27.02.2011

Bayn al-'Asrayn - zur anstehenden Verfassungsänderung zwischen den Republiken

Im Kabinettssaal wird Mubaraks Portrait
am 13.02.2011 entfernt. Der Aufbau einer
neuen Republik beginnt...
Ein Gastbeitrag von Björn Bentlage

Die zweite ägyptische Republik endete am 13.02.2011 mit der Machtübernahme des Militärs. Dass nach der sechsmonatigen Übergangszeit eine neue, dritte Republik beginnen wird, deren angemessene Verfassung erst durch Diskussion und Kompromiss gefunden werden muss, ist schon jetzt deutlich. Doch zwischen den beiden Republiken liegt die Änderung der Verfassung von 1971, die jetzt ansteht, und den Übergang erst ermöglichen soll. In nur zehn Tagen hat ein eingesetzter Ausschuss von acht Richtern und Juristen einen Änderungsentwurf ausgearbeitet. Die Details der Eingriffe in die Verfassung werden bestimmen, wie demokratisch und sauber der Übergang zu einer zivilen Regierung ablaufen kann. Sie regeln die wichtigsten Grundsätze der Präsidentschaft- und Parlamentswahlen und ordnen bereits jetzt das Machtgefüge der Staatsgewalten und die Partizipation der ägyptischen Zivilgesellschaft neu.

Im Folgenden werden die sechs Verfassungsartikel vorgestellt, deren Änderung nun ansteht. Die wahrscheinlichen Lösungen sind keine ad-hoc Einfälle des Ausschusses, sie gehen vielmehr auf jahrelange Diskussionen unter Juristen und politischen und gesellschaftlichen Akteuren zurück und fanden in direktem Bezug zu den Verhältnissen und Praktiken unter dem Regime Mubaraks statt.



Bayn al-'Asrayn. Zur anstehenden Verfassungsänderung zwischen den Republiken
(Nach dem Roman „Bayn al-qasrayn“ (Zwischen den Palästen) von Nagib Machfuz.)
„Am 25. Januar hat die Regierung ihre Rechtmäßigkeit verloren“, sagte Zakariyya 'Abd al-'Aziz, der ehemalige Vorsitzende des Richterclubs Anfang Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz. Am 13.02.2011 endete dann die zweite ägyptische Republik (1952-2011). Dass nach der sechsmonatigen Übergangszeit eine neue, dritte Republik angestrebt wird, ist jetzt schon abzusehen. Und dazwischen liegen die jetzt anstehenden Verfassungänderungen, die den Übergang von der zweiten zur dritten Republik erst möglich machen sollen. Ägypten mag aus den Brennpunkten und Schlagzeilen geraten sein, die großen Fragen - Rücktritt des Autokraten Mubarak, Auflösung des Parlaments - sind geklärt, und eine kompakt vermittelbare Nachricht, etwa darüber, wer der nächste Präsident wird etc., ist noch nicht in Sicht. Dennoch befindet sich das Land in einer spannenden Phase, deren Details wichtig sind und mehr Aufmerksamkeit verdienen. Die folgenden Seiten sind kein Meinungsartikel sondern eine hoffentlich hilfreiche Sammlung von Informationen und Ansatzpunkten.
Die geplanten Verfassungsänderungen 2011
Am 25.02. oder 26.02.2011 wird ein Entwurf zur Änderung der Verfassung  von 1971 vorgestellt. Er wird sehr wahrscheinlich die folgenden sechs Artikel betreffen:
- Die Artikel 76 und 77 regeln die Voraussetzungen für die Kandidatur zur Präsidentschaft sowie die Amtsdauer des Präsidenten. Voraussichtlich wird die Amtszeit auf zwei mal vier Jahre beschränkt und die Kandidatur erheblich erleichtert. Außerdem soll der Vizepräsident künftig durch Wahlen bestimmt werden.
Der Artikel 76 war vor den Wahlen 2005 geändert worden, um einerseits erstmals und auf Druck der USA und der ägyptischen Protestbewegung mehrere Präsidentschaftskandidaten zuzulassen, andererseits aber die Chancen oppositioneller Herausforderer von vornherein klein zu halten. Einen Vizepräsidenten hat es über Jahrzehnte nicht gegeben, die Ernennung 'Umar Sulaymans im Januar 2011 war insofern ein gewichtiges Zugeständnis gewesen, das aber nicht mehr beeindruckte.
- Der Artikel 88 regelt die Aufsicht über die Wahlen, die künftig komplett und ohne Einschränkung in der Hand von Richtern liegen soll. Diese haben gerade in den letzten Jahren viel Vertrauen in der Bevölkerung gewonnen und gelten mit gutem Grund als Garanten von sauberen Wahlen.
Wahlaufsicht meint die Kontrolle des gesamten Vorgangs von der Erstellung der Wählerlisten über die Abstimmung bis zur Auszählung und Verkündung der Ergebnisse. Bislang war das in der Verfassung von 1971 angelegte Prinzip der Wahlaufsicht durch die Judikative aufgeweicht, umgangen, und 2007 durch eine Verfassungsänderung ausgehebelt worden. Hintergrund war eine Auseinandersetzung zwischen Richterschaft und Regime in den Jahren 2005 und 2006, die zu Großdemonstrationen und Ausschreitungen geführt hatte. Die Richterschaft hatte gedroht, die Wahlaufsicht zu boykottieren, um mehr Unabhängigkeit für die Justiz durchzusetzen. Das gefährdete die Legitimität des zu wählenden Parlaments in einem eempfindlichen Maß.
Die auch für die Verhältnisse unter Mubarak dreisten und plumpen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen 2010 waren nur durch die Aushebelung der richterlichen Aufsicht möglich. In den Wahlen der Jahre 2000 und 2005 hatte das Regime sich noch mit der Beschränkung der Aufsicht auf große Wahllokale, die kreative Interpretation von „Wahlaufsicht durch Vertreter der Judikative“, die handverlesene Auswahl von leicht beeinflussbaren Richtern, Bonuszahlungen bei Gefälligkeit und finanziellem Druck bei Widerstand und ähnliche indirekte Strategien begnügt. Lediglich außerhalb der Wahllokale sorgten bezahlte Schlägertrupps für offensichtlichere Rechtsverstöße und Einschüchterungen. Die nun vorab bekanntgewordenen Änderungen des Jahres 2011 lassen solche Aufweichungen nicht mehr zu. Der Wahlvorgang soll komplett von amtierenden Richtern überwacht werden, die Organisation der Wahlen sogar in Gerichtsgebäuden stattfinden und nicht mehr unter der Kontrolle des Innenministeriums stehen, das direkt mit Willkür und Repressionen verbunden wird.
- Der Artikel 93 regelt die Zuständigkeit des Parlaments, über die Rechtmäßigkeit der Mitgliedschaft im Parlament selbst zu entscheiden. Aufgrund dieses Artikels kam es immer wieder vor, dass ägyptische Verwaltungsgerichte die Wahl von Abgeordneten in großer Zahl für rechtswidrig und ungültig erklärten, das Parlament die Urteile aber nicht umsetzte. Wahrscheinlich wird diese Zuständigkeit an ein Gericht übertragen.
Da Wahlfälschungen und Unregelmäßigkeiten in wechselndem Ausmaß seit Jahrzehnten zur Politik im autokratisch regierten Ägypten gehören, ein Großteil der Justiz aber relativ unabhängig arbeitet und auch ein staatliches Interesse an dieser Unabhängigkeit bestand, war der Artikel 93 schon oft Grund für Spannungen. Mehrfach wurden Parlamente rückwirkend für verfassungswidrig erklärt (Wahlen von 1984, 1987 1990), nach den Wahlen 2005 belegten unabhängige Untersuchungen des ägyptischen Richterclubs Wahlfälschungen in vielen Bezirken, woraufhin Verwaltungsgerichte die Wahlen in diesen Bezirken für ungültig erklärten, die Abgeordneten aber mangels Entscheids des Parlaments im Amt blieben. Da für die Parlamentswahlen 2010 Gerichtsurteile vorlagen, die den Stopp der Wahlen für 184 Sitze im Parlament anordneten und so ungültig machten, war das nunmehr aufgelöste Parlament möglicherweise nie verfassungskonform. Außerdem gab es eine Auseinandersetzung zwischen dem Hohen Verwaltungsgericht und der Wahlkommission über die Zuständigkeit für Beschwerden bei Unregelmäßigkeiten während der Wahlen. In den Tagen zwischen Ausbruch der Proteste im Januar 2011 und dem Rücktritt Mubaraks war das Parlament bzw. seine Neuwahl Teil der Verhandlungsmasse zwischen Vize Sulayman und der Opposition.
- Der Artikel 179 soll gestrichen werden. Er gibt, seit der Verfassungsänderung von 2007, dem Präsidenten die Möglichkeit, Angeklagte vor Militär- und Sondergerichte zu stellen, wenn sie einer terroristischen Tat angeklagt werden. Das war bislang ein wichtiges Instrument zur Kontrolle und Einschüchterung politischer Gegner.
Diese Vollmacht besitzt der Präsident unter dem Ausnahmezustand unabhängig von der Art der Anklage und sie wurde unter Mubarak oft angewendet, um Zivilisten aus dem Lager der politischen Gegner vor Militär- und Sondergerichte zu bringen. Das ist eine Umgehung der regulären Justiz, die nicht so gut kontrollierbar ist wie die heutigen Sondergerichte, deren Vorgänger bereits nach der Revolution von 1952 eingeführt wurden, weil man in den Gerichten Vertreter des alten Regimes wähnte. Die Verfassungsänderung von 2007 sollte perspektivisch die Aufhebung des Ausnahmezustands erlauben, ohne die Möglichkeit zu verlieren, Regimegegner vor botmäßige Sondergerichte zu stellen. Die bereits erfolgte Freilassung von über 100 Gefängnisinsassen mit islamistischem Hintergrund und die Forderung nach Freilassung aller übrigen politischen Gefangenen geht auf diese Praxis zurück.
- Der Artikel 189 regelt die Bedingungen zur Änderung der Verfassung. Die Wahlfälschungen und Beeinflussungen der letzten Jahre dienten auch dem Ziel, der Regierungspartei die für Verfassungsänderungen notwendige Mehrheit im Parlament zu sichern. Verfassungsänderungen nach Wunsch des Präsidenten Mubarak gab es beispielsweise 2005 und 2007. Jede Verfassungsnovelle muss per Referendum vom Volk bestätigt werden.
Der Verfassungsausschuss und seine Aufgaben
Der Hohe Rat der Streitkräfte hat mit seiner fünften Erklärung am 13.02.2011 die Führung des Landes übernommen (s.u.). In der gleichen Erklärung kündigte der Hohe Rat die Einsetzung eines Ausschusses an, der eine Verfassungsänderung vorbereiten soll. Der Ausschuss nahm am 15.02.2011 seine Arbeit auf und soll bis zum 25.02.2011 einen Entwurf zur Verfassungsänderung fertiggestellt haben. Vorschläge für Gesetzesänderungen, die während der Übergangszeit notwendig sind, sollen innerhalb eines Monats bis zum 15.03.2011 vorgelegt werden. Allgemein erhielt der Ausschuss die Aufgabe, die Aufhebung des Notstandes, das Verfassungsreferendum und Parlaments- und Präsidentschaftswahlen innerhalb der Übergangsperiode von sechs Monaten legislativ vorzubereiten.
In der fünften Erklärung des Hohen Rates (13.02.2011) heißt es: »[Der gesellschaftliche Fortschritt] wird durch die Realisierung einer Atmosphäre der Freiheit und der demokratischen Verfahren erreicht, durch Änderungen der Verfassung und der Gesetzgebung, die die legitimen Forderungen umsetzen, die unser großartiges Volk während der letzten Tage zum Ausdruck gebracht hat [..]. Der Hohe Rat der Streitkräfte hat den festen und unverrückbaren Glauben, dass die Freiheit des Menschen, Rechtssicherheit, die Förderung von Gleichberechtigung, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit sowie die Beseitigung der tief verwurzelten Korruption die Grundsätze jeder rechtmäßigen Regierung sind, die das Land in Zukunft anführen wird.«
Der jetzige Verfassungsausschuss hatte eine Vorgänger, der noch unter der Präsidentschaft Mubaraks eingerichtet wurde und am 09.02.2011 zusammentrat. Er sollte - die Proteste waren bereits in vollem Gang und Vizepräsident Sulayman suchte Verhandlungen mit Vertretern der Opposition - die selben sechs Verfassungsartikel abändern wie der jetzige Ausschuss.
Wahrscheinliche Gesetzesänderungen in der Übergangszeit
Die wichtigsten Gesetzesvorhaben betreffen die Organisation der Wahlen sowie die Gründung und Zulassung von Parteien.
Die dringlichste Gesetzesänderungen betreffen das „Gesetz zur Wahrnehmung der politischen Rechte“ sowie das Gesetz, das die Organisation der Präsidentenwahlen regelt. Bereits jetzt wurde bekannt, dass die Zulassung von Parteien neu und weniger restriktiv geregelt werden soll, Details werden aber noch diskutiert. Der von der NDP kontrollierte Parteienausschuss war eines der Instrumente, mit denen effektiv gemanagt werden konnte, welche oppositionellen Kräfte sich legal in Parteien formieren können. Anträge von den Muslimbrüdern nahestehenden Personen oder Mitgliedern auf Zulassung einer überkonfessionell angelegten Partei (hizb al-wasat, Partei der Mitte) werden seit Jahren routiniert abgelehnt. In den späten 1980ern und 1990ern hatte sich deswegen ein weiter Teil oppositioneller Tätigkeit in andere Organisationsformen verlagert, etwa in die Gewerkschaftsbewegung und die berufsständischen Kammern.
Neben der Wahlaufsicht durch die Judikative wird der Ministerpräsident wahrscheinlich in Zukunft der größten Fraktion im Parlament entstammen. Die Wahlen und Amtszeiten bzw. Legislaturperioden werden bald so gelegt, dass zuerst das Parlament gewählt wird und der Präsident dann vor den Kammern der Volksvertreter den Amtseid ablegt.
Die Zusammensetzung des Verfassungsausschusses
Die acht Mitglieder des Ausschusses wurden vom Hohen Rat der Streitkräfte ausgesucht und seine Aufgaben am 14.02.2011 in einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Hohen Rates abgestimmt.
Bei der Auswahl legte der Rat, neben der Kompetenz, augenscheinlich Wert auf eine ausgeglichene Zusammensetzung (3 amtierende Richter, 1 Kopte, 1 Muslimbruder, mehrere Universitätsprofessoren). Keiner der amtierenden und ehemaligen Richter hatte eine jener Schlüsselpositionen (Präsident des Verfassungsgerichts, Präsident des Kassationshofs, Justizminister) inne, deren Inhaber direkt vom Staatspräsidenten Mubarak ernannt wurden. Stattdessen handelt es sich um hochrangige Richter, die durch den Kreis ihrer Kollegen in ihre Ämter gewählt wurden. Das demonstriert Unabhängigkeit vom alten Regime.
•  Vorsitzender: Richter Tariq al-Bishri, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Staatsrats
•  Dr. 'Atif al-Banna, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Kairo
•  Dr. Hasanayn 'Abd al-'Al, Professor für Verfassungsrecht
•  Dr. Muhammad Mahi Yunus, Professor an der Universität Alexandria
•  Subhi Salih, Vertreter der Muslimbruderschaft und Anwalt am Kassationshof
•  Richter Mahir Sami Yusuf, stellverstretender Präsident des Hohen Verfassungsgerichts
•  Richter Hasan al-Badrawi, stellvertretender Präsident des Verfassungsgerichts
•  Hatim Bajatu, Vorsitzender der Vereinigung der Anwälte am Hohen Verfassungsgericht
Der Vorgängerausschuss (s.o.) wurde hingegen von Dr. Siyam geleitet, dem Präsidenten des Kassationshofs und qua Amt Vorsitzender des Hohen Justizrats. Dr. Siyam war direkt vom Staatspräsidenten ernannt und saß an einer der Schaltstellen zur Beeinflussung der Justiz.
Tariq al-Bishri
Der Vorsitzende des Verfassungsausschusses ist ein ehemaliger hoher Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Er gilt gemeinhin als glückliche Wahl und als unabhängig. Al-Bishri hat sich intensiv mit der Herausforderung beschäftigt, wie ein religiös-moralischer Impetus in rechtsstaatlichen Strukturen Ausdruck finden kann, und genießt Ansehen und Respekt von politischen Kreisen über die Richerschaft bis zur islamistischen Opposition.
Tariq al-Bishri wurde 1931 als Sohn eines Juristen und Enkel eines hochstehenden religiösen Gelehrten geboren. Lange Jahre war er stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates, d.h. der ägyptischen Verwaltungsgerichte, die im Staatsrat zusammengefasst sind, pensioniert wurde er 1998.
Er war eine wichtige Stimme innerhalb der justizinternen Reformbewegung der 1980er und 1990er. In seinem 2006 erschienenen Buch „Die ägyptische Justiz zwischen Unabhängigkeit und Kooptation“ hatte al-Bishri die Anliegen der Richterschaft zusammengefasst und in einem leicht idealisierenden Rückblick auf die liberale Ära Ägyptens vor der Revolution von 1951 das Ideal der Gewaltenteilung gegen die jüngeren systematischen Beeinflussungen durch die Exekutive und unrechtmäßigen Praktiken der Mubarak-Jahre kontrastiert. Er mag nicht der Urheber der Forderungen der Richterschaft von 2005 und 2006 sein, fest verwurzelt in den damit zusammenhängenden Diskursen ist er allemal. Darum kann al-Bishri‘s Buch von 2006 genauso als Blaupause oder wenigstens Orientierungshilfe dienen für die zukünftige Entwicklung der Verfassung in Ägypten wie der Forderungskatalog des Richterclus aus jenen Jahren.
Was al-Bishri in der jetzigen Situation zu einem guten Kandidaten für den Vorsitz des Verfassungsausschusses macht, ist, dass er sowohl für die islamisch argumentierenden Teile der Opposition als auch für etablierte politische Parteien inklusiver der NDP akzeptabel ist. Seine rechtlichen Ansichten zu vielen Gesetzesfragen sind bekannt, er ist ein glaubwürdiger Verfechter von Gewaltentrennung und Demokratisierung und ein Richter mit deutlichen Sympathien und dezidierten religiösen Überzeugungen. Ein Grundproblem der arabischen Politik, dem sich al-Bishri vor allem in den 1990ern widmete („Zwischen Islam und arabischem Nationalismus“ von 1998, „Zwischen der religiösen Gemeinschaft und der nationalen Gemeinschaft im politischen Denken“ von 1998) ist die Trennung eines nationalistischen säkularen Diskurses und eines islamischen politischen Diskurses. Er analysiert, wie diese Aufteilung zu einer gesellschaftlichen Spaltung führe, die in problematischer Weise immer schwerer überbrückbar wird. In einem Buch von 2002 sieht er dieses Dilemma bereits teilweise überwunden oder doch zumindest abgemildert, weil ein besseres Verständnis über die Grundprinzipien der politischen Zusammengehörigkeit (Religion und arabische Abstammung) möglich geworden sei. Als neue Bedrohung der arabischen Gesellschaft macht er nun mehr als vorher die Einflussnahme des westlichen Auslands aus, sowohl kulturell als auch politisch und wirtschaftlich.
Der Hohe Rat der Streitkräfte
Mit seiner fünften Erklärung hat der Hohe Rat der Streitkräfte am 13.02.2011 die Verfassung außer Kraft gesetzt, beide Kammern des Parlaments aufgelöst und eine Übergangszeit von sechs Monaten angekündigt.
In diesem halben Jahr soll die Verfassung geändert, die Änderung per Referendum angenommen, sollen Neuwahlen des Parlaments und für das Präsidentenamt durchgeführt werden. Verfassungs- und Gesetzesänderungen sollen den Willen des Volkes, wie er sich während der Revolution artikuliert hat, umsetzen. Der Militärrat hat wiederholt angekündigt, keinen eigenen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen aufzustellen. Der straffe Zeitplan für die Übergangszeit und die rasch eingeleiteten ersten Schritte wecken bisher keine Zweifel am angekündigten schnellen Übergang zu einer Zivilregierung. In diesem Zusammenhang ist auch die Kritik am Verfassungsausschuss zu sehen, der von NGOs und unabhängigen Juristen dafür kritisiert wird, dass er nicht die Abstimmung mit der Bevölkerung suche; ohnehin sei die Verfassung von 1971 nicht mehr tauglich für die geänderten Umstände, weil die zweite ägyptische Republik de facto beendet sei. Der Hohe Rat hat die Schaffung einer neuen Verfassung in breiter Diskussion mit allen Bevölkerungsteilen aber als Aufgabe der zukünftigen Zivilregierung beschrieben.
Der Vorsitzende des Hohen Rates der Streitkräfte ist der Verteidigungsminister Feldmarschall Muhammad Husayn Tantawi. Drei weitere namentlich bekannte Mitglieder sind: Admiral Mamduh Shahin, Staatssekretär im Verteidigungsministerium für Gesetzes- und Verfassungsfragen; Admiral Muhammad al-'Assar, Staatssekretär im Verteidigungsministerium; Admiral Mukhtar al-Mulla.
Politik in der Zeit des Übergangs
Zwar ist auch nach der Auflösung des Parlaments die kurz zuvor von Ex-Präsident Mubarak eingesetzte Regierung des Ministerpräsidenten Generalleutnant Ahmad Shafiq weiter im Amt, doch der Hohe Rat der Streitkräfte gibt die Leitlinien vor und ist gerade dabei, tiefgreifende Änderungen am politischen System Ägyptens vorzunehmen. Die Zusammenarbeit mit einer Regierung des alten Regimes mag als Widerspruch erscheinen, hat aber den Vorteil, dass deren Erfahrung und Sachverstand genutzt werden kann. Eine eigens eingesetzte Regierung von Technokraten würde im Fall von Misserfolgen zudem wesentlich direkter mit den herrschenden Militärs in Verbindung gebracht werden.
Ein Beispiel für eine der laufenden Änderungen am System ist der Umbau der Polizeibehörden in allen Provinzen des Landes, den das Innenministerium mit seinen bestehenden Strukturen auf Anweisung gerade umsetzt. Ein anderes Beispiel ist die Vorbereitung der Verfassungsänderung durch das eigenmächtig ernannte Gremium des Verfassungsausschusses.
Die Regierung Shafiq
Die Regierung von Generalleutnant Ahmad Shafiq, bestehend aus vorerst nur 14 Ministern, wird am 31.01.2011 von Staatspräsident Mubarak eingeschworen. Das Kabinett - mehrere Posten wurden erst später besetzt - beinhaltet zur einen Hälfte Vertreter der alten Garde, zur anderen aber neue Gesichter. Besonders auffällig ist der Ausschluss der erfolgreichen Geschäftsleute, die die Politik unter dem vorherigen Ministerpräsidenten Ahmad Nazif geprägt hatten, sowie die neuen Minister mit militärischem Hintergrund.
Die ausgeschlossenen Geschäftsleute, die mit Husni Mubaraks Sohn Jamal in Verbindung gebracht werden, sind: Habib al-'Adli, Faruq Husni, Hatim al-Jabali, Zuhayr Jarana, Rashid Muhammad Rashid, Ahmad al-Maghrabi.
Die Zusammensetzung der neuen Regierung ist wie folgt (1-12 sind die neuen Minister):
1.   Ministerpräsident Feldmarschall Ahmad Shafiq
2.   Mahmud Majdi, Innenminister
3.   Ibrahim Mana', Minister für Flugverkehr
4.   Yahya 'Abd al-Majid, Minister für Angelegenheiten der Beratenden Versammlung
5.   Dr. Ahmad Samih Farid, Gesundheitsminister
6.   Dr. 'Abdallah al-Husayni, Minister für religiöse Stiftungen
7.   Samiha Fawzi, Handelsminister
8.   Jabir 'Asfur, Kulturminister
9.   Dr. Ayman Farid Abu Hadid, Agrarminister
10. Dr. Fathi al-Baradei, Wohnungsbauminister
11. Admiral Muhsin an-Ni'mani, Minister für lokale Entwicklung
12. 'Atif 'Abd al-Hamid, Transportminister
13. Stellvertretender Ministerpräsident und Verteidigungsminsiter Feldmarschall Muhammad Husayn Tantawi
14. Zahi Hawwas, Minister für Altertümer
15. Mufid Shihab, Minister für Gesetzgebung und die Volkskammer
16. Sayyid Mash'al, Staatsminister für Kriegsgüter
17. Samih Fahmi, Minister für Erdöl
18. Dr. Hasan Yunis, Minister für Elektrizität und Energie
19. Mushira Khattab, Staatsministerin für Familie und Bevölkerungsfragen
20. Ahmad Abu l-Ghayt, Außenminister
21. Fayza Abu n-Naja, Minister für internationale Kooperation
22. Majid Juruj, Staatsminister für Umweltangelegenheiten
23. Anas al-Faqi, Minister für Medien
24. Tariq Kamil, Kommunikationsminister
25. Dr. 'Ali al-Musaylahi, Minister für soziale Zusammenarbeit
26. 'Aʾisha 'Abd al-Hadi, Ministerin für Arbeitskräfte
27. Dr. Hani Hilal, Minister für höhere Bildung und wissenschaftliche Forschung
28. Magistrat Mamduh Mar'i, Justizminister
Die politischen Kräfte
Der Hohe Rat hat den Anspruch und bezieht seine temporäre Legitimität daraus, die Forderungen der Bevölkerung umzusetzen. Dabei ergibt sich das praktische Problem, mit wem und wie der Hohe Rat kooperieren und kommunizieren kann. Das Parlament ist aufgelöst und hatte bereits zu Beginn der Proteste seine Legitimität verloren, die legalen Oppositionsparteien bilden nur einen Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Ägypten ab. Das politische Umfeld wird weniger von etablierten Parteien und Institutionen bestimmt als zunehmend von neue gegründeten Gruppen und informellen Bewegungen und Strömungen. Diese werden in der ägyptischen Presse als „die politischen Kräfte“ bezeichnet. Eine umfassende Darstellung ist nicht möglich.
Der Hohe Rat kommuniziert über seine Erklärungen, direkte Gespräche - die Herausgeber wichtiger arabischer Zeitungen wurden zum Gespräch eingeladen - über eine eigene Facebook-Seite und seit Kurzem sogar über den Besuch einiger ihrer Mitglieder in Diskussionsrunden im Fernsehen. Auf dem Sender „Dream“ hatten drei Mitglieder des Hohen Rates ihre Politik erklärt und mit der Moderatorin und einem weiteren Gast diskutiert.
Schon vor Ausbruch der Proteste hatten sich, neben der Nationalen Organisation für Veränderung, die al-Baradei unterstützte, eine Reihe anderer Gruppen zusammengetan. Das „Volskparlament“ etwa ist eine Initiative ehemaliger Abgeordneter und angesehener Persönlichkeiten, die nach den Wahlen 2010 eine Alternative zum offiziellen Parlament schaffen wollten, in dem die Gesetzesvorhaben der Regierung frei diskutiert werden könnten.
Seit dem 25. Januar haben sich mehrere Strömungen zu Sprechern oder wenigstens zu Teilen der Jugendrevolution erklärt. Es gibt die „Koalition der Jugend“, die „Jugend des 25. Januar“, die „Vereinigung der Jugend der Revolution“ und natürlich die Jugendorganisationen der angestammten Parteien, die sich wenigstens parteiübergreifend zu Pressekonferenzen zusammenfinden. Schon vor den diesjährigen Protesten gab es die Facebook-Gruppe „Jugend des 6. April“ in Erinnerung an die Arbeiterunruhen des Jahres 2008.
Während der Proteste bildeten sich dann spontane Aktionsgemeinschaften heraus, die Nachbarschaften sicherten, entflohene Strafgefangen und Plünderer festsetzten, Preiskontrollen bei krisengewinnlerischen Geschäften für Güter des täglichen Lebens einführten, oder einfach nur die Straßenreinigung und die Wasserversorgung der Demonstranten sicherstellten.
Unter zivilgesellschaftlichen Akteuren können vor allem Vertreter der Richterschaft auf Aufmerksamkeit hoffen. Die Auseinandersetzung mit dem Regime 2005 und 2006 (s.o.) hat einzelne Richter der „Unabhängigkeitsströmung“ national bekannt gemacht und ihre Forderungen zur Wahlaufsicht und Gewaltentrennung zu einem oppositionellen Konsens werden lassen. Die Teilnahme von Zakariyya 'Abd al-'Aziz, dem ehemaligen Vorsitzenden des Richterclubs, an den Demonstrationen auf dem tahrir-Platz wurden umgehend medial wahrgenommen und kommentiert. Der Richterclub selbst ist seit den letzten internen Wahlen nicht mehr unter der Führung der Reformbewegung, doch Mitglieder der „Unabhängigkeitsströmung“ haben schon begonnen, Unterschriften für einen Misstrauensantrag gegen den regimetreuen Vorsitzenden Ahmad az-Zand zu sammeln.
Die Vollversammlungen der Gerichte, inbesondere des Staatsrats und des Verfassungsgerichts können als demokratisch legitimierte Gremien für eine Abstimmung legislativer Schritte interessant sein, da sie gegenüber dem alten System erstaunlich unabhängig auftreten und agieren konnten.
Zudem stehen eine Fülle von neuen Parteigründungen an. Am 17.02.2011 berichtete die Tageszeitung al-masri l-yawm von ca. 13 Neugründungen seit dem 25.01.2011. Besonders interessant ist hierbei, wie sich das islamistische Spektrum und die Muslimbruderschaft in der Parteienlandschaft abbilden wird. Bis jetzt sieht es nach einer Aufsplitterung aus.
Die Muslimbruderschaft ist zwar offiziell verboten, ihr Hauptsitz in Kairo aber ebenso bekannt wie führende Köpfe oder ihre Vertreter in Gewerkschaften und berufsständischen Vereinigungen. Außerdem strebt sie jetzt danach, auch offiziell am politischen Leben teilnehmen zu können. In den Parlamenten von 2000-2010 waren die Abgeordneten als unabhängige Kandidaten angetreten, vormals sogar als Kandidaten anderer Parteien wie der wafd-Partei. Nach 15 Jahren Wartezeit wurde am 19.01.2011 die Gründung der „Partei der Mitte“ genehmigt, einer überkonfessionellen Partei mit Nähe zur Muslimbruderschaft. Zusätzlich plant die Gemeinschaft die Gründung einer eigenen „Partei der Freiheit und Gerechtigkeit“ und der interne Reformflügel denkt über eine „Partei der Reform“ nach. Allen Aussagen des Sprechers der Muslimbruderschaft 'Isam al-'Aryan zufolge kann man das Programm der drei den Muslimbrüdern nahestehenden Parteien nur als parlamentarisch-demokratisch und moderat bezeichnen, sowohl in Bezug auf die Ansprüche der Muslimbrüder in der Gesellschaft und im Staat als auch in Bezug auf die Außen- und Wirtschaftspolitik. Ein erster offizieller Auftritt eines Muslimbruders im staatlichen Fernsehen kann genauso als Normalisierung gesehen werden wie die sehr richtige und unaufgeregte Einordnung al-Qaraḍawis als „populärer konservativer Prediger“ in der Medienberichterstattung in Ägypten.
Zukunftsfragen
Auch nach dem Ende der Übergangszeit wird es spannend bleiben. Dass es dann eine breite Diskussion über eine gänzlich neue Verfassung geben wird, kann als sicher gelten. Die Verfassung von 1971 mag in der Substanz mit wenigen Veränderungen durchaus praktikabel für ein demokratisches Ägypten sein, ein Symbol für Jahrzehnte der Autokratie ist sie dennoch. Das Verlangen nach öffentlicher Diskussion über Fragen wie Gewaltenteilung ist hoch, die wichtigste unabhängige Tagszeitung hat bereits eine Kampagne für eine neue Verfassung gestartet, die Jugendbewegungen und selbst prominente Richter und Verfassungsjuristen fordern lautstark nach einer neuen Grundlage für eine neue Republik.
Hier einige Fragen, die in den kommenden Jahren diskutiert und angegangen werden könnten:
- Was geschieht mit den staatlichen Medien, den Fernsehsendern und Zeitungen in Besitz der Regierung?
Die Journalistenkammer wird auf weitere inhaltliche und unternehmerische Freiheiten drängen, während die zahlreichen Angestellten der staatlichen Medien auf eine Fortführung hoffen.
- Wieviel Eigenständigkeit sollen die religiösen Einrichtungen in der neuen Republik haben, und wieviel Kontrolle und finanzielle Unterstützung wird vom Staat verlangt?
Seit der Revolution von 1952 hat der ägyptische Staat seine Kontrolle der Einrichtungen des religiösen Lebens immer weiter augebaut. Der religiöse Bildungssektor der Azhar-Schulen, Kindergärten und der Universität ist genauso staatlich wie die Großzahl der Moscheen. Prediger und Gebetsrufer werden staatlich ausgebildet und besoldet, wurden in der Vergangenheit zunehmend für politische Kampagnen eingespannt (zum Beispiel um vor dem 25.01.2011 Ruhe anzumahnen).
- Wie gestaltet man die Gewaltenteilung organisatorisch aus?
Ein neues Justizgesetz, das die gezielten Einflussnahmen der Exekutive erschwert, wird gerade für den Personenkreis, der an der derzeitigen Verfassungsänderung mitwirkt, sowie die breite Allianz der Unterstützerszene der Richterschaft ein Kernanliegen bleiben. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Zusammensetzung des Hohen Justizrats und den Auswahlmodalitäten für die Präsidenten des Kassationshofs und des Verfassungsgerichts. Dass der jetzige Justizminister Mamduh Mar'i sich länger als bis Ende der Übergangszeit halten kann, ist aufgrund seiner offenen Angriffe auf alle Unabhängigkeitsbestrebungen der Justiz in den letzten Jahren nicht denkbar.
Es sind spannende Zeiten. Und mehr Möglichkeiten, optimistisch zu sein, gab es schon lange nicht mehr.

1 Kommentar:

  1. Inzwischen ist der Vorschlag zur Änderung von insgesamt 8 Verfassungsartikeln öffentlich vorgestellt worden. Hier der (Perma-?) Link zu einem Artikel der Tageszeitung al-masri l-yawm vom 27.02.2011 mit längeren Textauszügen aus dem Vorschlag:

    http://www.almasry-alyoum.com/article2.aspx?ArticleID=289090&IssueID=2059

    AntwortenLöschen