23.04.2011

Zur Geschichte des Islams in Tunesien, Folge 5

Šuqrân und der Weltentsager aus Ägypten

Von Marco Schöller


Abû `Alî Šuqrân (gest. 802) lebte in Kairouan und war ein Freund von Buhlûl ibn Râšid (st. 799). Buhlûl war ein kauziger »Gottesmann«, dessen Bittgebete, wie fast jedermann glaubte, von Gott erhört wurden. Ein späterer Biograph charakterisierte Šuqrân wie folgt:
»Er betete und fastete viel. Er lebte in ständiger Trauer und war von Furcht erfüllt. Sein Herz war leicht erregbar, seine Tränen flossen oft und reichlich. Von Kindheit an sprach er Worte der Weisheit und brachte die Menschen zum Dienst an ihrem Herrn zurück, indem er sie mit guten Worten ermahnte. Ein Gefährte Šuqrâns erzählte später, ein grünliches Licht habe über seinem Kopf geleuchtet, wann immer ihm eine Bitte, die er Gott vorgetragen hatte, erfüllt worden war.«
Der nachmals berühmte Weltentsager Dhû n-Nûn al-Misrî (st. 859) soll einst den weiten Weg von Ägypten nach Kairouan auf sich genommen haben, um Šuqrân zu sehen und von ihm zu hören. Über das Zusammentreffen Dhû n-Nûns mit Abû `Alî Šuqrân gibt es zahlreiche, teils legendenhafte Berichte in den historischen Quellen.
* * *

Nach dem Bericht von Abû l-`Abbâs al-Ibyânî war Dhû n-Nûn zu Abû `Alî Šuqrân nach Kairouan gereist, um von ihm zu hören. Šuqran verließ jedoch sein Haus nur zum Freitagsgebet, und als er wieder einmal aus der Tür getreten war, sprach Dhû n-Nûn zu ihm:
     »Ich bin aus einem fernen Land gekommen, um dich um eine Gabe zu bitten.«
Da hob Šuqrân ein paar Kieselsteinchen von der Erde auf und gab sie Dhû n-Nûn in die Hand. Als Dhû n-Nûn in seine Hand blickte, sah er, daß sich die Kiesel in Diamanten verwandelt hatten.
     »Nicht deshalb bin ich gekommen!« protestierte Dhû n-Nûn.
     »Weshalb sonst?« fragte Šuqrân.
     »Damit du mir eine Ermahnung gibst!« sprach Dhû n-Nûn.
     Da sagte Šuqrân zu ihm:
Iß nur von dem, was deine Rechte erarbeitet und wofür deine Stirn geschwitzt hat!
Iß jedoch nicht von dem, wofür du bei anderen Schulden machtest!
Sobald deine Glaubensgewißheit an Stärke verliert, suche Hilfe bei Gott, deinem Helfer!
* * *

Ein anderer Bericht erzählt, Dhû n-Nûn sei zu Ohren gekommen, daß es im Maghreb einen Gottesdiener namens Šuqrân gebe, der sich nur jeden vierzigsten Tag den Leuten zeige. Als Dhû n-Nûn in den Maghreb (also nach Ifrîqiyah) gereist und in Šuqrâns Wohnort angekommen war, fragte er nach ihm und erhielt die Auskunft: »Gerade hat er sich wieder zurückgezogen. Er wird erst in vierzig Tagen wieder erscheinen.«

Dhû n-Nûn wartete vierzig Tage lang vor seiner Tür.

Als die vierzig Tage um waren, kam Šuqrân heraus, erblickte Dhû n-Nûn und sprach zu ihm:
     »Du kommst aus dem Osten?«
     Dhû n-Nûn bejahte, und Šuqrân fragte weiter:
     »Was hat dich veranlaßt, hierher zu kommen?«
     Dhû n-Nûn sagte: »Man hat mir von dir erzählt, also machte ich mich auf, dich zu besuchen, damit du mir eine Ermahnung gibst. Gott wird dann vielleicht dafür sorgen, daß mir deine Worte nützlich sind!«
     Da sprach Šuqrân:
Mein Junge! Wandere über die Erde und bediene dich dabei der Kräuter, sie zu essen, um der Pflicht (dich am Leben zu erhalten) zu genügen!
Nimm von niemandem ein Geschenk oder eine Leihgabe an!
Wenn du aber fürchtest, doch etwas borgen zu müssen, dann suche Hilfe bei dem, dem man jede Bitte vortragen kann (= Gott)!
Dann ging er wieder hinein, und Dhû n-Nûn saß für weitere vierzig Tage vor seiner Tür.

Nach Ablauf der vierzig Tage kam Šuqrân wieder heraus und sagte zu Dhû n-Nûn:
     »Hat dir meine Ermahnung denn gar nichts genützt?«
     Dhû n-Nûn erwiderte: »Ich will noch mehr hören!«
     Da sprach Šuqrân: »Du bist nicht einer derer, die mehr vertragen, und so wird dich, was ich zu sagen habe, nicht mehren, sondern mindern! Gleichwohl:
Mein Junge! Iß von dem, was deine Rechte erarbeitet und wofür deine Stirn geschwitzt hat!
Iß jedoch nicht von dem, wofür du bei anderen Schulden machtest!
Wenn du fürchtest, daß deine Glaubensgewißheit schwindet, dann suche Hilfe bei Gott, deinem Helfer!
Wisse, daß du und ich morgen vor dem Angesicht Gottes, des Erhabenen, stehen werden, also fürchte Gott und beschwere dich nicht über den, der Sich deiner erbarmt (= Gott), bei dem, der sich deiner nicht erbarmt!
«
     Dann ging er wieder hinein, und Dhû n-Nûn saß für weitere vierzig Tage vor seiner Tür.

Als Šuqrân wieder herauskam, sagte er zu Dhû n-Nûn:
     »Hat dir meine Ermahnung nichts genützt?«
     Dhû n-Nûn erwiderte: »Ich will noch mehr hören!«
     Da sprach Šuqrân: »Du bist nicht einer derer, die mehr vertragen, und so wird dich, was ich zu sagen habe, nicht mehren, sondern mindern! Gleichwohl:
Mein Junge! Wenn du dich mit dem zufrieden gibst, was Gott dir zugeteilt hat, so wirst du der enthaltsamste aller Menschen sein!
Wenn du befolgst, was Gott dir befohlen hat, so wirst du der beste Seiner Diener sein!
Wenn du unterläßt, was Gott, der Erhabene, dir untersagt hat, dann wirst du der gewissenhafteste aller Frommen sein!«
Als Šuqrân Anstalten machte, ein weiteres Mal hineinzugehen, packte ihn Dhû n-Nûn am Gewand und sagte:
     »Gib mir von deinem Proviant (für die Reise ins Jenseits) etwas ab, das mir Gott, der Erhabene, von Nutzen sein läßt!«
     Da steckte Šuqrân dem Dhû n-Nûn etwas in die Hand, das die Form eines Dinars (einer Goldmünze) oder eines Dirhams (einer Silbermünze) hatte. Als Dhû n-Nûn darauf blickte, sah er, daß einer der Namen Gottes, des Erhabenen, darauf stand. Später sagte er: »Immer, wenn ich in diesem Namen etwas von Gott erbat, hat Er es mir gewährt!«

Nach anderen soll Šuqrân dem Dhû n-Nûn einen Zettel gegeben haben, auf dem geschrieben stand:
     »O Immerwährend-Beständiger! O Hervorbringer aller Pflanzen! O Hörer aller Stimmen! O Erfüller aller Bitten!«
* * *

Eine weitere Erzählung vom Zusammentreffen Dhû n-Nûns mit Šuqrân berichtet uns folgendes:

Eines Tages wurden Dhû n-Nûn die weisen Worte eines Mannes aus dem Maghreb vorgetragen. Dhû n-Nûn war von ihnen so eingenommen, daß er beschloß, diesen Mann aufzusuchen. Er reiste also in den Maghreb und ließ sich für vierzig Tage vor der Tür seines Hauses nieder.

     Der Mann – es handelt sich um Šuqrân – ging jeden Tag fünf Mal zum Gebet in die Moschee und kehrte dann mit sorgenvollem Gesicht nach Hause zurück. Doch sprach er weder zu Dhû n-Nûn noch zu jemandem sonst ein einziges Wort. Dhû n-Nûn verlor deshalb die Zuversicht und wußte nicht mehr, was er machen sollte. In seiner Not sprach er Šuqrân schließlich an:
     »O du! Ich sitze hier seit vierzig Morgen, doch sagtest du nie ein Wort zu mir!«
     Šuqrân entgegnete: »Du mußt wissen, meine Zunge ist ein reißendes Tier: Wenn ich sie losließe, würde sie mich auffressen!«
     Doch Dhû n-Nûn insistierte: »Gott möge Sich deiner erbarmen! Gib mir eine mahnende Unterweisung, die ich von dir mitnehmen und im Gedächtnis bewahren kann!«
     »Wirst du denn danach handeln?« fragte Šuqrân.
     »Ja, so Gott, der Erhabene, will!« antwortete Dhû n-Nûn.

Šuqrân hob also an und sprach:
Liebe nicht das Diesseits!
Halte die Armut für Reichtum!
Halte die Prüfung, die dir Gott, der Erhabene, schickt, für eine Gnade!
Halte den Verzicht, den Gott dir auferlegt, für eine Bereicherung, die Einsamkeit mit Gott für Geselligkeit!
Halte die Erniedrigung für Erhöhung, das hohe Ansehen für eine Verfehlung!
Halte die Verzweiflung für eine Tugend, den Gehorsam (gegenüber Gott) für einen Beruf!
Halte das Gottvertrauen für dein täglich Brot!
Und halte Gott, den Erhabenen, für einen Ausweg in jeder Lage!
Danach sprach Šuqrân einen ganzen Monat lang kein Wort mehr zu Dhû n-Nûn. Dieser sagte schließlich zu ihm:
     »Gott möge Sich deiner erbarmen! Ich möchte in mein Land zurückkehren. Wenn du mir also eine weitere Ermahnung geben willst, dann tu es jetzt!«
     Šuqrân sprach: »Hast du nicht bereits genug gehört?«
     Doch Dhû n-Nûn erwiderte: »Gott, der Erhabene, möge Sich deiner erbarmen! Ich bin ein Mann, der ganz am Anfang steht, und besitze noch kein Wissen!«
     »Ist das so?« fragte Šuqrân.
     »Ja, das ist so« sagte Dhû n-Nûn.

Šuqrân also sprach:
Wisse, daß dem Weltentsager im Diesseits das Nahrung ist, was er gerade findet!
Seine Wohnung ist dort, wo er sich gerade aufhält, und seine Kleidung das, was ihn eben bedeckt!
Das Alleinsein ist seine gesellige Runde, der Koran sein Zwiegespräch!
Gott, der mächtige Zwingherr, ist sein Vertrauter, das Gott-Gedenken sein Gefährte!
Der Weltverzicht ist sein innerster Begleiter, das Schweigen sein Schutzschild!
Die Furcht ist sein Weg, die Liebe sein Reittier!
Der aufrichtige Rat ist seine größte Begierde, das Reflektieren über den Tod sein einziger Gedanke!
Das geduldige Ertragen ist sein Ruhekissen, die Erde seine Bettstatt!
Die Hochwahrhaftigen sind seine Brüder!
Die Weisheit ist seine Rede, der Verstand sein Führer!
Die Milde ist sein bester Freund, das Gottvertrauen sein größter Gewinn!
Stets hungert und stets weint er!
Und Gott ist sein Beistand!
Dhû n-Nûn fragte noch nach und sagte:
     »Gott möge Sich deiner erbarmen! Wie aber weiß ich in diesen Dingen, daß ich übertreibe, und wie, daß ich zuwenig tue?«
     Šuqrân erwiderte: »Dadurch, daß du dir in deiner Seele Rechenschaft über dich selbst gibst und mit ihr in ständiger Zwiesprache stehst. Doch Schluß jetzt! Du hast genug gehört!«

* * *

Anmerkung:
Über die wahrscheinliche Legendenhaftigkeit des Berichteten ist kein endgültiger Aufschluß zu erhalten. Die genannten Personen sind aber historisch mehr (im Fall von Dhû n-Nûn) oder weniger (im Fall Šuqrâns) gut bezeugt.
     Die Passagen sind aus folgenden Werken übersetzt: al-Mâlikî, Kitâb Riyâd an-nufûs, Band I; Ibn ad-Dabbâgh, Ma'âlim al-îmân fî ma'rifat ahl al-Qairawân, Band I.

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