10.03.2011

Zur Geschichte des Islams in Tunesien, Folge 2

Tâhir al-Haddâd (1899-1935): Tunesiens verkannter Reformer, Tunesiens nationales Symbol
 

Zweiter Teil

Von Iman Hajji


Nicht diejenigen sind Sklaven, die in Ketten gelegt wurden, sondern diejenigen, die sich diesen Ketten beugen und ein Leben in ihnen akzeptieren. (Aus den „Gedanken“ al-Haddâds)
Das Wirken Tâhir al-Haddâds erstreckt sich auf ein weites Feld. So ist es nicht verwunderlich, wenn er einmal als „gesellschaftskritischer Denker“, ein anderes Mal als „Reformer“ oder aber als „Feminist“ oder „Frauenrechtler“ bezeichnet wird. Daß er durchaus das Potential besitzt all diesen Benennungen gerecht zu werden, wird aus seinen Schriften und „Gedanken“ deutlich. Al-Haddâd war jedoch auch politisch aktiv. Im Jahre 1920 wurde in Tunesien die Liberale Verfassungspartei, al-Hizb al-hurr ad-dustûrî (al-qadîm), gegründet, die sich aus der Nationalbewegung herausbildete und deren Ziel es war, Tunesien von der französischen Fremdherrschaft zu befreien.

Tâhir al-Haddâd trat der Partei unmittelbar nach ihrer Gründung bei, womit seine politische Tätigkeit ihren Lauf nahm. Innerhalb der Partei organisierte er Versammlungen und erfüllte die Aufgabe des Propagandisten. Darüberhinaus hielt er unermüdlich Ansprachen und publizierte Zeitungsartikeln, sei es zu Zwecken der Parteiwerbung oder lediglich zur Darbietung seiner politischen Überzeugungen. Bekannt wurde der Autor durch die Fülle an Artikeln, welche er publizierte. Sie reflektierten die Anliegen der Nationalisten und die Probleme, denen die tunesische Bevölkerung in jener Zeit gegenüberstand. Darin forderte er eine Verfassung, uneingeschränkte Pressefreiheit und Transparenz der französischen Finanzpolitik. Tâhir al-Haddâd wurde schließlich in das Exekutivkomitee der Partei (al-lajna at-tanfidîya) gewählt, weitete seine propagandistische Tätigkeit regional aus und brachte sich damit einige Male selbst in Gefahr.

Zu den ersten Auseinandersetzungen mit seinen Parteigenossen kam es, als diese sich weigerten, die gewerkschaftliche Bewegung, die im Jahr 1924 entstanden war, zu unterstützen. Zum Bruch kam es schließlich, als sich diese Konflikte zuspitzten und al-Haddâd auf keinen gemeinsamen Nenner mit seinen Genossen mehr kam.  Zwar lässt al-Haddâd es nicht aus, immer wieder die Fortschrittlichkeit Europas zu betonen, was jedoch die europäische (d.h. französische) Kolonialpolitik angeht, so ist er unerbittlicher Antikolonialist. In seinen „Gedanken“ können wir lesen:
Wie wenig Ahnung wir doch von der Welt haben, wenn wir behaupten: Die europäischen Staaten wurden eher deshalb errichtet, um Recht und Gerechtigkeit im Sinne der Völker herzustellen, die unter ihre Herrschaft gefallen sind, weniger, um ihren materiellen Interessen nachzukommen durch die Anstrengungen dieser Völker und den Reichtum ihrer Länder.
Weiterhin lesen wir:
Wir haben viele Reisen nach Europa unternommen, um den gerechten, freien Menschen dort zu erklären, was wir in unserem Land an Ungerechtigkeit und Leid erleben, das durch die europäische Besetzung verursacht wird. Anscheinend halten wir es immer noch für notwendig dorthin zu reisen, um ihnen dieselben Worte wieder zu erzählen, damit sie vielleicht verstehen. Und so vergehen Jahre und Jahrzehnte und diese gerechten, freien Menschen müssen immer noch von uns unterrichtet werden – wie gut können wir doch erklären und wie unfähig sind sie doch zu verstehen!
Ausschlaggebender ist jedoch folgendes Zitat, welches ebenfalls aus seinen „Gedanken“ stammt:
Die Europäer arbeiten für ihr Leben und sagen uns das. Wir sagen es zu uns selbst und bitten die Europäer, für unser Leben zu arbeiten. Sie sind ein Volk, das weder durch beweiskräftige Worte noch durch die Logik von Argumenten beeinflusst wird. Das geringste Handeln erregt ihre Aufmerksamkeit uns gegenüber. Lasst uns also handeln, wenn wir sie schnell verstehen lassen wollen, und lasst uns mit dem Geschwätz so weit es geht aufhören!
In diesem Zitat wird der Aktionsdrang al-Haddâd deutlich, wobei dahingestellt sei, wie sich al-Haddâd dieses Handeln konkret vorgestellt hat. Fest steht, daß er an verschiedenen Stellen darauf drängt, endlich tätig zu werden und zu handeln. In einem von ihm verfassten Zeitungsartikel lesen wir: Die Zeit der Aktion ist gekommen, denn heute brauchen wir Taten mehr denn eifrige Worte!

* * *

Sein Handlungsdrang war auch der Faktor, der es ihm unmöglich machte, die zeitgenössische Interpretation der göttlichen Vorbestimmung zu akzeptieren. Vielmehr sah er darin einen Vorwand, mit dem die persönliche Unproduktivität und die mangelnde Bereitschaft, Probleme aktiv anzugehen, begründet werden:
Der Glaube an die göttliche Bestimmung war zu Beginn des Islams eine Quelle von Tapferkeit und der Verachtung des Todes um des Lebens willen. Heute aber ist er ein Symbol der Feigheit, Trägheit und Unbeweglichkeit in einem Leben in Schmach und Selbstverachtung.
Und ebenfalls:
Wir möchten nicht, daß unsere Makel öffentlich bekannt gemacht werden, da wir nicht an die Möglichkeit denken, sie zu beseitigen. Wir pflegen jedoch unser Versagen im Leben mit der göttlichen Bestimmung zu rechtfertigen, da wir nicht als unfähig betrachtet werden wollen.
Ein Dorn im Auge war al-Haddâd auch die soziale Ungerechtigkeit, die er immer wieder anprangerte. Er war darin stark beeinflußt von den Gedanken Muhammad Alî al-Hâmîs' (1893-1926). Al-Hâmîs studierte u.a. Politische Wissenschaft in Berlin und gilt als der Begründer der ersten Gewerkschaft Tunesiens. Nachdem er im Jahr 1924 sein Studium in Deutschland beendet hatte und endgültig nach Tunesien zurückgekehrt war, wurde auf seine Initiative im Januar 1925 der Generalbund der tunesischen Arbeiter (Jâmi'at 'umûm al-'amala at-tûnisîyûn) gegründet. Bereits zuvor hatte er, während eines kurzen Aufenthaltes in Tunis, al-Haddâd beauftragt, die Idee eines gewerkschaftlichen Zusammenschlusses im Lande zu verbreiten und die arbeitende Klasse zu mobilisieren. Al-Haddâd, der schon früh sein Interesse gesellschaftlichen Fragen und speziell der Situation der arbeitenden Klasse widmete, wurde al-Hâmîs' rechte Hand, und sein Einsatz trug entscheidend zur Etablierung der gewerkschaftlichen Bewegung bei. Da al-Hâmîs, bedingt durch seinen langen Aufenthalt in Deutschland (und der Türkei), keinen Bezug zur Realität der tunesischen Gesellschaft mehr hatte, war es al-Haddâds Aufgabe, die abstrakten Ideen al-Hâmîs' auf die einheimische Gesellschaft zu übertragen.

Nachdem diese Bewegung von den Franzosen zerschlagen wurde, veröffentlichte al-Haddâd im Jahre 1927 eine Abhandlung unter dem Titel al-'Ummâl at-tûnisîyûn wa-zuhûr al-haraka n-niqâbîya (Die tunesischen Arbeiter und die Geburt der gewerkschaftlichen Bewegung). Dieses Werk dokumentiert wie kein anderes die Entstehung und Entwicklung der Gewerkschaft sowie die wichtigsten Ereignisse, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Er behandelt darin Fragen wie Klassenkampf, Ausbeutung der arbeitenden Klasse sowie die Auswirkung der industriellen Revolution Europas auf Entwicklungsländer und ist auch an dieser Stelle immer wieder darauf bedacht, den Menschen nahe zu bringen, daß Veränderungen nur durch eigene Aktivität herbeigeführt werden können.
Der arabische Orient kämpft bis heute noch mehr mit Worten als mit Taten. Dementsprechend hat Europa ihn mit einigen Worten belohnt wie „Unabhängigkeit“, „Parlament“, „Verfassung“, „allgemeine Wahlen“ und „nationale Ministerien“. Und nun kämpft der Orient für die Realisierung der Bedeutung dieser Begriffe, allerdings mit Worten. Oh, wenn er doch Helden gewinnen würde, die ihn durch Taten auszeichneten, so wie er sich im Bereich der Worte durch die Fürsten der Rhetorik auszeichnet!
* * *

Al-Haddâds persönliches Islamverständnis ist mit vielen Aspekten der tunesischen Gesellschaft seiner Zeit nicht vereinbar. Tatsächlich vertrat er die Meinung, daß die tunesische Gesellschaft vom wahren Geist des Islams abgefallen sei und es nun die Aufgabe ist, diesen zu verwirklichen. Sein Modernisierungsdiskurs basiert u.a. auf dieser Idee sowie auf dem Prinzip einer progressiven Rechtsprechung im Islam, die angesichts veränderter Gegebenheiten auch zu einer Änderung bisher geltenden Rechtsprinzipien führt (Beispiele hierzu folgen im dritten Teil). Progressiv sei der Islam deshalb, weil er seine Regelungen stufenweise manifestiert und fähig ist, an gesellschaftliche Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit ergeben, angepaßt zu werden.

Vieles könnte an dieser Stelle noch über das relativ kurze Leben al-Haddâds, sein Wirken und seine Gedanken geschrieben werden. Das Augenmerk muss dabei jedoch auf sein leidenschaftliches Engagement zugunsten der tunesischen Frauen gerichtet werden. Das Reformieren der tunesischen Gesellschaft zugunsten der Frauen und die Befreiung der tunesischen Frauen von Unterdrückung stellten sein Hauptanliegen dar. Ein Anliegen, daß sich auf dramatische Weise auf sein Leben auswirken sollte.

FORTSETZUNG FOLGT
(Literaturhinweise wird der letzte Teil dieser Serie enthalten)

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