24.03.2011

Poetik der Revolution – Der russische Blick auf den Orient, Folge 1

Sergej Alexandrovic Esenin (1895-1925)

Von Alev Masarwa

»Diesseits oder jenseits der Barrikaden« zu stehen, war vielleicht die einzige Alternative für die Literaten Rußlands 1917. Eine schwere Entscheidung für Dichter einer »intellektuellen Landschaft«, die in ihrer Diversität und Buntheit derjenigen in den Vierteln Bagdads in nichts nachstand: hier die Imaginisten, dort die Futuristen, daneben die Akmeisten, Konstruktivisten, Symbolisten, Rayonisten, Realisten ... alle mit ihren eigenen Visionen für das neue Rußland und überhaupt für das Neue in der Kunst. Hinter diesen geistigen und intellektuellen Gruppierungen standen die herausragenden Dichter der Zeit. Ein Großteil rettete sich vor dem bolschewistischen Vorgehen ins westliche Ausland.

Sergej Esenin blieb. Er hatte sich bereits vor der Revolution einen Namen als wilder »Bauerndichter« gemacht und war bekannt für seine Alkoholexzesse und seine Schlagfertigkeit. Als Halbwüchsiger mit unbändigen blonden Locken war er aus dem Rjasaner Dorf Konstantinova ausgezogen, um von Bely und Blok zu lernen und der Welt seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Dabei war er stets gut gekleidet aber laut und betrunken. Die Menschen liebten ihn für seine ungekünstelten Verse, für sie verkörperte er das »echt Russische«, er besang die Birkenwälder und die weiten, gesunden Steppen. Er vereinte in seiner Lyrik (wie auch in persona) Düster-Derbes und Sanft-Schwermütiges auf eine für typisch russisch gehaltene Weise.

Mit Gedichten wie »Нивы жаты, рощи голы«, »die Felder gemäht, die Wälder nackt« (1917), sowie »товарищ«, »der Genosse« (1917) galt Esenin für seine Anhänger als der erste Revolutionsdichter. Sein großer, populärer Gegner war kein Geringerer als der »andere« Revolutionsdichter und Futurist Wladimir Majakowskij (1893-1930). In ihren spektakulären öffentlichen Dichterduellen in Fabrikhallen und Kasernen legten beide ihre leidenschaftliche Virtuosität zur Schau und kämpften um die Gunst des Publikums. Majakowskij galt als der Dichter der Massen, des Proletariats. Für Esenin war eine neue Welt nur dann vorstellbar, wenn die alte Dorfgemeinschaft, die unberührte Steppe und der Auerhahn in ihm aufgehoben waren.

Die Frage, was das zu konservierende, das »eigentlich Russische« war, scheint auch Esenin gespalten zu haben. Obwohl seine Gedichte trotz der steten Weiterentwicklung seiner poetischen Sprache eine konstante Antwort darauf geben, war sein Leben geprägt von Zerrissenheit und Extremen – Majakowskij bemerkte abfällig, daß Esenin zu dieser Zeit mehr in Polizeiberichten zitiert wurde als in Büchern. Seine Eskapaden – Gedichtbände Esenins hierzu hießen »Verse eines Skandalisten«, »Beichte eines Hooligans« sowie »Das Moskau der Kneipen« – nahmen zu und bewegten Esenin dazu, sein »Urlager« aus lyrischer und physischer Distanz neu zu betrachten.

Von Juli bis September 1921 bereiste er Taschkent, Baku und Tiflis, dann unternahm er mit seiner Frau Isadora Duncan eine Europa- und USA-Reise, nur um dann enttäuscht nach Moskau zurückzukehren. Im Winter 1924/25, bereits geschieden, erhoffte er sich Heilung von seinem Alkoholismus im Kaukasus. In dieser »Verortungs- und Heilungsphase«, die de facto eine Entzugsphase war, nahmen neue Farbeindrücke, ihre Helligkeitsstufen, der Alkohol, »die verschleierte Schöne«, persische Dichter sowie zentrale Motive der Diwan-Literatur Einzug in seine Gedichte. Es entstanden die Gedichtzyklen mit »Persischen Motiven« (in den Jahren 1924 und 1925; zu einigen Beispielen siehe unten).

Anders als die Ethnographie des Fremden, wie sie Viktor Šklovskij wenige Jahre zuvor in seiner »Sentimentalen Reise« (nach Persien) beschrieben hatte, setzte sich Esenin ernsthaft mit dem kulturellen Gut des »Fremden« auseinander. In Batumi, wo er sich ausgiebig mit der 1916 erschienenen russischen Übersetzung persischer Dichtung beschäftigte, schrieb er: »Ich habe begriffen, was Poesie ist.« Die Zeit zwischen 1924 und 1925 gehört wohl zu den besten Zeiten des Dichters und zu den produktivsten. Paradoxerweise, zugleich konsequenterweise nähert er sich in dem Maß, wie er mit orientalischer Dichtung in Berührung kommt, seinem Puschkin-Ideal und wird klarer und souveräner im Reim. Dabei verläßt Esenin nie sein eigentliches »heimatliches Lager«. Während er in Moskau und Petrograd versuchte, Widersprüche in Exzessen zu übertünchen, scheint für ihn im Kaukasus die Möglichkeit einer Synthese und Weiterentwicklung gekommen zu sein, um die physische Trennung von seinem »Urlager« Rjasan endlich geistig und lyrisch zu überwinden. Der Orient diente ihm dazu, das Seinige neu zu »sprechen« und die notwendigen Metamorphosen seines Geistes durchzustehen.

Kurze Zeit später, am 27. Dezember 1925, beging Sergej Esenin Selbstmord in einem Leningrader Hotelzimmer. Seinem einzig treuen Freund hatte er mit eigenem Blut folgendes Abschiedsgedicht geschrieben:

Auf Wiedersehen, mein Freund, auf Wiedersehen.
Mein liebster, du bleibst in meiner Brust.
Das Gehen war vorherbestimmt,
es verspricht eine Wiederbegegnung

Auf Wiedersehen, mein Freund, ohne Hand und Wort,
Verzage nicht, und sei nicht traurig.
Sterben ist auf dieser Welt nichts Neues,
doch wohl auch das Leben nicht.


Literatur
  • Esenin, Sergej: Stichotvoreniya i poemy./Y. A. Andreev. Leningrad 1990.
  • Esenin, Sergej: Socineniya. Moskva 1991.
  • Zelinsky, Bodo (Hrsg.): Die russische Lyrik. Köln u.a. 2002. (Russische Literatur in Einzelinterpretationen; 1).
  • Lauer, Reinhard: Geschichte der russischen Literatur: von 1700 bis zur Gegenwart. München 2009 (2. Aufl.).
  • Kissel, Wolfgang S. (Hrsg.): Flüchtige Blicke: Relektüren russischer Reisetexte des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2009.


Esenin: Aus den »Persischen Motiven«

»Ich bin nie am Bosporus gewesen«:*

Никогда я не был на Босфоре,
Ты меня не спрашивай о нем.
Я в твоих глазах увидел море,
Полыхающее голубым огнем.

Не ходил в Багдад я с караваном,
Не возил я шелк туда и хну.
Наклонись своим красивым станом,
На коленях дай мне отдохнуть.

Или снова, сколько ни проси я,
Для тебя навеки дела нет,
Что в далеком имени — Россия —
Я известный, признанный поэт.

У меня в душе звенит тальянка,
При луне собачий слышу лай.
Разве ты не хочешь, персиянка,
Увидать далекий, синий край?

Я сюда приехал не от скуки —
Ты меня, незримая, звала.
И меня твои лебяжьи руки
Обвивали, словно два крыла.

Я давно ищу в судьбе покоя,
И хоть прошлой жизни не кляну,
Расскажи мне что-нибудь такое
Про твою веселую страну.

Заглуши в душе тоску тальянки,
Напои дыханьем свежих чар,
Чтобы я о дальней северянке
Не вздыхал, не думал, не скучал.

И хотя я не был на Босфоре —
Я тебе придумаю о нем.
Все равно — глаза твои, как море,
Голубым колышутся огнем.

21 декабря 1924


Ich bin nie am Bosporus gewesen,
Darum frage mich nicht danach.
Erst in deinen Augen habe ich das Meer gesehen,
Lodernd wie ein blauer Feuerschein.

Ich zog nie nach Bagdad mit Karawanen,
Brachte Seide nicht, noch Henna hin.
Beug dich etwas vor, du schöne Pflanze,
Gönn mir etwas Ruhe auf den Knien.

Ich sag dir, und hoff auf eine Kusshand,
Ist's für dich auch gar nicht int'ressant,
Dass ich Dichter bin im fernen Russland,
Noch dazu bekannt und anerkannt.

Die Taljanka klingt in meiner Seele,
Mondschein – und ich hör nur Hunde belln;
Würdest du nicht, Perserin, gern sehen
Mein tiefblaues Land, so weit und fern?

Ich kam nicht hierher aus Langeweile,
Du riefst mich, noch Unsichtbare, her.
Mich umarmen zarte Schwanenhände, deine,
Die zwei Schwingen leicht vergleichbar wärn.

Lang schon wünsch ich mir vom Schicksal Ruhe,
Hätt mein altes Leben fast verflucht,
Gib mir doch von frohen Dingen Kunde,
Die dein Land erfülln im Überfluss.

Dämpf in mir die Schwermut der Taljanka,
Heb den Lebensgeist mit frischem Wein,
Dass ich an des fernen Nordes Pflanze
Nicht mehr denken muss, seufzen und sehnen.

Obwohl ich nie am Bosporus gewesen –
Für dich denke ich mir einen aus.
Deine Augen gleichen ganz dem Meere,
Zeigen flackerblauen Feuerschein.

21. Dezember 1924

[* Geringfügig veränderte Fassung von Alev Masarwa auf Grundlage der Übersetzung von Eric Boerner]



Auszüge aus weiteren Gedichten der »Persischen Motive«:**


Голубая родина Фирдуси,
Ты не можешь, памятью простыв,
Позабыть о ласковом урусе
И глазах, задумчиво простых,
Голубая родина Фирдуси.

Хороша ты, Персия, я знаю,
Розы, как светильники, горят
И опять мне о далеком крае
Свежестью упругой говорят.
Хороша ты, Персия, я знаю.

... ... ...

Firdausis blaues Heimatland,
Kannst doch nicht so kalt, gedankenschwach,
Ganz vergessen jenen Russenmann
Und die Augen, einfach und bedacht,
Ach Firdausis blaues Heimatland.

Persien, ich weiß, bist wunderschön,
Rosen, die wie Kerzenleuchter strahlen
Und vom fernen Landstrich mir erzählen,
Wenn sie frisch und biegsam vor mir stehn.
Persien, ich weiß, bist wunderschön.

... ... ...

(März 1925)

* * *

У всего своя походка есть:
Что приятно уху, что – для глаза.
Если перс слагает плохо песнь,
Значит, он вовек не из Шираза.

Про меня же и за эти песни
Говорите так среди людей:
Он бы пел нежнее и чудесней,
Да сгубила пара лебедей.

Die Geschmäcker sind nun mal verschieden:
Der eine hört, ins Aug der andre fasst.
Wenn ein Perser schlechte Lieder schmiedet,
Heißt das, er stammt niemals aus Schiras.

Sagt den Leuten, hab ich ausbedungen,
Wenn man meine Lieder spielt und hört:
Zarter hätt er, herrlicher gesungen,
Hätt ein Schwanenpaar ihn nicht zerstört ...

(August 1925)

* * *

Улеглась моя былая рана –
Пьяный бред не гложет сердце мне.
Синими цветами Тегерана
Я лечу их нынче в чайхане.

Сам чайханщик с круглыми плечами,
Чтобы славилась пред русским чайхана,
Угощает меня красным чаем
Вместо крепкой водки и вина.

Угощай, хозяин, да не очень.
Много роз цветет в твоем саду.
Незадаром мне мигнули очи,
Приоткинув черную чадру.

... ... ...

Es verheilte meine alte Wunde –
Der Säuferwahn zernagt mir nicht das Herz.
Mit den blauen teheraner Blumen
Heil ich heut im Teehaus meinen Schmerz.

Selbst der Teehauswirt mit runden Schultern,
Dass sein Haus dem Russen besser scheint,
Dient dem Gast mit rotem Tee geduldig
Anstelle starken Wodkas oder Weins.

Übertreibe, Wirt, nicht die Bedienung,
In deinem Garten viele Blumen blühn.
Nicht vergeblich seh ich Augen blinzeln,
Die unterm Tschador zu sehen sind.

 ... ... ...

(1924)

* * *

Ты сказала, что Саади
Целовал лишь только в грудь.
Подожди ты, бога ради,
Обучусь когда-нибудь!

... ... ...

Ты пропела: «За Евфратом
Розы лучше смертных дев».
Если бы я был богатым,
То другой сложил напев.

Я б порезал розы эти,
Ведь одна отрада мне –
Чтобы не было на свете
Лучше милой Шаганэ.

И не мучь меня заветом,
У меня заветов нет.
Коль родился я поэтом,
То целуюсь, как поэт.

Du erzähltest, dass Saadi
Immer nur die Brüste küsste.
Warte, diese Gottesgabe
Üb auch ich schon bald beflissen!

... ... ...

Und du sangst: »Hinter dem Euphrat
Rosen blühn schöner als Mädchen«.
Wär ich reich und auch begabt,
Andre Verse würd ich geben.

Solche Rosen zu beschneiden,
Wär mein einzig Glück im Leben –
Dass auf Erden hier nicht eine
Schöner wär als Schagané.

Quäl mich nicht mit Geboten,
Nie warn mir Gebote wichtig.
Da als Dichter ich geboren,
Küsse ich auch wie ein Dichter.

(1924)

* * *

В Хороссане есть такие двери,
Где обсыпан розами порог.
Там живет задумчивая пери.
В Хороссане есть такие двери,
Но открыть те двери я не мог.

У меня в руках довольно силы,
В волосах есть золото и медь.
Голос пери нежный и красивый.
У меня в руках довольно силы,
Но дверей не смог я отпереть.

... ... ...

Dort in Chorasan sind solche Türen,
Wo der Rosenstock auf Schwellen rankt.
Dort lebt eine, die bedacht sich zierte.
Dort in Chorasan sind solche Türen,
Die mir aufzustoßen nicht gelang.

Meine Arme sind gewöhnlich kräftig,
Und mein Haar hat Gold und Kupfer auch.
Ihre Stimme war so schön und zärtlich.
Meine Arme sind gewöhnlich kräftig,
Doch die Türen schlossen sie nicht auf.

... ... ...

(März 1925)

[** Nach der Übersetzung von Eric Boerner]

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen