Он бы пел нежнее и чудесней,
Да сгубила пара лебедей.

Die Geschmäcker sind nun mal verschieden:
Der eine hört, ins Aug der andre fasst.
Wenn ein Perser schlechte Lieder schmiedet,
Heißt das, er stammt niemals aus Schiras.

Sagt den Leuten, hab ich ausbedungen,
Wenn man meine Lieder spielt und hört:
Zarter hätt er, herrlicher gesungen,
Hätt ein Schwanenpaar ihn nicht zerstört ...

(August 1925)

* * *

Улеглась моя былая рана –
Пьяный бред не гложет сердце мне.
Синими цветами Тегерана
Я лечу их нынче в чайхане.

Сам чайханщик с круглыми плечами,
Чтобы славилась пред русским чайхана,
Угощает меня красным чаем
Вместо крепкой водки и вина.

Угощай, хозяин, да не очень.
Много роз цветет в твоем саду.
Незадаром мне мигнули очи,
Приоткинув черную чадру.

... ... ...

Es verheilte meine alte Wunde –
Der Säuferwahn zernagt mir nicht das Herz.
Mit den blauen teheraner Blumen
Heil ich heut im Teehaus meinen Schmerz.

Selbst der Teehauswirt mit runden Schultern,
Dass sein Haus dem Russen besser scheint,
Dient dem Gast mit rotem Tee geduldig
Anstelle starken Wodkas oder Weins.

Übertreibe, Wirt, nicht die Bedienung,
In deinem Garten viele Blumen blühn.
Nicht vergeblich seh ich Augen blinzeln,
Die unterm Tschador zu sehen sind.

 ... ... ...

(1924)

* * *

Ты сказала, что Саади
Целовал лишь только в грудь.
Подожди ты, бога ради,
Обучусь когда-нибудь!

... ... ...

Ты пропела: «За Евфратом
Розы лучше смертных дев».
Если бы я был богатым,
То другой сложил напев.

Я б порезал розы эти,
Ведь одна отрада мне –
Чтобы не было на свете
Лучше милой Шаганэ.

И не мучь меня заветом,
У меня заветов нет.
Коль родился я поэтом,
То целуюсь, как поэт.

Du erzähltest, dass Saadi
Immer nur die Brüste küsste.
Warte, diese Gottesgabe
Üb auch ich schon bald beflissen!

... ... ...

Und du sangst: »Hinter dem Euphrat
Rosen blühn schöner als Mädchen«.
Wär ich reich und auch begabt,
Andre Verse würd ich geben.

Solche Rosen zu beschneiden,
Wär mein einzig Glück im Leben –
Dass auf Erden hier nicht eine
Schöner wär als Schagané.

Quäl mich nicht mit Geboten,
Nie warn mir Gebote wichtig.
Da als Dichter ich geboren,
Küsse ich auch wie ein Dichter.

(1924)

* * *

В Хороссане есть такие двери,
Где обсыпан розами порог.
Там живет задумчивая пери.
В Хороссане есть такие двери,
Но открыть те двери я не мог.

У меня в руках довольно силы,
В волосах есть золото и медь.
Голос пери нежный и красивый.
У меня в руках довольно силы,
Но дверей не смог я отпереть.

... ... ...

Dort in Chorasan sind solche Türen,
Wo der Rosenstock auf Schwellen rankt.
Dort lebt eine, die bedacht sich zierte.
Dort in Chorasan sind solche Türen,
Die mir aufzustoßen nicht gelang.

Meine Arme sind gewöhnlich kräftig,
Und mein Haar hat Gold und Kupfer auch.
Ihre Stimme war so schön und zärtlich.
Meine Arme sind gewöhnlich kräftig,
Doch die Türen schlossen sie nicht auf.

... ... ...

(März 1925)

[** Nach der Übersetzung von Eric Boerner]

22.03.2011

Presseschau für den 22. März: Stimmen und Kommentare zum Krieg in Libyen

Aktualisiert um 21.30 Uhr

(Phyllis Bennis, aljazeera.net / 22.03.2011)
Despite its official UN-granted legality, the credibility of Western military action in Libya is rapidly dwindling.

(Corriere della Sera / 22.03.2011)
Intesa sulla guida della coalizione: «Per l'Alleanza un ruolo chiave nella struttura di comando»

(ANTONINO CAFFO, lastampa.it / 22.03.2011)
Il sito americano Global Security pubblica un report sullle armi in mano agli uomini di Gheddafi.

(lexpress.fr / 22.03.2011)
Les pays membres de l'Otan s'employaient toujours mardi à surmonter leurs désaccords et à déterminer qui prendra la direction des opérations anti-Kadhafi lorsque les Etats-Unis se mettront en retrait.

(Elizabeth Pineau, lepoint.fr / 22.03.2011)
Malgré quelques bémols et mises en garde, une quasi-unanimité a prévalu mardi au Parlement dans le débat sur l'intervention militaire en Libye, où la France parle déjà d'organiser la paix. A l'exception du Parti communiste, l'ensemble de la classe politique a approuvé les opérations armées lancées samedi pour empêcher le colonel Mouammar Kadhafi d'attaquer sa population.

(Michael Martens, FAZ.net / 22.03.2011)
Ankara ist in der Libyen-Frage in einer schwierigen Position: Einerseits will es gefragt werden, dabei sein und gestalten - dann aber erschrickt es vor den Zumutungen der Wirklichkeit. Mittlerweile lehnt Ministerpräsident Erdogan einen Einsatz gegen Gaddafi aber nicht mehr kategorisch ab.

(Hauke Friederichs, ZEIT.de / 22.03.2011)
Die Allianz zeigt sich seit Tagen handlungsunfähig. Auch die EU-Staaten können sich nicht auf eine Außenpolitik einigen. Libyen wird zur Krise der westlichen Bündnisse.

Nato in der Sackgasse
(Stefanie Bolzen, welt.de / 22.03.2011)
Stundenlange Sitzungen im Brüsseler Hauptquartier brachten keine Bewegung: Auch am vierten Tag nach Verabschiedung der UN-Resolution haben die 28 Nato-Mitglieder weiter um das Kommando beim Libyen-Einsatz gerungen. Statt Einigkeit herrscht Chaos, verursacht durch das britische und französische Vorpreschen und die damit einhergehenden sehr unterschiedlichen Positionen einzelner Mitglieder.

"Der Westen hat keine gemeinsame Strategie": Interview mit Otfried Nassauer
(cicero.de / 22.03.2011)
Die Intervention der Alliierten in Libyen geht weiter und wirft die Frage nach der Legitimität eines solchen Einsatzes auf. Welche Ziele werden eigentlich verfolgt und auf welcher rechtlichen Grundlage? Ein Interview mit dem Friedensforscher und Militärexperten Otfried Nassauer.

Top Ten Ways that Libya 2011 is Not Iraq 2003
(Juan Cole, www.juancole.com / 22. 03.2011)
The differences between George W. Bush’s invasion of Iraq in 2003 and the current United Nations action in Libya.

Libyen: Die flüchtige Macht der Rebellen
(Jonathan Stock, SPIEGEL-Online / 22.03.2011)
Sie wollen die Macht in Libyen übernehmen - doch die Regierung der Rebellen in Bengasi ist ein flüchtiges Gremium: Der Chef hält sich versteckt, gemeinsame Treffen gibt es nicht, selbst viele Namen sind geheim. Im Interview erklärt der Generalsekretär, wie seine Leute die Zukunft des Landes organisieren wollen. 

Nato-Strategie in Libyen: Getrennt bombardieren, gemeinsam streiten
(Carsten Volkery, SPIEGEL-Online, 22.03.2011)
Zank lähmt das westliche Militärbündnis wie selten zuvor in seiner Geschichte. Seit Tagen debattiert die Nato, wer das Kommando im Libyen-Einsatz übernehmen soll - doch selbst wenn bald ein Kompromiss steht: Es fehlt die politische Strategie für den Angriff.

Luftangriffe auf Libyen: Gefangen in Gaddafis kleiner Welt
(Tomas Avenarius, sueddeutsche.de/qantara.de / 22.03.2011)
Werden Europa und die USA in die Wirren eines neuen Konflikts in der islamischen Welt verwickelt? In Libyen droht ein Bürgerkrieg, der die Region auf Jahre destabilisiert. Der Angriff der Alliierten könnte das Blatt wenden – und der Westen am Ende bei den Arabern an Glaubwürdigkeit gewinnen. Ein Kommentar von Tomas Avenarius

John McCain: U.S. Military Strikes In Libya Averted 'Horrible Blood Bath'
(huffingtonpost.com / 22.03.2011)
Sen. John McCain says the military strikes against Libya were necessary because there would have been "a horrible blood bath" under besieged strongman Moammar Gadhafi without international intervention.

Dibattito: Pro o contro l'intervento militare in Libia? Un mondo vecchio in guerra
(Gianni Vattimo, micromega-online / 22.03.2011)
In ogni caso, la questione si pone con urgenza. Le tecnologie invecchiano, come Fukushima insegna. Tutto il nostro mondo è troppo vecchio: è vecchio l’Fmi, è vecchia l’Europa, è vecchia l’Onu. E, alla prossima crisi, i Bric non staranno a guardare.

Bomben treffen Zivilisten: Internationale Kritik an westlicher Militärintervention in Libyen wächst
(hintergrund.de / 21.03.2011)

Libyen: „Keine Bombe bringt Frieden“
(Radio Vatikan / 22.03.2011)
Der aus Italien stammende Bischof in Tripolis, Giovanni Innocenzo Martinelli, hält der internationalen Staatengemeinschaft zudem mangelnde diplomatische Bemühungen um eine Beilegung des Konflikts in Libyen vor.

Lybien: Eingreifen oder nicht? - Wozu drängt oder rät der christliche Glaube?
(Heinz-Gerhard Justenhoven, Erzbistum Hamburg / 22.03.2011)
Video-Interview mit Prof. Justenhoven vom Institutes für Theologie und Frieden


Aktualisiert um 13.00 Uhr

Steinbach kritisiert Militäreinsatz gegen Libyen
(Neue Presse Hannover / 22.03.2011)
Der Nahostexperte Udo Steinbach kritisiert den internationalen Militäreinsatz gegen Libyen scharf. "Dieser Militäreinsatz ist in höchstem Maße fragwürdig, die Folgen sind unkalkulierbar", sagte Steinbach der "Neuen Presse" (Dienstagsausgabe) aus Hannover.


Völkerrecht contra Bürgerkrieg: Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim
(Reinhard Merkel, FAZ.net / 22.03.2011)
Die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats vom 17. März, die den Weg zur militärischen Intervention in Libyen freigab, und Maß und Ziel dieser Intervention selbst überschreiten die Grenzen des Rechts. Nicht einfach nur die Grenzen positiver Normen – das geschieht im Völkerrecht oft und gehört zum Motor seiner Entwicklung. Sondern die seiner Fundamente: der Prinzipien, auf denen jedes Recht zwischen den Staaten beruht. Die Entscheidung der Bundesregierung, der Resolution nicht zuzustimmen, war richtig.


Nato und Libyen: Die Stärke der Schwachen
(Steffen Hebestreit, fr-online / 22.03.2011)
Die Nato preist sich selbst gern als mächtigstes Militärbündnis. Gegenseitige Unterstützung versichern sich die Mitglieder der Allianz, die auf 28 Mitglieder angewachsen ist. Doch die Militäraktion gegen Gaddafi sorgt für Streit – und lähmt das Engagement der Nato.


Gabriele Albertini im Gespräch zu Libyen: "Die Menschenrechte der Zivilbevölkerung schützen"
(Europäisches Parlemant, Pressemitteilung / 22.03.2011)
Seit dem Wochenende wird die Flugverbotszone über Libyen militärisch durchgesetzt, um Zivilisten zu schützen. Davor konnten sich die Rebellen nur schwer gegen Gaddafis Gegenoffensive verteidigen, die internationale Gemeinschaft fürchtete eine humanitäre Katastrophe. Am 10. März machten sich die Abgeordneten des EU-Parlaments für ein Flugverbot stark. Wir sprachen darüber mit dem italienischen EU-Abgeordneten Gabriele Albertini (EPP), Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten.


Guerre en Libye, le coût pour la France
(Emmanuel Cugny, france-info.com / 22.03.2011)
La guerre en Libye … la France est engagée aux côtés de la Grande-Bretagne et des Etats-Unis. La guerre a toujours un coût … que peut-on dire à ce sujet pour la France?


Libye: Une guerre pour quoi?
(francesoir.fr / 22.03.2011)
Les première dissensions se font entendre au niveau de la coalition internationale. Le Congrès américain a dénoncé l'engagement des États-Unis. Dans d'autre pays, de plus en plus de voix s'élèvent.


Pour ou contre l'intervention en Libye?
(Isabelle Hachey & Laura-Julie Perreault, cyberpresse.ca / 22.03.2011)
Les pays de l'OTAN ont eu droit à de vigoureux débats hier. Des chefs politiques, dont le premier ministre russe, Vladimir Poutine, ont durement critiqué les premières frappes aériennes. Et le mécontentement est en train de gagner le Québec. Pour ou contre l'intervention? Voici deux points de vue.


Streitfall Libyen-Einsatz Deutsche Außenpolitik - eine Farce
(Joschka Fischer, sueddeutsche.de / 22.03.2011)
Was hat sich der deutsche Außenminister dabei gedacht? Erst schlug er sich auf die Seite der arabischen Freiheitsrevolutionen, ließ sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo feiern, dann forderte er den Sturz Gaddafis - nur um schließlich im Sicherheitsrat den Schwanz einzuziehen. Mit einer an Werte gebundenen Außenpolitik hat das nicht viel zu tun gehabt.


Cohn-Bendit zu Libyen-Debatte: "Ich verstehe meine eigene Partei nicht"
(SPIEGEL-Online / 22.03.2011)
In der Libyen-Frage waren die Grünen erst für die deutsche Enthaltung im Uno-Sicherheitsrat - nun sind sie dagegen. Auch andere Parteien lavieren. Daniel Cohn-Bendit, Grünen-Fraktionschef im Europa-Parlament, kritisiert im Interview seine Partei und attackiert Kanzlerin Merkel.


More unanswered questions over Libya
(dailymail.co.uk / 22.03.2011)

Libyan operation hampered by confusion, dispute
(Ewen MacAskill & Nick Hopkins, observer.ug / 22.03.2011)
Lack of resolution over who will take control of military operation tests patience of US. The US has showed signs of exasperation with its European partners amid confusion over who will take control of the Libyan operation from America.


Libyan bombing 'unconstitutional', Republicans warn Obama
(Ewen MacAskill, guardian.co.uk / 22.03.2011)
US public opinion split as Republicans claim Obama's use of military force in Libya is 'an affront to our constitution'


The Shoals of Tripoli
(Dominic Tierney, theatlantic.com / 22.03.2011)
Obama must navigate rival agendas from the international coalition flying through Libyan skies. Is the mission to stop Qaddafi from harming civilians or to compel his surrender?


War is peace: A Reply
(Oliver Duggan, independent.co.uk / 22.03.2011)
Here we go again. As military operations wind down in Iraq and the consistent trickle of casualties in Afghanistan are over-shadowed by the thousands drowned in Japan and the hundreds battered in Northern Africa,  the anti-war protesters need a new hook from which to hang their banner. So, in the name of shouting loudest, reasoned consideration has given way to hysterical reactions. The argument goes like this; our dark screens of the Libyan night-sky are being light up by the dull glow of cruise missiles therefore we are at war, we must be, and it’s for oil, it must be.

21.03.2011

Aktuelle Presseschau: Stimmen und Kommentare zum Krieg in Libyen

In den westlichen Staaten, nicht nur in Deutschland, wird zur Zeit eine Debatte über Berechtigung, Sinn, Zweck und Risiken der westlichen Militärintervention in Libyen geführt. Deutschland hatte sich bei der Abstimmung über die zugrundeliegende UN-Resolution (Auszüge hier) enthalten.

Aktualisiert um 22.38 Uhr.

Warten auf Wunder in der Wüste: Die Briten und der Krieg
(Alexei Makartsev, blog.rhein-zeitung.de / 21.03.2011)
Es ist ein schwieriger Krieg. Natürlich hat der Despot in Tripolis aus Bosnien, dem Irak, Afghanistan und anderen Konflikten gelernt. Es gibt genügend Fanatiker um ihn herum. „Odyssey Dawn“ wird uns noch lange beschäftigen. Die angebliche arabische Einheit gegen Gaddafi ist eine Fata Morgana. Die Ressourcen der Koalition sind begrenzt. Es ist unmöglich, mit Raketen die Regierungstruppen zu bekämpfen, die sich in Misurate, Sirte und anderen Städten verschanzt haben. Es wird kein Wunder in der Wüste geben. Oder doch? Ich würde mich so gerne täuschen.


FR-Interview mit dem Politikwissenschaftler Volker Perthes: „Libyen wird gespalten sein“
(Michael Hesse, fr-online / 21.03.2011)
Man kann nur davor warnen, sich in einen Bürgerkrieg zu involvieren. Nicht nur, weil dies militärisch schwierig ist, sondern auch, weil es in Bürgerkriegen häufig wechselnde Frontverläufe und Parteien gibt, die vergleichsweise opportunistisch sind und mit der Herstellung einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung wenig zu tun haben.


Questions autour de l'intervention en Libye
(Pierre COCHEZ et Agnès ROTIVEL, la-croix.fr / 21.03.2011)

Is Muammar Gaddafi a target? PM and military split over war aims
(Patrick Wintour and Ewen MacAskill, guardian.co.uk / 21.03.2011)David Cameron says Libyan leader may be a legitimate target while Chief of the Defence Staff said he was 'absolutely not'.

Kommentar zu Libyen
(Neue Osnabrücker Zeitung / 21.03.2011)

Die arabische Rolle bleibt symbolisch
(Astrid Frefel, standard.at / 21.03.2011)
Der schwammige Entscheid der Arabischen Liga zur Flugverbotszone über Libyen macht jetzt Probleme bei der Umsetzung - Noch macht man mit, aber der Präzedenzfall beunruhigt viele arabische Staatschefs.

Libye: Doit-on déclarer la guerre pour pouvoir la faire?
(Cécile Dehesdin, slate.fr / 21.03.2011)
La France avait-elle besoin de déclarer la guerre avant de pouvoir participer aux opérations militaires en Libye, mandatées par le Conseil de sécurité des Nations unies? Et la résolution de l’ONU est-elle une déclaration de guerre?

Die SPD, Westerwelle und der Libyen-Krieg: Kakophone Führung im Willy-Brandt-Haus
(Majid Sattar, FAZ.net / 21.03.2011)
Die SPD-Spitze ist nicht in der Lage, ihre Abgeordneten auf eine einheitliche Linie zu Libyen einzuschwören. Die Absicht, das Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten, weicht der Kalkulation, dass Schwarz-Gelb auf allen Feldern attackiert werden müsse.

Diese Intervention ist durch nichts zu rechtfertigen
(Michael Walzer, standard.at / 21.03.2011)
An der Intervention in Libyen stimmt so vieles nicht, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll.


Analyse zu Deutschlands Verzicht auf einen Militäreinsatz in Libyen: Mit leichter Hand gestrichen
(Holger Schmale, fr-online / 21.03.2011)
Kanzlerin Merkel imitiert in Libyen, was sie Schröder im Fall Irak vorwarf. Sie sucht den Sonderweg und scheut den Militäreinsatz – mit Blick auf die Wähler.

Wieder nicht überzeugt
(Hans Monath, tagesspiegel.de / 21.03.2011)
Manchmal scheint sich Geschichte doch zu wiederholen. Mit ihrer Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zur Libyen-Resolution hätten Angela Merkel und Guido Westerwelle Deutschland außenpolitisch isoliert, werfen SPD und Grüne der Kanzlerin und dem Außenminister nun vor. Es ist nur wenige Jahre her, dass die nun Kritisierten den Umgang eines SPD-Kanzlers mit dem UN-Gremium mit den gleichen Worten scharf verurteilten.

Pour ou contre l'intervention en Libye?
Meinungsforum auf libération.fr

Libyen: Strategie der Aufständischen Verloren in der Wüste
(Tomas Avenarius, sueddeutsche.de / 21.03.2011)
Die libyschen Rebellen sind nicht militärisch trainiert, haben keine Kommandostruktur und nur leichte Waffen. An Motivation mangelt es ihnen hingegen nicht. Der Bürgerkrieg könnte lang und hässlich werden.

Obama’s disastrous U.N. resolution
(Marc A. Thiessen, washingtonpost.com / 21.03.2011)
It tells you everything you need to know about Barack Obama’s worldview that he sought authorization from the United Nations, and not from Congress, before launching military action in Libya. (The fact is, as commander in chief, he required neither.) But putting aside the president’s obeisance to an international body over one representing the American people, the U.N. resolution he secured could prove to be a disaster for the Libyan people and American national security.

Libye: Gilles Kepel et Bernard Rougier décodent la situation
(ActuaLitté / 21.03.2011)
Face à la complexité de ce qui se produit actuellement sur le pourtour méditerranéen jusqu’au Moyen-Orient, il faut se refuser à toute simplification. Rien ne doit être analysé avec un regard occidental.

Sünde oder Pflicht?
(domradio.de, 20.03.2011)
Richtig oder falsch? Zu spät oder zu früh? Sünde oder Pflicht? Der Militäreinsatz der Vereinten Nationen in Libyen spaltet auch Kirchenvertreter weltweit. domradio.de dokumentiert die wichtigsten Stimmen.

Opinion: In Libya, an unstated mission
(Andy Green, baltimoresun.com / 21.03.2011)
The allied military strikes in Libya may well be, in British Prime Minister David Cameron’s formulation, “necessary, legal and right.” It is clear that Libya’s rebel movement would soon have collapsed without foreign help. The resolution authorizing force by the United Nations provides a legal basis for the action, and the mercilessness with which Libyan leader Moammar Gadhafi was training his military forces against his own people made it right. But that leaves other crucial questions, primarily: What is our objective, and can we achieve it through airstrikes alone?

Presseschau zur Libyen-Position: "Wir wissen nicht, wofür Deutschland steht"
(Oliver Sallet, SPIEGEL-Online, 21.03.2011)

Angriffe auf Libyen: Planlos in die Dämmerung
(Florian Güßgen, stern.de / 21.03.2011)
Die Kampfjets fliegen, die Bomben explodieren. Der Westen hilft den libyschen Rebellen und attackiert Diktator Gaddafi. Nur: Wie kommen die Angreifer da wieder raus? Drei Szenarien.

Fragen und Antworten zu Libyen: Ein Krieg ohne klare Erfolgsgarantie
(GODEHARD UHLEMANN, rp-online.de / 21.03.2011)
Der Weltsicherheitsrat hat angeordnet, eine Flugverbotszone über dem nordafrikanischen Libyen einzurichten und Machthaber Gaddafi davon abzuhalten, die eigene Bevölkerung zu bombardieren. Der Einsatz läuft auf Hochtouren. Er ist mit einer Fülle an militärischen und politischen Risiken behaftet.

Krieg in Libyen: Allianz der unterschiedlichen Motive
(sueddeutsche.de / 21.03.2011)

Wer A sagt ...
(Otfried Nassauer, freitag.de / 21.03.2011)
Frankreich übernimmt die Führung eines Angriffs auf Libyen, dessen Fortgang ungewiss ist: Werden am Ende doch Bodentruppen gebraucht, um Gaddafis Macht zu brechen?

Kommentar: Libyen - Deutscher Eiertanz
(Elisabeth Zoll, Südwest Presse / 21.03.2011)
Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass", unter dieses Motto lässt sich derzeit die deutsche Außenpolitik stellen. Es ist noch nicht lange her, da tönte Außenminister Guido Westerwelle (FDP), man stehe an der Seite der Freiheitsbewegungen in der arabischen Welt. Ganz so, wie es sich für die von ihm proklamierte "werteorientierte Außenpolitik" gehörte. Was folgte, war ein Eiertanz.

Leitartikel: Bomben für die Demokratie
(suedkurier.de / 21.03.2011)
Als die ersten Bomben auf Libyen fielen, saß die Nato noch beim Tee. Als die ersten Besatzungen an Bord der französischen, britischen und amerikanischen Militär-Jets auf den Auslöser drückten, eierte die Allianz noch rum, weil man bis dahin keinen Konsens gefunden hatte.Das größte und wichtigste Militärbündnis der Welt zeigte sich – zahnlos?

Krieg schafft keinen Frieden: Friedensbewegung protestiert gegen Bombardierungen
(Neues Deutschland / 21.03.2011)
An verschiedenen Orten Deutschlands wurde am Wochenende Protest gegen die Bombardierung libyscher Städte durch westliche Staaten deutlich. Es gab Mahnwachen und Protesterklärungen.

Libyen-Krise: Obamas Morgendämmerung
(Klaus-Dieter Frankenberger, FAZ.net / 21.03.2011)
Der amerikanische Präsident wollte diesen Krieg gegen das Gaddafi-Regime nicht. Doch ein Abschlachten der Aufständischen in Libyen konnte er nicht zulassen. Mit rhetorischen Kunstgriffen versucht Obama nun den Vergleich mit dem Vorgehen Bushs im Irak zu vermeiden.

Target in Libya Is Clear; Intent Is Not
(HELENE COOPER and DAVID E. SANGER, nytimes.com / 20.03.2011)
All the deliberations over what military action to take against Col. Muammar el-Qaddafi of Libya have failed to answer the most fundamental question: Is it merely to protect the Libyan population from the government, or is it intended to fulfill President Obama’s objective declared two weeks ago that Colonel Qaddafi “must leave”?

Kommentar: Berlin verliert die Führungsrolle
(Thomas Wels, derwesten.de / 20.03.2011)
Es ist atemberaubend, mit welcher Geschwindigkeit Schwarz-Gelb jahrzehntelang geltende Werte beiseitefegt. Der Beschluss, sich in der Libyen-Frage nicht an die Seite der westlichen Allianz und arabischen Staaten, sondern an die Chinas und Russlands zu stellen, ist eine verstörende Volte der Berliner Regierung – aber mitnichten ihre erste.  

Nicolas Sarkozy en «chef de guerre»
(Charles Jaigu, lefigaro.fr / 22.03.2011)
Emporté par sa conviction, le président a mené l'offensive diplomatique avant de prendre la tête de la coalition.


Libyen ist nicht gleich Tunesien und Ägypten
(Umar Tall, afrikanet.info / 18.03.2011)
Im UNO-Sicherheitsrat wurde beschlossen, dass die „Weltgemeinschaft“ in Libyen Kriegspartei  werden darf und zugunsten den Rebellen in der Cyrenaika militärisch eingreifen wird. Dass ein Teil der Rebellen eine militärische Offensive starteten und als Lynchmob Jagd auf GastarbeiterInnen aus afrikanischen Nachbarländern machte, scheint das Bild nicht zu trüben. Die „Arabische Liga“ befand, dass die Ex-Kolonie Libyen von Ex-Kolonialmächten diszipliniert werden müsse. Selbst Saudi Arabien stimmte in der AL für ein Eingreifen, während es selber Truppen nach Bahrain schickte um die DemonstrantInnen in Schach zu halten.

18.03.2011

Zur Geschichte des Islams in Tunesien, Folge 3

Historische Anekdoten über Muslime und Christen im 8. Jahrhundert

Von Marco Schöller


Die Meuterei der Leibwache
Der neu eingesetzte umaiyadische Kalif Yazîd ibn 'Abd-al-Malik (reg. 720–724) hatte schon wenige Wochen nach seinem Herrschaftsantritt den Anhänger seines Vorgängers und amtierenden Gouverneur Ifrîqiyahs, Ibn Abî l-Muhâjir, abberufen und durch seinen Günstling Yazîd ibn Abî Muslim ersetzen lassen. Yazîd ibn Abî Muslim war ein Klient des für seine Grausamkeit berüchtigten al-Hajjâj ibn Yûsuf, der im Irak ein Schreckensregiment errichtet hatte. Yazîd war aus dem gleichen Holz geschnitzt, doch formierte sich im tunesischen Kairoaun bald der Widerstand gegen ihn und er wurde bereits nach wenigen Monaten ermordet. Folgende Episode wird uns als Anlaß für seine Ermordung berichtet:

Yazîd hatte sich mit einer Leibwache aus Berbern umgeben, da er den arabischen und persischen Truppen nicht recht traute. Eines Tages soll er von der Kanzel der Großen Moschee Kairouans gesagt haben: »Ich habe beschlossen, die Hände meiner Leibwächter zu tätowieren, wie es die byzantinischen Könige zu tun pflegen. Auf die rechte Hand soll der Name des jeweiligen Leibwächters, auf die linke sollen die Worte ›Meine Leibwache‹ tätowiert werden, damit sie daran unter allen Leuten erkannt werden!« Als die Männer der Leibwache dies hörten, waren sie nicht einverstanden und sprachen unter sich: »Er will uns wie Christen behandeln!« Sie kamen deshalb überein, Yazîd zu ermorden. Als dieser auf dem Weg von seinem Amtssitz in die Moschee war, fielen sie über ihn her. Man hieb ihn an der Gebets- stätte in Stücke.

(Aus Ibn 'Idhârî al-Marrâkushî, al-Bayân al-muhgrib fî akhbâr al-Andalus wa-l-Maghrib)

* * *
Ein Richter in christlicher Gefangenschaft
Der Richter 'Abd ar-Rahmân ibn Ziyâd ibn An'um (gest. 778), der in Kairouan ansässig war, geriet während eines Kriegszugs in christliche Gefangenschaft. Das soll sich im Jahr 734 auf einer Expedition gegen Sizilien zugetragen haben. Sizilien gehörte zu dieser Zeit zum Herrschaftsbereich der Byzantiner.

An einem christlichen Festtag wurden die muslimischen Gefangenen in Sizilien dem dortigen byzantinischen Gouverneur – in den Quellen »König« genannt – vorgeführt, und es wurde ihnen ein üppiges Mahl aufgetischt. Eine noble Dame, die von der guten Behandlung der Araber durch den König erfuhr, trat vor ihn hin, zerriss ihr Gewand, raufte sich die Haare aus und schwärzte ihr Gesicht. Der entsetzte König fragte sie nach dem Grund für ihr Verhalten, und sie entgegnete: »Die Araber töteten meinen Sohn, sie töteten meinen Mann, sie töteten meinen Vater und sie töteten meinen Bruder! Und dir fällt nichts besseres ein, als sie so gut zu behandeln?« Da verdüsterte sich das Gemüt des Königs und sein Herz verhärtete sich. Er befahl, die Araber zu ihm zu bringen, und ordnete an, daß sie alle zu köpfen seien, einer nach dem anderen.

Ibn An'um erzählte später, daß einige seiner Kameraden bereits hingerichtet waren, als die Reihe an ihn kam. Da bewegte er seine Lippen und sprach: »Gott, Gott, Gott! Mein Herr: ich geselle Gott nichts bei, und ich nehme nur Gott zum Freund und Beschützer!« Das sagte er dreimal. Der König hatte bemerkt, daß Ibn An'um etwas gesprochen hatte, und ließ deshalb einen Gelehrten rufen, um den Wortlaut zu erfahren. Als dem König dann mitgeteilt worden war, was Ibn An'um gesagt hatte, fragte er: »Woher hast du gelernt, solches zu sagen?« Ibn An'um antwortete: »Unser Prophet – Gott segne ihn und gebe ihm Heil! – hat es uns so befohlen.« Der König erwiderte, auch Jesus habe den Christen im Neuen Testament dasselbe befohlen. Daraufhin ließ er Ibn An'um und seine noch lebenden Gefährten frei.

Ob diese Geschichte freilich der Wahrheit entspricht, wurde schon von einigen muslimischen Historikern angezweifelt, die berichten, daß auch erzählt werde, Ibn An'um sei tatsächlich von einem abbasidischen Kalifen aus der Gefangenschaft freigekauft worden. Nach anderen kehrte Ibn An'um bereits im Jahr 739 aus der Gefangenschaft nach Ifrîqiyah zurück.

(Aus Abû l-'Arab, Tabaqât 'ulamâ' Ifrîqiyah wa-Tûnis; al-Mâlikî, Kitâb Riyâd an-nufûs; Ibn ad-Dabbâgh, Ma'âlim al-îmân fî ma'rifat ahl al-Qairawân)

* * *
Öl ist nicht gleich Öl
Ahmad ibn Ibrâhîm erzählte, daß Buhlûl ibn Râšid (gest. 799) eines Tages einem Mann zwei Golddinar in die Hand drückte und ihn dann losschickte, damit er von diesem Geld Öl einkaufe. Besonders süß schmeckendes Öl von der Küste sollte es sein, das Buhlûl besonders gern mochte. Der Mann ging also auf den Markt und fragte, wo das süßeste Öl zu haben sei. Man schickte ihn zu einem Christen, der dafür bekannt war, das beste und süßeste Öl zu verkaufen. Der Mann ging also zu dem Christen und verlangte Öl im Wert von zwei Dinaren. Er sagte noch: »Ich kaufe es für Buhlûl ein!« Da sprach der Christ: »Wir sind dank Buhlûl Gott ebenso nahe, wie ihr dank ihm Gott, dem Erhabenen, nahe seid!« Er gab ihm also für zwei Dinar vom süßesten Öl, und zwar soviel, wie man sonst kaum vom schlechtesten Öl für vier Dinar zu kaufen bekam.

Der Mann kehrte zu Buhlûl zurück, übergab ihm das Öl und erzählte, wie es ihm auf dem Markt mit dem Christen ergangen war und was dieser über Buhlûl Gutes gesagt hatte. Er erwähnte auch, daß ihm der christliche Händler viel mehr von dem süßen Öl gegeben hatte, als er für zwei Dinar eigentlich hätte kaufen können. Da sprach Buhlûl: »Gut! Eine Aufgabe hast du erledigt, und nun mußt du noch etwas anderes erledigen: Gib mir die zwei Dinar zurück!« Der Mann erwiderte entsetzt: »Warum in aller Welt, möge Gott es dir wohl ergehen lassen!?« Buhlûl sagte: »Es kam mir gerade in den Sinn, daß Gott, der Erhabene, spricht: Du wirst keine Leute finden, die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und zugleich diejenigen lieben, die sich Gott und Seinem Gesandten widersetzen! (Koran 58:22) Ich fürchte aber, daß ich in meinem Herzen Liebe zu diesem Christen entwickeln werde, wenn ich erst von seinem köstlichen Öl gegessen habe. Dann wäre ich selbst einer derjenigen, die die Widersacher Gottes und Seines Gesandten lieben – und das nur eines so banalen weltlichen Genusses wegen!«

Ibn Nâjî (gest. 1433/4) kommentierte zu dieser Geschichte, Buhlûl habe nur aus Frömmigkeit so gehandelt. Tatsächlich aber, so schreibt Ibn Nâjî, beziehe sich der zitierte Koranvers nur auf die Liebe oder Zuneigung im religiösen Sinn, nicht aber auf die Liebe, die das Zusammenleben im Diesseits mit sich bringe: Ein Beispiel dafür sei ja auch, daß es einem Muslim erlaubt sei, eine Christin zu heiraten, und es keinen Zweifel gebe, daß er sie dann, wenn er sie geheiratet habe, auch lieben werde.

(Aus Abû l-'Arab, Tabaqât 'ulamâ' Ifrîqiyah wa-Tûnis; al-Mâlikî, Kitâb Riyâd an-nufûs; Ibn ad-Dabbâgh, Ma'âlim al-îmân fî ma'rifat ahl al-Qairawân)

* * *
Der freundliche Bischof
Im April 793 zog der neue, vom abbasidischen Kalifen Hârûn ar-Rashîd ernannte Gouverneur von Ifrîqiyah, al-Fadl ibn Rauh ibn Hâtim, in Kairouan ein. Keinem Statthalter war zuvor ein so festlicher und freudiger Empfang bereitet worden wie eben diesem Fadl. Verschiedene Festzelte waren errichtet worden, und der Vertreter der christlichen Gemeinde – vermutlich der Bischof, aber in der Quelle einfach »Priester« genannt – hatte über dem Weg einen hölzernen Bogen aufstellen lassen, der mit Duftkräutern behängt war – wohl eine Anspielung auf den Paradiesesgarten. An dem Bogen hing ein Spruchband, auf dem in krakeligen arabischen Buchstaben geschrieben stand: Wir haben dich einen offenkundigen Sieg erringen lassen, * Auf daß dir Gott dir deine vergangenen und künftigen Sünden vergeben möge! (Koran 48:1-2)

Als Fadl den Bogen passierte, fragte er, wer ihn errichten ließ. Man sagte ihm, es sei der Vertreter der Christen gewesen. Fadl sprach: »Bei Gott! Das hat der Christ sehr schön gemacht!« Dann gelangte er bei seinem Einritt in die Stadt zur Moschee von Abu Fihr. Dort erblickte er eine große, nach unten spitz zulaufende Vase aus Glas, die man aufgehängt hatte. Die Vase war mit Wasser gefüllt, und zwei Schlangen (?!) schwammen darin. Fadl erkundigte sich, wer dafür verantwortlich war, und man sagte ihm erneut, es sei der Vertreter der Christen gewesen. Da rief Fadl aus: »Bei Gott, das hat er gut gemacht!«

Fadl hatte schon vor seinem Einzug einen seiner Sekretäre angewiesen, er möge alles aufschreiben, was für seinen Empfang vorbereitet und ausgerichtet werde, damit er sich dafür erkenntlich zeigen könne. Als nun Fadl im Palast des Gouverneurs angekommen war, ließ er sich von seinem Sekretär unterrichten. Da kam der Vertreter der Christen herein, und Fadl sprach sogleich zu ihm: »Wünsch dir etwas!« Da sagte der Christ: »Möge er mir gestatten, eine neue Kirche zu bauen!« Fadl gestattete ihm dies, und so wurde in Kairouan eine neue Kirche errichtet.

(Aus Raqîq al-Kâtib al-Qairawânî, Târîkh Ifrîqiyah wa-l-Maghrib)

15.03.2011

Beim Gehen nach Üsküdar fragte ich mich: Wem gehört dieses Lied?

Ein (Light-)Artikel über Musik, Nationalismus und Migration 

Von Daniel Roters 

In einem Restaurant in Istanbul vernahm die bulgarische
Musikerin und Dokumentarfilmerin Adela Peeva ihr
vertraute Klänge und fragte sich: "Wem gehört dieses Lied?"

„Musik heilt die Wunden im ehemaligen Jugoslawien“, sind sich viele serbische, bosnische, kroatische und mazedonische Musiker einig. Doch spätestens als die bulgarische Dokumentarfilmerin Adela Peeva fragte „Whose Is This Song?“, wurde offensichtlich: Die Hörer sehen dies ganz anders...

Adela Peeva entlarvt in ihrem Dokumentarfilm "Whose Is This Song?" (Originaltitel: "Chia e tazi pesen?") den Wahnsinn des Nationalismus, der nicht vor der Musik Halt gemacht hat. Sie reiste durch Bulgarien, die Türkei, Griechenland, Albanien, Serbien und Bosnien und hörte gemeinsam mit den Menschen „ihre“ Musik. Was wurden Welten zerstört, als Opa Branko in Serbien herausfand, dass „sein“ Lied eigentlich aus Bosnien stammt… oder vielleicht doch aus der Türkei? War es gar ein Song mit Islam-Bezug? Kann doch nicht wahr sein! Gar Feindseligkeiten wurden der Dokumentarfilmerin entgegen geschleudert.

Legenden werden geschmiedet und alle proklamieren einen Song als den ihren, als ginge es um den heiligen Gral. Traurig, aber wahr ist, dass diese Entwicklung erst mit den Balkankriegen einsetzte. Die Kultur hatte einfach vor der Politik kapituliert! In den 60ern und 70ern konnte ein klassisches bosnisches Lied aus dem Genre Sevdalinka Serben, Bosniaken und Kroaten in Bosnien Arm in Arm zum Heulen bringen, doch der Krieg änderte alles. Der Auftrittsort, die Duett-Partner, die Zusammensetzung eines Orchesters und gar die Auswahl der Instrumente konnte für viele paranoide Zeitgenossen ein Anzeichen der Gesinnung, der Herkunft und der Weltanschauung sein, um schnell Freund von Feind unterscheiden zu können.

Anhand eines Liedes hat Adela Peeva dargestellt was passiert, wenn Kultur von der Politik vereinnahmt wird, und sich dann schließlich Menschen verführen und vereinnahmen lassen. Ein Lied war vorher nur wunderschön, doch plötzlich hörte man genauer hin: Wurde das ein oder andere Wort ersetzt, dann war das ein Drama. Ging es nicht mehr um ein schönes anatolisches Mädchen, sondern um den mahnenden Ruf des Muezzins, dann war das eine Katastrophe. Ja und selbst wenn man sich zumindest auf ein Mädchen einigte, dann spekulierte man ob sie nun blond und blauäugig war oder, ob es Rehäuglein waren, die Männerherzen höherschlagen ließen.

Der Song, um den es in „Whose Is This Song?“ geht, heißt „Üsküdar'a gider iken“ (Beim Gehen nach Üsküdar), zumindest ist dies der türkische Titel. In der heutigen Türkei liegt wohl auch der Ursprungsort des Liedes, das eine weite Reise antrat. Andere sagen wiederum das Lied sei gar älter als das Osmanische Reich,  könne gar asiatische Wurzeln haben. Jedenfalls erlangte die türkische Version des Liedes, in dem über die Liebe einer Frau zu einem Schreiber berichtet wird, durch eine Verfilmung mit Zeki Müren von 1968 mit dem Titel „Katip“ (Schreiber) eine gewisse Berühmtheit. In Adela Peevas Film begegnen wir diesem Lied in vielen Gestalten: Als Liebeslied, als religiöse Hymne, als Hymne von Revolutionen, als Militärmarsch oder als musikalisches Bildnis wunderschöner Landschaften.

Und ein wenig Balkan der 90er Jahre steckt doch auch in deutschen Landen. In Deutschland wird der Migrationshintergrund langsam aber sicher zum Migrationsvordergrund. Wie deutsch ist Pizza und woher kommt eigentlich unser Kaffee? Funktioniert Döner auch mit Schweinefleisch? Und wie islamisch ist Oma Lieschen Müller, wenn sie sich im Winter ein Kopftuch überzieht? Was ist Schein und was ist Sein? Wer hat welche Agenda? Wäre die Debatte über Deutschland und die Migrationshinter-, vorder-, unter- und -abgründe eine trockene Wüste, dann wäre so mancher Politiker, so mancher nach Aufmerksamkeit lechzende "Islamkritiker" oder abgesetzte Bundesbänker im Spähtrupp der Durstigen, die verzweifelnd nach Wasser suchen. Man kann doch nicht mit Kanonenkugeln auf Spatzen schießen!? Sie sagen, wir sollen uns auf unsere christlich-jüdischen Wurzeln besinnen, um nicht zu verdursten. Man sagt, sie wären sogar bereit, sich bis zur „letzten Patrone“ der Vernunft zu widersetzen. Irgendwie muss es doch einfacher gehen, ohne Verschwendung von Munition, ohne Kränkungen und Ausgrenzung. Ich sage: Grabt euch endlich einen Brunnen, damit wir entspannter miteinander diskutieren können! Und danach hören wir Weltmusik...

Adela Peevas Film ist aus dem Jahr 2003, doch scheinen die Protagonisten noch im letzten Jahrhundert zu stecken, in pseudonationalen Erinnerungen schwelgend, als die Welt noch eine einfache war. Man könnte den Film nach dem Motto „selber Song, verschiedene Ohren“ kurz zusammenfassen, doch steckt mehr dahinter: Zum einen ist da die Schönheit der Melodie, ihre Vielfalt der Interpretation und eine offensichtlich gemeinsame Wurzel. Zum anderen sind die Menschen taub geworden, sind unter Umständen einfach taub gemacht worden durch die Wirren der Kriege, durch Stereotype und Vorurteile. Sie hören die gemeinsame Melodie nicht mehr, sondern nur noch das, was sie hören wollen.

Aber die Welt des 21. Jahrhunderts sieht anders aus. Da passiert etwas vor unseren Augen. Die Melodie mag leise sein, doch immer mehr Menschen scheinen Sie zu hören, vernetzen sich und schaffen etwas Neues. Machen Sie mit: Hören Sie, sehen Sie, teilen Sie!

Ausschnitte aus Adela Peevas „Whose Song Is it?”:



Inspiriert durch Adela Peeva wurde ein Projekt über „Everybody’s Song“ mit über 500 Musikern aus über 20 Nationen gestartet. Gefördert wurde das Projekt unter anderem von der Europäischen Union.

Und im Folgenden finden Sie Links zu Videos mit einigen verschiedenen Versionen aus aller Welt.
Hierbei gibt es aus den jeweiligen Ländern noch andere Versionen. Oft würden Sie auch den Zusatz finden, dass das jeweilige Lied ein traditionelles Lied des jeweiligen Landes sei, ausgenommen der Beispiele aus den USA und Japan.



  • Bosnien - "Anadolku"
    Ein Ausschnitt aus Adela Peevas Station in Sarajevo. Hier wurde dem Text einfach "im Namen Muhammads" hinzugefügt.

 

14.03.2011

Wie Ost-Jerusalem »entarabisiert« wird

Von Marco Schöller

Nachdem bereits in den letzten Jahren mehrere Projekte zur Einbindung Ost-Jerusalems – namentlich südlich des Tempelbergs im arabischen Viertel Silwân – umgesetzt wurden, gibt es seit Jahresbeginn neue Aktivitäten zu einer weiteren »Entarabisierung« des arabischen Ostteils des Stadt. Die Aktionen, die die strategische Ansiedlung jüdischer Siedler in Ost-Jerusalem zum Ziel haben, treffen sowohl international als auch in Israel selbst auf Kritik. In deutschen Medien wird darüber allerdings nur am Rand berichtet.

Ein Brennpunkt der Entwicklungen ist der arabische Stadtteil  Shaikh Jarrah  westlich des Mount Scopus. Seit mehreren Jahren, genauer gesagt seit 1972, gibt es dort einen Rechtsstreit um die Besitzrechte zwischen den arabischen Anwohnern und jüdischen Israelis. Eine sehr lesenswerte Reportage über den Streit um das Viertel Sheikh Jarrah, der die Entwicklung bis Mai 2010 berücksichtigt, findet sich hier; eine ausführliche Zusammenfassung der Entwicklung mit zahlreichen Fakten zur jüdischen Präsenz in Shaikh Jarrah gibt eine Webseite des Jerusalem Center for Public Affairs.
In den letzten Jahren, und noch einmal in den letzten Wochen, ist dieser Streit um Shaikh Jarrah eskaliert. Der größere Kontext dieses Streits ist der seit vielen Jahren zu beobachtende Versuch, die arabischen Stadtteile Jerusalems zu »entarabisieren«.
Israelische Menschenrechts- organisationen und die Zeitung Haaretz belegen regelmäßig die Absichten der Siedlerorganisation, in dem Bassin, das die Jerusalemer Altstadt im Osten umrundet und das zum arabischen Ostjerusalem gehört, eine starke jüdische Präsenz aufzubauen. »Judaisierung« ist der Begriff, den linke Aktivisten, Medien und Wissenschaftler dafür verwenden. (Quelle)
Im März 2010 wurde vom israelischen Innenministerium ein Plan genehmigt, der die Zerstörung von mehreren Häusern im Besitz von Arabern vorsah, um Platz für 200 neue Wohneinheiten zu machen. Zugleich ist vorgesehen und wurde inzwischen bereits genehmigt, an der Stelle des alten Shepherd Hotels ein »residential area« von 20 Wohneinheiten und ein Konferenzzentrum zu errichten. Alle Wohneinheiten sollen nach Fertigstellung von jüdischen Familien bezogen werden. Mitte Januar begann man in dem Viertel, nach einem vorübergehenden Stopp, mit dem Abriß des Shepherd-Hotels.

Anfang Februar 2011 genehmigte die Stadt Jerusalem die Errichtung von 13 neuen Wohneinheiten für jüdische Familien in Shaikh Jarrah. Seitdem gibt es in diesem Viertel neue Proteste der arabischen Anwohner und Demonstrationen israelischer Friedensaktivisten und Menschenrechtler. Es kam in den letzten Wochen wiederholt zu Gewalt zwischen der Polizei und den jüdischen Bewohnern auf der einen und den Demonstranten auf der anderen Seite; auch kam es wiederholt zu Festnahmen. Zur Zeit lebt ein Dutzend jüdische Familien in zehn Häusern in dem Viertel, nachdem die arabischen Bewohner per Gerichtsbeschluß aus ihren Häusern ausgewiesen worden waren; der erste Räumungsbefehl wurde schon im November 2008 vollstreckt. Offzielle der Stadt Jerusalem verlautbarten, es lägen Pläne für mehrere hundert neue  Wohneinheiten in dem Viertel vor, die in den nächsten Jahren gebaut werden sollen. »I imagine that within 5-10 years some 200 homes for Jews will be built in this area« sagte Arieh King, Vorsitzender des Israel Land Fund. Der Likud-Abgeordnete Elisha Peleg sagte: »I hope as many Jewish neighborhoods as possible are built in east Jerusalem«.

Unterstützt wird der Kampf der arabischen Anwohner von Shaikh Jarrah vom New Israel Fund (NIF) sowie von Vertretern von J-Street:
»NIF, alongside many intellectuals and public figures in Israel, recognizes the importance of the work of the Sheikh Jarrah Solidarity movement, which bravely acts against the injustice caused by the occupation and the undermining of basic human rights of Arabs in east Jerusalem and other places in Israel,« the NIF told The Jerusalem Post. ... »In fighting the illegal and unjust dispossession of Arab families in east Jerusalem by the extreme settler movement, the Sheikh Jarrah protesters call attention to the struggle against discrimination, inequality and anti-democratic efforts in Israel,« it said. (Quelle)
* * *
Abriß des Shepherd Hotels
Das altehrwürdige Shepherd Hotel, das in den 1930er Jahren von Hâjj Amîn al-Husaynî erbaut worden war, wurde 1985 von dem jüdischen Geschäftmann Irving Moskowitz für 1 Mio. USD erworben. Der US-stämmige Moskowitz machte zuletzt mit Bingo-Spiel in Kalifornien ein Vermögen, das er an den Glücksspiel- und Steuerbehörden der USA zum größten Teil vorbeischleust, indem er den Bingo-Club als eine »non-profit organization« ausweist und die Einnahmen zum größten Teil nach Israel transferiert. Dort werden die Gelder verwendet, um jüdische Siedlungsprojekte in Ost-Jerusalem und an anderen Orten – darunter auch in Hebron – zu forcieren:
Each dollar spent on bingo by the mostly Latino residents of Hawaiian Gardens, on the outskirts of Los Angeles, helps fund Jewish settlements on Palestinian land in some of the most sensitive areas of occupied East Jerusalem, particularly the Muslim quarter of the old city, and West Bank towns such as Hebron where the Israeli military has forced Arabs out of their properties in their thousands. (Quelle)
Über diese Aktivitäten geben die offiziellen Webseiten der »Irving I. Moskowitz Foundation« keine Auskunft. Es ist aber unzweifelhaft, daß große Summen von Moskovitz zur Verfügung gestellt werden, um die jüdische Besiedlung, zugleich die »Entarabisierung«, Ost-Jerusalems voranzutreiben:
»Over time, Moskowitz and other supporters of a far-right settler agenda developed a vision of "Judaising" East Jerusalem and its environs. ... The vision has gradually become more ambitious, seeking to dislodge Arab inhabitants from their traditional homes in villages like Silwan in order to transform Jerusalem into an exclusively Jewish city that can never be divided or shared with the Palestinians.« (Quelle)
»Seit Jahrzehnten versucht er [= Irving Moskowitz] dazu beizutragen, Juden in arabischen Stadtteilen anzusiedeln. Mithilfe von Tarnfirmen und Mittelsmännern kauft er Gebäude in arabischen Vierteln der Stadt und ermöglicht dann Juden den Einzug. Bis heute soll er auf diese Weise mehr als 20 Millionen Dollar in Jerusalem investiert haben. Aufsehenerregend ist dabei nicht die eigentlich bescheidene Anzahl seiner Geschäfte, sondern vielmehr sein untrüglicher Instinkt für besonders umstrittene Orte.« (Quelle)
In den 1990er Jahren war Moskowitz in den Konflikt um Ra's 'Âmûd involviert, als in diesem arabischen Viertel in Ost-Jerusalem – unter anderem mit Fürsprache des damaligen Bürgermeisters von Jerusalem, Ehud Olmert – ein jüdisches Siedlungsprojekt verwirklicht werden sollte. Bis ins Jahr 2002 soll die Moskovitz-Foundation 70 Mio. USD für jüdische Siedlungsprojekte in den arabischen Gebieten Israels gegeben haben. Mindestens 5 Mio. USD gingen dabei an die »American Friends of Ateret Cohanim«. Die Organisation Yeshivat Ateret Cohanim unterstützt die jüdische Besiedlung des Ostteils von Jerusalem. Durch Ankauf von Häusern siedeln bislang etwa 1000 Anhänger der Yeshiva in der arabischen Altstadt, doch kam es auch zu illegalen Aktionen: Im April 2009 brachen Anhänger der Yeshiva in ein arabisches Haus in der Altstadt ein und nahmen es in Beschlag. Die Sache ist zur Zeit vor Gericht. Im Jahr 2010 lebten insgesamt etwa 4000 Juden in der Altstadt Jerusalems, 12% Prozent der Gesamtbevölkerung. 70 jüdische Familien und hunderte Yeshiva-Studenten wohnen im arabischen Teil der Altstadt.

In den USA wird die Unterstützerorganisation »American Friends of Ateret Cohanim«, die sich der Entarabisierung Ost-Jerusalems verschrieben hat, als Organisation anerkannt, die »educational institutes in Israel« finanziert. Aber:
In reality, Ateret Cohanim in Israel focuses mainly on purchasing Arab property in East Jerusalem. Since its founding in the 1970s, it has bought dozens of Arab buildings for Jews to reside in. Just this April [2009], for instance, it moved Jewish families into an Arab house it purchased in the Muslim Quarter. (Quelle)
Die Yeshivat Ateret Cohanim hat sich neben der »Judaization« von Ost-Jerusalem der Errichtung des »Dritten Tempels« verschrieben, und die Yeshiva bildet bereits die Priester aus, die an dem noch zu errichtenden Tempel die Tieropfer durchführen sollen. Geplant ist auch eine »Akademie für den dritten Tempel«, die mitten in der Judäischen Wüste entstehen soll, im besetzten palästinensischen Westjordanland.
* * *

Maßgeblich an den Plänen, den Dritten Tempel zu errichten, beteiligt ist Dov Hikind, Mitglied der New York State Assembly, dessen Ehefrau wiederum die Organisation Ateret Cohanim verwaltet. Hikind ist aber auch eine treibende Kraft bei der jüdischen Besiedlung von Ost-Jerusalem.

Im November 2009 war Dov Hikind in Jerusalem, um dort der Grundsteinlegung der Ausbauphase von Nof Zion beizuwohnen. Diese jüdische Siedlung befindet sich in einem arabischen Stadtteil in Ost-Jerusalem. Einen Tag vor dieser Grundsteinlegung wurden für Gilo, einem jüdischen Siedlungsprojekt nördlich von Bethlehem im Süden Jerusalems (auf Land, das nach 1967 besetzt wurde), weitere neue 900 Wohneinheiten genehmigt. Die genannten Baupläne wurden von Hikind mit einem zynischen Verweis auf die Rassentrennung verteidigt: »Not allowing Jews to live in certain neighborhoods of the city is segregation«.(Anm.: Die wiederholte Instrumentalisierung von Begriffen der Civil Rights-Bewegung durch pro-israelische US-Politiker ist beklagenswert. So sagte etwa State Senator John Sampson aus Brooklyn, der mit Dov Hikind Israel besuchte, der Abzug jüdischer Siedler aus dem Gaza-Streifen ähnele der Erfahrung der Schwarzen in den USA mit der Sklaverei: »This, in certain ways, is like slavery. It's the same general concept ... completely violating these Gaza residents' civil rights and kicking them out of their homes.«)

Die Jerusalem Post bezeichnet das Projekt Nof Zion ausdrücklich als »ideologically-driven«, nämlich als Teil der geplanten Entarabisierung Ost-Jerusalems. Wie auch das Siedlungsprojekt Har Homa, das außerhalb der Waffenstillstandslinie von 1949 in Ost-Jerusalem liegt und die Verbindung zwischen der Stadt Jerusalem und Bethlehem unterbricht, so liegt Nof Zion zwischen mehreren arabischen Vierteln und unterbricht die Verbindung zwischen diesen. Offensichtlich sollen die jüdischen Siedlungen in Ost-Jerusalem, strategisch gelegen, die Unteilbarkeit Jerusalems festschreiben, ebenso wie die zahlreichen jüdischen Siedlungen im Westjordanland eine Zweistaatenlösung inzwischen de facto so gut wie unmöglich gemacht haben: »All small settlements of Jews in the heart of Palestinian neighborhoods make it impossible to divide—it's an eyesore« sagt Efrat Cohen-Bar, ein Architekt bei Bimkom, einer non-profit-organisation in Jerusalem.

Allerdings geriet das Projekt Nof Zion in den letzten Monaten in finanzielle Schwierigkeiten, und bis Anfang März fanden sich keine israelischen Investoren. Die Offerte eines Supermarktmoguls, Rami Levy, war von der zuständigen Bank zunächst als unzureichend zurückgewiesen worden, und tatsächlich bestand für einen Moment die Möglichkeit, daß das Projekt von einem US-amerikanischem Geschäftsmann palästinensicher Abstammung erworben wird, der wiederum plante, die Wohnungen in dem Viertel an arabische Familien zu vergeben. Nachdem aber der Bank Leumi von seiten jüdischer Siedler der Boykott angedroht wurde, weil sie das Angebot Levys abgelehnt hatte, lenkte die Bank inzwischen ein und akzeptierte ein nachgebessertes Angebot Levys, an dessen Finanzierung sich auch der australische Geschäftsmann Kevin Bermeister (dem die Webfirma »Kazaa« für Musikdownloads gehört) beteiligt.

Es ist interessant, die Aussagen zu vergleichen, die Kevin Bermeister und Rami Levy über ihre Beteiligung an dem neuen Wohnprojekt machen:
Bermeister: »We focus in our plan primarily on economics,« he explained. »We don’t really care about Arab or Jew. It makes no difference. [Hervorhebung nicht im Original]. Our real issue is improving the prosperity for the people who live in Jerusalem and in Israel generally. We believe that the prosperity will be improved through the increases in tourism but also through the development of infrastructure that’s required to support such an increase in tourism.« (Quelle)
Levy: »This Palestinian came along, wanting to buy Digal, build a neighborhood there, and populate it with Arabs. This would naturally create conflict between Jews and Arabs. Ultimately, this is a Jewish neighborhood [Hervorhebung nicht im Original], and naturally if someone came along and put 300 Arab families in a place where there are already 100 Jewish families, this would have been a provocation. I prevented it.« (Quelle)
Nach Aussagen von Levy sind für das Nof Zion-Projekt 400 Wohnungen geplant, von denen 100 bereits gebaut und an 100 jüdische Familien vergeben worden sind. Die meisten Neuzuzügler stammen aus den USA, wie überhaupt das Projekt von vorneherein v.a. für den US-amerikanischen Markt bestimmt war: »a neighborhood of high-end condos geared to American Jewish buyers«. Auch hieran war Dov Hikind beteiligt, der jüdische US-Amerikaner dazu aufrief, eher in den arabischen Gebieten Israels Land zu kaufen als an den »traditionellen Ferienorten der USA« zu investieren. Er sagte: »Rather than buying second homes in Florida, we want people to buy in Israel«.

An den Aktivitäten US-amerikanischer Juden gibt es Widerstand sowohl in den USA (Vorwurf an die Moskowitz-Foundation: »a history of inciting violence and destroying Palestinian neighborhoods«) als auch in Israel. Linke Kreise in Israel und Friedensaktivisten sehen in der Einmischung jüdischer Politiker und Geschäftsleute aus den USA in die Politik Israels seit langem ein Problem. Speziell Moskowitz' Auftritte haben in Israel eine Debatte darüber ausgelöst,
»wieweit amerikanische Juden überhaupt in der hiesigen Politik mitreden dürfen. "Spiel nicht Bingo mit unserem Leben" oder "Moskowitz, go home" stand auf den Plakaten der israelischen Demonstranten, die gemeinsam mit Palästinensern gegen die Siedler in Ras el-Amud protestierten. Die heutige Situation, daß ein Jude aus Miami über unsere politische Zukunft bestimmt, ist unakzeptabel«, empörte sich auch der ehemalige Bürgermeister Teddy Kollek. Carmi Gillon, der frühere Chef des israelischen Sicherheitsdienstes Schin Bet, schrieb: »Herr Moskowitz, Sie sind kein Zionist, sondern ein Provokateur. Als Bürger (Israels) habe ich ein Problem damit, daß unser Ministerpräsident überhaupt mit Ihnen verhandelt.« (Quelle)
Und tatsächlich können die Auswirkungen von Moskowitz' Aktivitäten auf die Verhältnisse in Israel gar nicht unterschätzt werden: »Irving Moskowitz ist ein Zionist aus der Ferne. Ein Mitglied des Stadtrates von Jerusalem hat deshalb vor Jahren einmal scherzhaft gefordert, dem Millionär die Ausreise zu verweigern, damit er mit ansehen müsse, was er angerichtet habe. Denn Moskowitz zündelt an einem der entzündbarsten Orte des Heiligen Landes: in Jerusalem« schreibt die WELT.

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Die jüdischen Wohnprojekte in Ost-Jerusalem, die in den ersten Monaten dieses Jahres neu geplant, neu genehmigt oder neu in Angriff genommen worden sind, wurden weltweit mit Kritik aufgenommen. Sowohl die Maßnahmen in Shaikh Jarrah als auch das Nof Zion-Projekt sind von der Regierung der USA offiziell kritisiert worden. Insbesondere die Errichtung von Wohnungen in Shaikh Jarrah war von Washington abgelehnt worden. Außenministern Hillary Clinton ließ mitteilen: »This disturbing development undermines peace efforts to achieve the two-state solution«. Auch die EU wandte sich mit scharfen Worten gegen den Abriss des Shepherd-Hotels in dem besagten Viertel. Die Außenbeauftragte Catherine Ashton erinnerte daran, daß die Siedlungen in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten nach internationalem Recht illegal sind.

Als aber vor wenigen Wochen eine UN-Resolution zur Abstimmung stand, in welcher es hieß, daß »jede israelische Siedlungsaktivität« in den besetzten Gebieten »einschließlich Ostjerusalems illegal ist und eine wesentliche Hürde beim Erreichen eines Friedens auf Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung bildet«, legten die USA ihr Veto gegen die Resolution ein. Der einigermaßen deutliche Wortlaut der Resolution – verurteilt wurden alle Siedlungen von »Israel, der Besatzungsmacht« und »alle Maßnahmen, die darauf abzielen, die demografische Zusammensetzung, den Charakter oder den Status der besetzten Gebiete zu ändern« (Wortlaut nach der FOCUS-Meldung) – ging der US-Regierung offenbar zu weit. Als kurz nach dem US-Veto die israelische Regierung ein Einfrieren der Pläne für 50 geplante Wohneinheiten im Har Homa-Projekt (südlich Jerusalems) und für 150 in Armon Hanatziv verkündete, interpretierte man das in Israel, vermutlich zutreffend, als »Dankeschön« der israelischen Regierung für die Unterstützung aus den USA.

Abgesehen von diesem vermuteten Zugeständnis stieß die Kritik westlicher Regierungen erwartungsgemäß auf Ablehnung bei der israelischen Regierung. Premierminister Netanyahu verwahrte sich gegen die Kritik mit den Worten: »I would like to reemphasize that united Jerusalem is the capital of the Jewish people and of the State of Israel. Our sovereignty over it cannot be challenged; this means – inter alia – that residents of Jerusalem may purchase apartments in all parts of the city. ... We cannot accept the idea that Jews will not have the right to live and purchase in all parts of Jerusalem.« Damit sagte PM Netanyahu de facto dasselbe wie auch Dov Hikind: »Our goal is to send a clear message to Washington and President Obama that Jews will continue to live in Judea and Samaria ... and the ultimate commitment American Jews can make is to actually come and buy property in these areas as this will ensure these communities' security and growth.«

Anders als Har Homa, das ein staatliches Siedlungsprojekt ist, handelt es sich bei Nof Zion und anderen Projekten nicht um staatliche Projekte. Man kann sie also nicht ohne weiteres der israelischen Regierung anlasten. Ebenso klar ist aber auch, daß die privat finanzierten Siedlungsprojekte in Ost-Jerusalem auf die Unterstützung der israelischen Regierung rechnen können. Doch der Hinweis auf die private Trägerschaft der Projekte dient der Regierung u.a. auch dazu, der westlichen Kritik zu entgegnen. Das wird z.B. in einer Stellungnahme der Stadt Jerusalem deutlich: »Jerusalem Municipality stated in response that the plans for Shaikh Jarrah were private and therefore the construction committee was charged only with checking the aspects related to technical planning, not the religion or nationality of the planners.«

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Neben den genannten Projekten – Nof Zion und Shaikh Jarrah – wurden in den letzten Jahren weitere Projekte verwirklicht. So etwa im arabischen Viertel Ra's 'Âmûd, wo das jüdische Wohnprojekt Maaleh Hazeitim (»Ma'aleh Har HaZeitim« in der Nähe des jüdischen Friedhofs am Ölberg und eben nach diesem benannt) liegt. 2008 lebten dort bereits 51 jüdische Familien, und im selben Jahr wurde die Errichtung von weiteren 60 Wohneinheiten begonnen. (Das nebenstehende Photo zeigt Jimmy Johnson vom Israeli Committee Against House Demolitions (ICAHD) vor der ummauerten jüdischen Siedlung in Maaleh Hazeitim in Ostjerusalem.) Auch die dortigen Grundstücke waren schon 1984 von Irving Moskowitz erworben worden. Erst vor wenigen Tagen wurde nun die Errichtung weiterer Wohnungen in Maaleh Hazeitim bekannt gegeben. Am 10. März 2011 wurde verfügt, daß eine arabische Familie, die seit 1952 dort ansässig ist, bis zum kommenden Montag – also heute – einen Teil ihres Hauses räumen müsse, damit dort jüdische Siedler einziehen können. Den Prozeß gegen die Familie hat Irving Moskowitz geführt, der davon ausgeht, daß das Haus auf dem Land steht, welches er erworben hat.

Bereits im Novemeber 2010 hatte das israelische Innenministerium nach Angaben von Peace Now angekündigt, 1025 neue Wohneinheiten in der Siedlung Har Homa und weitere 320 in Ramot (nördlich der Altstadt) zu bauen. Der Bau hat sich verzögert – bzw. wurde im Fall von Har Homa teilweise ausgesetzt –, aber Mitte Februar 2011 wurde zumindest die Errichtung von 56 Wohneinheiten in Ramot genehmigt: »A plan for 56 housing units in the Ramot neighborhood, which is located over the 1967 Green Line, is expected to get final approval Monday afternoon if the Jerusalem municipality’s Local Planning and Construction Committee approves its building permit. This is the first Jewish construction project over the Green Line to receive final approval in 2011.«

Insgesamt kann es also keinen Zweifel daran geben, daß der israelische Staat seit Jahren eine Politik der Entarabisierung Ost-Jerusalems (wie im übrigen auch weiterer Orte in den besetzten Gebieten) betreibt. Die politische Agenda hinter dieser Politik ist offensichtlich: Eine Teilung Jerusalems wird für alle Zeiten unmöglich gemacht, wenn es gelingt, auch die arabischen Stadtteile mit jüdischen Siedlern zu bevölkern und die bisherigen Bewohner zum Aus- und Umzug zu zwingen. Speziell im Fall Jerusalems handelt es sich dabei oft um private Bauprojekte, die jedoch nicht nur verwaltungstechnisch, sondern auch logistisch von den zuständigen Behörden nach Kräften unterstützt werden. Der israelische Staat ist auch in diese Projekte mehr oder weniger direkt involviert.
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Nach dem Mord an einer jüdischen Siedlerfamilie im Westjordanland, der Samstagnacht verübt wurde, hat die israelische Regierung als Reaktion auf die Bluttat am nächsten Tag den Neubau mehrerer hundert neuer Siedlerhäuser im Westjordanland genehmigt. Das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte am Sonntag, »ein Kabinettsausschuss habe Bauvorhaben in Gusch Etsion, Maale Adumin, Ariel und Kirjat Sefer beschlossen. Es seien mehrere hundert Wohneinheiten geplant.« Mit diesem Schritt wird der ohnehin längst nicht mehr aktiv betriebene Friedensprozeß zwischen Palästinensern und Israelis wohl an sein endgültiges Ende gelangt sein. Der Bruder des ermordeten Udi Fogel, warnte bei der Beisetzung, das Verbrechen dürfe nicht für die Politik Israels instrumentalisiert werden. Aber dazu ist es, wie immer im Israel-Palästina-Konflikt, schon wieder zu spät.

Nachtrag aus der heutigen Ausgabe von Ha'aretz:
»The despicable murder of five members of the Fogel family on Saturday is a crime against every human being. But the atrocity in Itamar is not only a criminal act. It was committed in a diplomatic and security context, and we have to examine its background and consequences. Not, heaven forbid, to justify what cannot be justified or grant absolution. Instead, we have to study the complex situation that makes Israel responsible for preventing an escalation that could result in many new victims. ... A responsible government would act now to calm and not to escalate, to pursue a diplomatic solution and not a belligerent confrontation. But in Jerusalem we don't have a government like that.« (Quelle)