Ein (Light-)Artikel über Musik, Nationalismus und Migration
Von Daniel Roters
„Musik heilt die Wunden im ehemaligen Jugoslawien“, sind sich viele serbische, bosnische, kroatische und mazedonische Musiker einig. Doch spätestens als die bulgarische Dokumentarfilmerin Adela Peeva fragte „Whose Is This Song?“, wurde offensichtlich: Die Hörer sehen dies ganz anders...
Adela Peeva entlarvt in ihrem Dokumentarfilm "Whose Is This Song?" (Originaltitel: "Chia e tazi pesen?") den Wahnsinn des Nationalismus, der nicht vor der Musik Halt gemacht hat. Sie reiste durch Bulgarien, die Türkei, Griechenland, Albanien, Serbien und Bosnien und hörte gemeinsam mit den Menschen „ihre“ Musik. Was wurden Welten zerstört, als Opa Branko in Serbien herausfand, dass „sein“ Lied eigentlich aus Bosnien stammt… oder vielleicht doch aus der Türkei? War es gar ein Song mit Islam-Bezug? Kann doch nicht wahr sein! Gar Feindseligkeiten wurden der Dokumentarfilmerin entgegen geschleudert.
Legenden werden geschmiedet und alle proklamieren einen Song als den ihren, als ginge es um den heiligen Gral. Traurig, aber wahr ist, dass diese Entwicklung erst mit den Balkankriegen einsetzte. Die Kultur hatte einfach vor der Politik kapituliert! In den 60ern und 70ern konnte ein klassisches bosnisches Lied aus dem Genre Sevdalinka Serben, Bosniaken und Kroaten in Bosnien Arm in Arm zum Heulen bringen, doch der Krieg änderte alles. Der Auftrittsort, die Duett-Partner, die Zusammensetzung eines Orchesters und gar die Auswahl der Instrumente konnte für viele paranoide Zeitgenossen ein Anzeichen der Gesinnung, der Herkunft und der Weltanschauung sein, um schnell Freund von Feind unterscheiden zu können.
Anhand eines Liedes hat Adela Peeva dargestellt was passiert, wenn Kultur von der Politik vereinnahmt wird, und sich dann schließlich Menschen verführen und vereinnahmen lassen. Ein Lied war vorher nur wunderschön, doch plötzlich hörte man genauer hin: Wurde das ein oder andere Wort ersetzt, dann war das ein Drama. Ging es nicht mehr um ein schönes anatolisches Mädchen, sondern um den mahnenden Ruf des Muezzins, dann war das eine Katastrophe. Ja und selbst wenn man sich zumindest auf ein Mädchen einigte, dann spekulierte man ob sie nun blond und blauäugig war oder, ob es Rehäuglein waren, die Männerherzen höherschlagen ließen.
Der Song, um den es in „Whose Is This Song?“ geht, heißt „Üsküdar'a gider iken“ (Beim Gehen nach Üsküdar), zumindest ist dies der türkische Titel. In der heutigen Türkei liegt wohl auch der Ursprungsort des Liedes, das eine weite Reise antrat. Andere sagen wiederum das Lied sei gar älter als das Osmanische Reich, könne gar asiatische Wurzeln haben. Jedenfalls erlangte die türkische Version des Liedes, in dem über die Liebe einer Frau zu einem Schreiber berichtet wird, durch eine Verfilmung mit Zeki Müren von 1968 mit dem Titel „Katip“ (Schreiber) eine gewisse Berühmtheit. In Adela Peevas Film begegnen wir diesem Lied in vielen Gestalten: Als Liebeslied, als religiöse Hymne, als Hymne von Revolutionen, als Militärmarsch oder als musikalisches Bildnis wunderschöner Landschaften.
Und ein wenig Balkan der 90er Jahre steckt doch auch in deutschen Landen. In Deutschland wird der Migrationshintergrund langsam aber sicher zum Migrationsvordergrund. Wie deutsch ist Pizza und woher kommt eigentlich unser Kaffee? Funktioniert Döner auch mit Schweinefleisch? Und wie islamisch ist Oma Lieschen Müller, wenn sie sich im Winter ein Kopftuch überzieht? Was ist Schein und was ist Sein? Wer hat welche Agenda? Wäre die Debatte über Deutschland und die Migrationshinter-, vorder-, unter- und -abgründe eine trockene Wüste, dann wäre so mancher Politiker, so mancher nach Aufmerksamkeit lechzende "Islamkritiker" oder abgesetzte Bundesbänker im Spähtrupp der Durstigen, die verzweifelnd nach Wasser suchen. Man kann doch nicht mit Kanonenkugeln auf Spatzen schießen!? Sie sagen, wir sollen uns auf unsere christlich-jüdischen Wurzeln besinnen, um nicht zu verdursten. Man sagt, sie wären sogar bereit, sich bis zur „letzten Patrone“ der Vernunft zu widersetzen. Irgendwie muss es doch einfacher gehen, ohne Verschwendung von Munition, ohne Kränkungen und Ausgrenzung. Ich sage: Grabt euch endlich einen Brunnen, damit wir entspannter miteinander diskutieren können! Und danach hören wir Weltmusik...
Adela Peevas Film ist aus dem Jahr 2003, doch scheinen die Protagonisten noch im letzten Jahrhundert zu stecken, in pseudonationalen Erinnerungen schwelgend, als die Welt noch eine einfache war. Man könnte den Film nach dem Motto „selber Song, verschiedene Ohren“ kurz zusammenfassen, doch steckt mehr dahinter: Zum einen ist da die Schönheit der Melodie, ihre Vielfalt der Interpretation und eine offensichtlich gemeinsame Wurzel. Zum anderen sind die Menschen taub geworden, sind unter Umständen einfach taub gemacht worden durch die Wirren der Kriege, durch Stereotype und Vorurteile. Sie hören die gemeinsame Melodie nicht mehr, sondern nur noch das, was sie hören wollen.
Aber die Welt des 21. Jahrhunderts sieht anders aus. Da passiert etwas vor unseren Augen. Die Melodie mag leise sein, doch immer mehr Menschen scheinen Sie zu hören, vernetzen sich und schaffen etwas Neues. Machen Sie mit: Hören Sie, sehen Sie, teilen Sie!
Ausschnitte aus Adela Peevas „Whose Song Is it?”:
Inspiriert durch Adela Peeva wurde ein Projekt über „Everybody’s Song“ mit über 500 Musikern aus über 20 Nationen gestartet. Gefördert wurde das Projekt unter anderem von der Europäischen Union.
Und im Folgenden finden Sie Links zu Videos mit einigen verschiedenen Versionen aus aller Welt.
Hierbei gibt es aus den jeweiligen Ländern noch andere Versionen. Oft würden Sie auch den Zusatz finden, dass das jeweilige Lied ein traditionelles Lied des jeweiligen Landes sei, ausgenommen der Beispiele aus den USA und Japan.
Von Daniel Roters
In einem Restaurant in Istanbul vernahm die bulgarische Musikerin und Dokumentarfilmerin Adela Peeva ihr vertraute Klänge und fragte sich: "Wem gehört dieses Lied?" |
Adela Peeva entlarvt in ihrem Dokumentarfilm "Whose Is This Song?" (Originaltitel: "Chia e tazi pesen?") den Wahnsinn des Nationalismus, der nicht vor der Musik Halt gemacht hat. Sie reiste durch Bulgarien, die Türkei, Griechenland, Albanien, Serbien und Bosnien und hörte gemeinsam mit den Menschen „ihre“ Musik. Was wurden Welten zerstört, als Opa Branko in Serbien herausfand, dass „sein“ Lied eigentlich aus Bosnien stammt… oder vielleicht doch aus der Türkei? War es gar ein Song mit Islam-Bezug? Kann doch nicht wahr sein! Gar Feindseligkeiten wurden der Dokumentarfilmerin entgegen geschleudert.
Legenden werden geschmiedet und alle proklamieren einen Song als den ihren, als ginge es um den heiligen Gral. Traurig, aber wahr ist, dass diese Entwicklung erst mit den Balkankriegen einsetzte. Die Kultur hatte einfach vor der Politik kapituliert! In den 60ern und 70ern konnte ein klassisches bosnisches Lied aus dem Genre Sevdalinka Serben, Bosniaken und Kroaten in Bosnien Arm in Arm zum Heulen bringen, doch der Krieg änderte alles. Der Auftrittsort, die Duett-Partner, die Zusammensetzung eines Orchesters und gar die Auswahl der Instrumente konnte für viele paranoide Zeitgenossen ein Anzeichen der Gesinnung, der Herkunft und der Weltanschauung sein, um schnell Freund von Feind unterscheiden zu können.
Anhand eines Liedes hat Adela Peeva dargestellt was passiert, wenn Kultur von der Politik vereinnahmt wird, und sich dann schließlich Menschen verführen und vereinnahmen lassen. Ein Lied war vorher nur wunderschön, doch plötzlich hörte man genauer hin: Wurde das ein oder andere Wort ersetzt, dann war das ein Drama. Ging es nicht mehr um ein schönes anatolisches Mädchen, sondern um den mahnenden Ruf des Muezzins, dann war das eine Katastrophe. Ja und selbst wenn man sich zumindest auf ein Mädchen einigte, dann spekulierte man ob sie nun blond und blauäugig war oder, ob es Rehäuglein waren, die Männerherzen höherschlagen ließen.
Der Song, um den es in „Whose Is This Song?“ geht, heißt „Üsküdar'a gider iken“ (Beim Gehen nach Üsküdar), zumindest ist dies der türkische Titel. In der heutigen Türkei liegt wohl auch der Ursprungsort des Liedes, das eine weite Reise antrat. Andere sagen wiederum das Lied sei gar älter als das Osmanische Reich, könne gar asiatische Wurzeln haben. Jedenfalls erlangte die türkische Version des Liedes, in dem über die Liebe einer Frau zu einem Schreiber berichtet wird, durch eine Verfilmung mit Zeki Müren von 1968 mit dem Titel „Katip“ (Schreiber) eine gewisse Berühmtheit. In Adela Peevas Film begegnen wir diesem Lied in vielen Gestalten: Als Liebeslied, als religiöse Hymne, als Hymne von Revolutionen, als Militärmarsch oder als musikalisches Bildnis wunderschöner Landschaften.
Und ein wenig Balkan der 90er Jahre steckt doch auch in deutschen Landen. In Deutschland wird der Migrationshintergrund langsam aber sicher zum Migrationsvordergrund. Wie deutsch ist Pizza und woher kommt eigentlich unser Kaffee? Funktioniert Döner auch mit Schweinefleisch? Und wie islamisch ist Oma Lieschen Müller, wenn sie sich im Winter ein Kopftuch überzieht? Was ist Schein und was ist Sein? Wer hat welche Agenda? Wäre die Debatte über Deutschland und die Migrationshinter-, vorder-, unter- und -abgründe eine trockene Wüste, dann wäre so mancher Politiker, so mancher nach Aufmerksamkeit lechzende "Islamkritiker" oder abgesetzte Bundesbänker im Spähtrupp der Durstigen, die verzweifelnd nach Wasser suchen. Man kann doch nicht mit Kanonenkugeln auf Spatzen schießen!? Sie sagen, wir sollen uns auf unsere christlich-jüdischen Wurzeln besinnen, um nicht zu verdursten. Man sagt, sie wären sogar bereit, sich bis zur „letzten Patrone“ der Vernunft zu widersetzen. Irgendwie muss es doch einfacher gehen, ohne Verschwendung von Munition, ohne Kränkungen und Ausgrenzung. Ich sage: Grabt euch endlich einen Brunnen, damit wir entspannter miteinander diskutieren können! Und danach hören wir Weltmusik...
Adela Peevas Film ist aus dem Jahr 2003, doch scheinen die Protagonisten noch im letzten Jahrhundert zu stecken, in pseudonationalen Erinnerungen schwelgend, als die Welt noch eine einfache war. Man könnte den Film nach dem Motto „selber Song, verschiedene Ohren“ kurz zusammenfassen, doch steckt mehr dahinter: Zum einen ist da die Schönheit der Melodie, ihre Vielfalt der Interpretation und eine offensichtlich gemeinsame Wurzel. Zum anderen sind die Menschen taub geworden, sind unter Umständen einfach taub gemacht worden durch die Wirren der Kriege, durch Stereotype und Vorurteile. Sie hören die gemeinsame Melodie nicht mehr, sondern nur noch das, was sie hören wollen.
Aber die Welt des 21. Jahrhunderts sieht anders aus. Da passiert etwas vor unseren Augen. Die Melodie mag leise sein, doch immer mehr Menschen scheinen Sie zu hören, vernetzen sich und schaffen etwas Neues. Machen Sie mit: Hören Sie, sehen Sie, teilen Sie!
Ausschnitte aus Adela Peevas „Whose Song Is it?”:
Inspiriert durch Adela Peeva wurde ein Projekt über „Everybody’s Song“ mit über 500 Musikern aus über 20 Nationen gestartet. Gefördert wurde das Projekt unter anderem von der Europäischen Union.
Und im Folgenden finden Sie Links zu Videos mit einigen verschiedenen Versionen aus aller Welt.
Hierbei gibt es aus den jeweiligen Ländern noch andere Versionen. Oft würden Sie auch den Zusatz finden, dass das jeweilige Lied ein traditionelles Lied des jeweiligen Landes sei, ausgenommen der Beispiele aus den USA und Japan.
- Bosnien/Türkei - "Anadolka" von Cenk Bosnalı
Ein türkischer Sänger mit bosnischen Wurzeln singt im Türkischen Fernsehen die bosnische Version “Anadolka“, in der es um ein anatolisches Mädchen geht.
- Bosnien - "Anadolku"
Ein Ausschnitt aus Adela Peevas Station in Sarajevo. Hier wurde dem Text einfach "im Namen Muhammads" hinzugefügt.
- Mazedonien – „More momce bre budalo bre“ (Oh, du dummer Junge) von Tose Proeski
Diesmal geht es um einen Jungen, der die Schönheit eines Mädchens aus dem mazedonischen Tetovo nicht erkennt. Eine schöne Interpretation und mein Favorit.
- Griechenland „ΑΠΟ ΞΕΝΟ ΤΟΠΟ“ (Apo Kseno Topo / „Von einem fernen, fremden Ort“)
Der zweite Teil wird auf Türkisch gesungen.
- Arabisch von Ilham al-Madfai aus dem Irak
Es geht um die Liebe und demjenigen, der zwischen den Liebenden steht.
- Japan - "ウスクダラ" ("Üsküdar") von Sizzle Ohtaka
Unglaublich... aber wahr!
- USA - "Uska Dara - A Turkish Tale" von Eartha Kitt
- Deutschland - "Rasputin" von Boney M
Gestohlen oder inspiriert? Hier auf jeden Fall außer Konkurrenz. Wem immer dieses Lied nun gehört. Er möge der Gruppe verzeihen.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen