Im Kabinettssaal wird Mubaraks Portrait am 13.02.2011 entfernt. Der Aufbau einer neuen Republik beginnt... |
Die zweite ägyptische Republik endete am 13.02.2011 mit der Machtübernahme des Militärs. Dass nach der sechsmonatigen Übergangszeit eine neue, dritte Republik beginnen wird, deren angemessene Verfassung erst durch Diskussion und Kompromiss gefunden werden muss, ist schon jetzt deutlich. Doch zwischen den beiden Republiken liegt die Änderung der Verfassung von 1971, die jetzt ansteht, und den Übergang erst ermöglichen soll. In nur zehn Tagen hat ein eingesetzter Ausschuss von acht Richtern und Juristen einen Änderungsentwurf ausgearbeitet. Die Details der Eingriffe in die Verfassung werden bestimmen, wie demokratisch und sauber der Übergang zu einer zivilen Regierung ablaufen kann. Sie regeln die wichtigsten Grundsätze der Präsidentschaft- und Parlamentswahlen und ordnen bereits jetzt das Machtgefüge der Staatsgewalten und die Partizipation der ägyptischen Zivilgesellschaft neu.
Im Folgenden werden die sechs Verfassungsartikel vorgestellt, deren Änderung nun ansteht. Die wahrscheinlichen Lösungen sind keine ad-hoc Einfälle des Ausschusses, sie gehen vielmehr auf jahrelange Diskussionen unter Juristen und politischen und gesellschaftlichen Akteuren zurück und fanden in direktem Bezug zu den Verhältnissen und Praktiken unter dem Regime Mubaraks statt.
Bayn
al-'Asrayn. Zur anstehenden Verfassungsänderung zwischen den Republiken
(Nach dem Roman „Bayn al-qasrayn“ (Zwischen den Palästen) von
Nagib Machfuz.)
„Am 25. Januar hat die Regierung ihre Rechtmäßigkeit verloren“,
sagte Zakariyya 'Abd al-'Aziz, der ehemalige Vorsitzende des Richterclubs
Anfang Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz. Am 13.02.2011 endete dann die zweite
ägyptische Republik (1952-2011). Dass nach der sechsmonatigen Übergangszeit
eine neue, dritte Republik angestrebt wird, ist jetzt schon abzusehen. Und
dazwischen liegen die jetzt anstehenden Verfassungänderungen, die den Übergang
von der zweiten zur dritten Republik erst möglich machen sollen. Ägypten mag
aus den Brennpunkten und Schlagzeilen geraten sein, die großen Fragen -
Rücktritt des Autokraten Mubarak, Auflösung des Parlaments - sind geklärt, und
eine kompakt vermittelbare Nachricht, etwa darüber, wer der nächste Präsident
wird etc., ist noch nicht in Sicht. Dennoch befindet sich das Land in einer spannenden
Phase, deren Details wichtig sind und mehr Aufmerksamkeit verdienen. Die
folgenden Seiten sind kein Meinungsartikel sondern eine hoffentlich hilfreiche
Sammlung von Informationen und Ansatzpunkten.
Die geplanten Verfassungsänderungen 2011
Am 25.02. oder 26.02.2011 wird ein Entwurf zur Änderung der
Verfassung von 1971 vorgestellt. Er wird
sehr wahrscheinlich die folgenden sechs Artikel betreffen:
- Die Artikel 76 und 77 regeln die Voraussetzungen für die Kandidatur zur Präsidentschaft
sowie die Amtsdauer des Präsidenten. Voraussichtlich wird die Amtszeit auf zwei
mal vier Jahre beschränkt und die Kandidatur erheblich erleichtert. Außerdem
soll der Vizepräsident künftig durch Wahlen bestimmt werden.
Der Artikel 76 war vor den Wahlen
2005 geändert worden, um einerseits erstmals und auf Druck der USA und der
ägyptischen Protestbewegung mehrere Präsidentschaftskandidaten zuzulassen,
andererseits aber die Chancen oppositioneller Herausforderer von vornherein
klein zu halten. Einen Vizepräsidenten hat es über Jahrzehnte nicht gegeben,
die Ernennung 'Umar Sulaymans im Januar 2011 war insofern ein gewichtiges
Zugeständnis gewesen, das aber nicht mehr beeindruckte.
- Der Artikel 88 regelt die Aufsicht über die Wahlen, die künftig komplett und ohne
Einschränkung in der Hand von Richtern liegen soll. Diese haben gerade in den
letzten Jahren viel Vertrauen in der Bevölkerung gewonnen und gelten mit gutem
Grund als Garanten von sauberen Wahlen.
Wahlaufsicht meint die Kontrolle
des gesamten Vorgangs von der Erstellung der Wählerlisten über die Abstimmung
bis zur Auszählung und Verkündung der Ergebnisse. Bislang war das in der
Verfassung von 1971 angelegte Prinzip der Wahlaufsicht durch die Judikative
aufgeweicht, umgangen, und 2007 durch eine Verfassungsänderung ausgehebelt
worden. Hintergrund war eine Auseinandersetzung zwischen Richterschaft und
Regime in den Jahren 2005 und 2006, die zu Großdemonstrationen und
Ausschreitungen geführt hatte. Die Richterschaft hatte gedroht, die
Wahlaufsicht zu boykottieren, um mehr Unabhängigkeit für die Justiz
durchzusetzen. Das gefährdete die Legitimität des zu wählenden Parlaments in
einem eempfindlichen Maß.
Die auch für die Verhältnisse
unter Mubarak dreisten und plumpen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen
2010 waren nur durch die Aushebelung der richterlichen Aufsicht möglich. In den
Wahlen der Jahre 2000 und 2005 hatte das Regime sich noch mit der Beschränkung
der Aufsicht auf große Wahllokale, die kreative Interpretation von
„Wahlaufsicht durch Vertreter der Judikative“, die handverlesene Auswahl von
leicht beeinflussbaren Richtern, Bonuszahlungen bei Gefälligkeit und
finanziellem Druck bei Widerstand und ähnliche indirekte Strategien begnügt.
Lediglich außerhalb der Wahllokale sorgten bezahlte Schlägertrupps für offensichtlichere
Rechtsverstöße und Einschüchterungen. Die nun vorab bekanntgewordenen
Änderungen des Jahres 2011 lassen solche Aufweichungen nicht mehr zu. Der
Wahlvorgang soll komplett von amtierenden Richtern überwacht werden, die
Organisation der Wahlen sogar in Gerichtsgebäuden stattfinden und nicht mehr
unter der Kontrolle des Innenministeriums stehen, das direkt mit Willkür und
Repressionen verbunden wird.
- Der Artikel 93 regelt die Zuständigkeit des Parlaments, über die Rechtmäßigkeit
der Mitgliedschaft im Parlament selbst zu entscheiden. Aufgrund dieses Artikels
kam es immer wieder vor, dass ägyptische Verwaltungsgerichte die Wahl von
Abgeordneten in großer Zahl für rechtswidrig und ungültig erklärten, das
Parlament die Urteile aber nicht umsetzte. Wahrscheinlich wird diese
Zuständigkeit an ein Gericht übertragen.
Da Wahlfälschungen und
Unregelmäßigkeiten in wechselndem Ausmaß seit Jahrzehnten zur Politik im
autokratisch regierten Ägypten gehören, ein Großteil der Justiz aber relativ
unabhängig arbeitet und auch ein staatliches Interesse an dieser Unabhängigkeit
bestand, war der Artikel 93 schon oft Grund für Spannungen. Mehrfach wurden
Parlamente rückwirkend für verfassungswidrig erklärt (Wahlen von 1984, 1987
1990), nach den Wahlen 2005 belegten unabhängige Untersuchungen des ägyptischen
Richterclubs Wahlfälschungen in vielen Bezirken, woraufhin Verwaltungsgerichte
die Wahlen in diesen Bezirken für ungültig erklärten, die Abgeordneten aber
mangels Entscheids des Parlaments im Amt blieben. Da für die Parlamentswahlen
2010 Gerichtsurteile vorlagen, die den Stopp der Wahlen für 184 Sitze im
Parlament anordneten und so ungültig machten, war das nunmehr aufgelöste
Parlament möglicherweise nie verfassungskonform. Außerdem gab es eine
Auseinandersetzung zwischen dem Hohen Verwaltungsgericht und der Wahlkommission
über die Zuständigkeit für Beschwerden bei Unregelmäßigkeiten während der
Wahlen. In den Tagen zwischen Ausbruch der Proteste im Januar 2011 und dem
Rücktritt Mubaraks war das Parlament bzw. seine Neuwahl Teil der
Verhandlungsmasse zwischen Vize Sulayman und der Opposition.
- Der Artikel 179 soll gestrichen werden. Er gibt, seit der Verfassungsänderung von
2007, dem Präsidenten die Möglichkeit, Angeklagte vor Militär- und
Sondergerichte zu stellen, wenn sie einer terroristischen Tat angeklagt werden.
Das war bislang ein wichtiges Instrument zur Kontrolle und Einschüchterung
politischer Gegner.
Diese Vollmacht besitzt der
Präsident unter dem Ausnahmezustand unabhängig von der Art der Anklage und sie
wurde unter Mubarak oft angewendet, um Zivilisten aus dem Lager der politischen
Gegner vor Militär- und Sondergerichte zu bringen. Das ist eine Umgehung der
regulären Justiz, die nicht so gut kontrollierbar ist wie die heutigen
Sondergerichte, deren Vorgänger bereits nach der Revolution von 1952 eingeführt
wurden, weil man in den Gerichten Vertreter des alten Regimes wähnte. Die
Verfassungsänderung von 2007 sollte perspektivisch die Aufhebung des
Ausnahmezustands erlauben, ohne die Möglichkeit zu verlieren, Regimegegner vor
botmäßige Sondergerichte zu stellen. Die bereits erfolgte Freilassung von über
100 Gefängnisinsassen mit islamistischem Hintergrund und die Forderung nach
Freilassung aller übrigen politischen Gefangenen geht auf diese Praxis zurück.
- Der Artikel 189 regelt die Bedingungen zur Änderung der Verfassung. Die
Wahlfälschungen und Beeinflussungen der letzten Jahre dienten auch dem Ziel,
der Regierungspartei die für Verfassungsänderungen notwendige Mehrheit im Parlament
zu sichern. Verfassungsänderungen nach Wunsch des Präsidenten Mubarak gab es
beispielsweise 2005 und 2007. Jede Verfassungsnovelle muss per Referendum vom
Volk bestätigt werden.
Der Verfassungsausschuss und seine Aufgaben
Der Hohe Rat der Streitkräfte hat mit seiner fünften Erklärung am
13.02.2011 die Führung des Landes übernommen (s.u.). In der gleichen Erklärung
kündigte der Hohe Rat die Einsetzung eines Ausschusses an, der eine
Verfassungsänderung vorbereiten soll. Der Ausschuss nahm am 15.02.2011 seine
Arbeit auf und soll bis zum 25.02.2011 einen Entwurf zur Verfassungsänderung
fertiggestellt haben. Vorschläge für Gesetzesänderungen, die während der
Übergangszeit notwendig sind, sollen innerhalb eines Monats bis zum 15.03.2011
vorgelegt werden. Allgemein erhielt der Ausschuss die Aufgabe, die Aufhebung
des Notstandes, das Verfassungsreferendum und Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen innerhalb der Übergangsperiode von sechs Monaten
legislativ vorzubereiten.
In der fünften Erklärung des Hohen
Rates (13.02.2011) heißt es: »[Der gesellschaftliche Fortschritt] wird durch
die Realisierung einer Atmosphäre der Freiheit und der demokratischen Verfahren
erreicht, durch Änderungen der Verfassung und der Gesetzgebung, die die
legitimen Forderungen umsetzen, die unser großartiges Volk während der letzten
Tage zum Ausdruck gebracht hat [..]. Der Hohe Rat der Streitkräfte hat den
festen und unverrückbaren Glauben, dass die Freiheit des Menschen,
Rechtssicherheit, die Förderung von Gleichberechtigung, Demokratie und sozialer
Gerechtigkeit sowie die Beseitigung der tief verwurzelten Korruption die
Grundsätze jeder rechtmäßigen Regierung sind, die das Land in Zukunft anführen
wird.«
Der jetzige Verfassungsausschuss
hatte eine Vorgänger, der noch unter der Präsidentschaft Mubaraks eingerichtet
wurde und am 09.02.2011 zusammentrat. Er sollte - die Proteste waren bereits in
vollem Gang und Vizepräsident Sulayman suchte Verhandlungen mit Vertretern der
Opposition - die selben sechs Verfassungsartikel abändern wie der jetzige
Ausschuss.
Wahrscheinliche Gesetzesänderungen in der Übergangszeit
Die wichtigsten Gesetzesvorhaben betreffen die Organisation der
Wahlen sowie die Gründung und Zulassung von Parteien.
Die dringlichste
Gesetzesänderungen betreffen das „Gesetz zur Wahrnehmung der politischen
Rechte“ sowie das Gesetz, das die Organisation der Präsidentenwahlen regelt.
Bereits jetzt wurde bekannt, dass die Zulassung von Parteien neu und weniger
restriktiv geregelt werden soll, Details werden aber noch diskutiert. Der von
der NDP kontrollierte Parteienausschuss war eines der Instrumente, mit denen
effektiv gemanagt werden konnte, welche oppositionellen Kräfte sich legal in
Parteien formieren können. Anträge von den Muslimbrüdern nahestehenden Personen
oder Mitgliedern auf Zulassung einer überkonfessionell angelegten Partei (hizb
al-wasat, Partei der Mitte) werden seit Jahren routiniert abgelehnt. In den
späten 1980ern und 1990ern hatte sich deswegen ein weiter Teil oppositioneller
Tätigkeit in andere Organisationsformen verlagert, etwa in die
Gewerkschaftsbewegung und die berufsständischen Kammern.
Neben der Wahlaufsicht durch die
Judikative wird der Ministerpräsident wahrscheinlich in Zukunft der größten
Fraktion im Parlament entstammen. Die Wahlen und Amtszeiten bzw.
Legislaturperioden werden bald so gelegt, dass zuerst das Parlament gewählt
wird und der Präsident dann vor den Kammern der Volksvertreter den Amtseid
ablegt.
Die Zusammensetzung des Verfassungsausschusses
Die acht Mitglieder des Ausschusses wurden vom Hohen Rat der
Streitkräfte ausgesucht und seine Aufgaben am 14.02.2011 in einem Gespräch mit
dem Vorsitzenden des Hohen Rates abgestimmt.
Bei der Auswahl legte der Rat,
neben der Kompetenz, augenscheinlich Wert auf eine ausgeglichene
Zusammensetzung (3 amtierende Richter, 1 Kopte, 1 Muslimbruder, mehrere
Universitätsprofessoren). Keiner der amtierenden und ehemaligen Richter hatte
eine jener Schlüsselpositionen (Präsident des Verfassungsgerichts, Präsident
des Kassationshofs, Justizminister) inne, deren Inhaber direkt vom
Staatspräsidenten Mubarak ernannt wurden. Stattdessen handelt es sich um
hochrangige Richter, die durch den Kreis ihrer Kollegen in ihre Ämter gewählt
wurden. Das demonstriert Unabhängigkeit vom alten Regime.
• Vorsitzender:
Richter Tariq al-Bishri, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des
Staatsrats
• Dr. 'Atif al-Banna, Professor für
Verfassungsrecht an der Universität Kairo
• Dr. Hasanayn 'Abd al-'Al,
Professor für Verfassungsrecht
• Dr. Muhammad Mahi Yunus, Professor
an der Universität Alexandria
• Subhi Salih, Vertreter der
Muslimbruderschaft und Anwalt am Kassationshof
• Richter Mahir Sami Yusuf,
stellverstretender Präsident des Hohen Verfassungsgerichts
• Richter Hasan al-Badrawi,
stellvertretender Präsident des Verfassungsgerichts
• Hatim Bajatu, Vorsitzender der
Vereinigung der Anwälte am Hohen Verfassungsgericht
Der Vorgängerausschuss (s.o.)
wurde hingegen von Dr. Siyam geleitet, dem Präsidenten des Kassationshofs und
qua Amt Vorsitzender des Hohen Justizrats. Dr. Siyam war direkt vom
Staatspräsidenten ernannt und saß an einer der Schaltstellen zur Beeinflussung
der Justiz.
Tariq al-Bishri
Der Vorsitzende des Verfassungsausschusses ist ein ehemaliger
hoher Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Er gilt gemeinhin als
glückliche Wahl und als unabhängig. Al-Bishri hat sich intensiv mit der
Herausforderung beschäftigt, wie ein religiös-moralischer Impetus in
rechtsstaatlichen Strukturen Ausdruck finden kann, und genießt Ansehen und
Respekt von politischen Kreisen über die Richerschaft bis zur islamistischen
Opposition.
Tariq al-Bishri wurde 1931 als
Sohn eines Juristen und Enkel eines hochstehenden religiösen Gelehrten geboren.
Lange Jahre war er stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates, d.h. der
ägyptischen Verwaltungsgerichte, die im Staatsrat zusammengefasst sind,
pensioniert wurde er 1998.
Er war eine wichtige Stimme
innerhalb der justizinternen Reformbewegung der 1980er und 1990er. In seinem
2006 erschienenen Buch „Die ägyptische Justiz zwischen Unabhängigkeit und
Kooptation“ hatte al-Bishri die Anliegen der Richterschaft zusammengefasst und
in einem leicht idealisierenden Rückblick auf die liberale Ära Ägyptens vor der
Revolution von 1951 das Ideal der Gewaltenteilung gegen die jüngeren
systematischen Beeinflussungen durch die Exekutive und unrechtmäßigen Praktiken
der Mubarak-Jahre kontrastiert. Er mag nicht der Urheber der Forderungen der
Richterschaft von 2005 und 2006 sein, fest verwurzelt in den damit
zusammenhängenden Diskursen ist er allemal. Darum kann al-Bishri‘s Buch von
2006 genauso als Blaupause oder wenigstens Orientierungshilfe dienen für die
zukünftige Entwicklung der Verfassung in Ägypten wie der Forderungskatalog des
Richterclus aus jenen Jahren.
Was al-Bishri in der jetzigen
Situation zu einem guten Kandidaten für den Vorsitz des Verfassungsausschusses
macht, ist, dass er sowohl für die islamisch argumentierenden Teile der
Opposition als auch für etablierte politische Parteien inklusiver der NDP
akzeptabel ist. Seine rechtlichen Ansichten zu vielen Gesetzesfragen sind
bekannt, er ist ein glaubwürdiger Verfechter von Gewaltentrennung und
Demokratisierung und ein Richter mit deutlichen Sympathien und dezidierten religiösen
Überzeugungen. Ein Grundproblem der arabischen Politik, dem sich al-Bishri vor
allem in den 1990ern widmete („Zwischen Islam und arabischem Nationalismus“ von
1998, „Zwischen der religiösen Gemeinschaft und der nationalen Gemeinschaft im
politischen Denken“ von 1998) ist die Trennung eines nationalistischen
säkularen Diskurses und eines islamischen politischen Diskurses. Er analysiert,
wie diese Aufteilung zu einer gesellschaftlichen Spaltung führe, die in
problematischer Weise immer schwerer überbrückbar wird. In einem Buch von 2002
sieht er dieses Dilemma bereits teilweise überwunden oder doch zumindest
abgemildert, weil ein besseres Verständnis über die Grundprinzipien der
politischen Zusammengehörigkeit (Religion und arabische Abstammung) möglich geworden
sei. Als neue Bedrohung der arabischen Gesellschaft macht er nun mehr als
vorher die Einflussnahme des westlichen Auslands aus, sowohl kulturell als auch
politisch und wirtschaftlich.
Der Hohe Rat der Streitkräfte
Mit seiner fünften Erklärung hat der Hohe Rat der Streitkräfte am
13.02.2011 die Verfassung außer Kraft gesetzt, beide Kammern des Parlaments
aufgelöst und eine Übergangszeit von sechs Monaten angekündigt.
In diesem halben Jahr soll die
Verfassung geändert, die Änderung per Referendum angenommen, sollen Neuwahlen
des Parlaments und für das Präsidentenamt durchgeführt werden. Verfassungs- und
Gesetzesänderungen sollen den Willen des Volkes, wie er sich während der
Revolution artikuliert hat, umsetzen. Der Militärrat hat wiederholt angekündigt,
keinen eigenen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen aufzustellen. Der
straffe Zeitplan für die Übergangszeit und die rasch eingeleiteten ersten
Schritte wecken bisher keine Zweifel am angekündigten schnellen Übergang zu
einer Zivilregierung. In diesem Zusammenhang ist auch die Kritik am
Verfassungsausschuss zu sehen, der von NGOs und unabhängigen Juristen dafür
kritisiert wird, dass er nicht die Abstimmung mit der Bevölkerung suche;
ohnehin sei die Verfassung von 1971 nicht mehr tauglich für die geänderten
Umstände, weil die zweite ägyptische Republik de facto beendet sei. Der Hohe
Rat hat die Schaffung einer neuen Verfassung in breiter Diskussion mit allen
Bevölkerungsteilen aber als Aufgabe der zukünftigen Zivilregierung beschrieben.
Der Vorsitzende des Hohen Rates
der Streitkräfte ist der Verteidigungsminister Feldmarschall Muhammad Husayn
Tantawi. Drei weitere namentlich bekannte Mitglieder sind: Admiral Mamduh
Shahin, Staatssekretär im Verteidigungsministerium für Gesetzes- und
Verfassungsfragen; Admiral Muhammad al-'Assar, Staatssekretär im
Verteidigungsministerium; Admiral Mukhtar al-Mulla.
Politik in der Zeit des Übergangs
Zwar ist auch nach der Auflösung des Parlaments die kurz zuvor von
Ex-Präsident Mubarak eingesetzte Regierung des Ministerpräsidenten
Generalleutnant Ahmad Shafiq weiter im Amt, doch der Hohe Rat der Streitkräfte
gibt die Leitlinien vor und ist gerade dabei, tiefgreifende Änderungen am
politischen System Ägyptens vorzunehmen. Die Zusammenarbeit mit einer Regierung
des alten Regimes mag als Widerspruch erscheinen, hat aber den Vorteil, dass
deren Erfahrung und Sachverstand genutzt werden kann. Eine eigens eingesetzte
Regierung von Technokraten würde im Fall von Misserfolgen zudem wesentlich
direkter mit den herrschenden Militärs in Verbindung gebracht werden.
Ein Beispiel für eine der
laufenden Änderungen am System ist der Umbau der Polizeibehörden in allen
Provinzen des Landes, den das Innenministerium mit seinen bestehenden
Strukturen auf Anweisung gerade umsetzt. Ein anderes Beispiel ist die
Vorbereitung der Verfassungsänderung durch das eigenmächtig ernannte Gremium
des Verfassungsausschusses.
Die Regierung Shafiq
Die Regierung von Generalleutnant Ahmad Shafiq, bestehend aus
vorerst nur 14 Ministern, wird am 31.01.2011 von Staatspräsident Mubarak
eingeschworen. Das Kabinett - mehrere Posten wurden erst später besetzt -
beinhaltet zur einen Hälfte Vertreter der alten Garde, zur anderen aber neue
Gesichter. Besonders auffällig ist der Ausschluss der erfolgreichen Geschäftsleute,
die die Politik unter dem vorherigen Ministerpräsidenten Ahmad Nazif geprägt
hatten, sowie die neuen Minister mit militärischem Hintergrund.
Die ausgeschlossenen
Geschäftsleute, die mit Husni Mubaraks Sohn Jamal in Verbindung gebracht
werden, sind: Habib al-'Adli, Faruq Husni, Hatim al-Jabali, Zuhayr Jarana,
Rashid Muhammad Rashid, Ahmad al-Maghrabi.
Die Zusammensetzung der neuen
Regierung ist wie folgt (1-12 sind die neuen Minister):
1. Ministerpräsident Feldmarschall Ahmad Shafiq
2. Mahmud Majdi, Innenminister
3. Ibrahim Mana', Minister für Flugverkehr
4. Yahya 'Abd al-Majid, Minister für Angelegenheiten der
Beratenden Versammlung
5. Dr. Ahmad Samih Farid, Gesundheitsminister
6. Dr. 'Abdallah al-Husayni, Minister für religiöse
Stiftungen
7. Samiha Fawzi, Handelsminister
8. Jabir 'Asfur, Kulturminister
9. Dr. Ayman Farid Abu Hadid, Agrarminister
10. Dr. Fathi al-Baradei, Wohnungsbauminister
11. Admiral Muhsin an-Ni'mani, Minister für lokale
Entwicklung
12. 'Atif 'Abd al-Hamid, Transportminister
13. Stellvertretender Ministerpräsident und
Verteidigungsminsiter Feldmarschall Muhammad Husayn Tantawi
14. Zahi Hawwas, Minister für Altertümer
15. Mufid Shihab, Minister für Gesetzgebung und die
Volkskammer
16. Sayyid Mash'al, Staatsminister für Kriegsgüter
17. Samih Fahmi, Minister für Erdöl
18. Dr. Hasan Yunis, Minister für Elektrizität und Energie
19. Mushira Khattab, Staatsministerin für Familie und
Bevölkerungsfragen
20. Ahmad Abu l-Ghayt, Außenminister
21. Fayza Abu n-Naja, Minister für internationale
Kooperation
22. Majid Juruj, Staatsminister für Umweltangelegenheiten
23. Anas al-Faqi, Minister für Medien
24. Tariq Kamil, Kommunikationsminister
25. Dr. 'Ali al-Musaylahi, Minister für soziale
Zusammenarbeit
26. 'Aʾisha 'Abd al-Hadi, Ministerin für Arbeitskräfte
27. Dr. Hani Hilal, Minister für höhere Bildung und
wissenschaftliche Forschung
28. Magistrat Mamduh Mar'i, Justizminister
Die politischen Kräfte
Der Hohe Rat hat den Anspruch und bezieht seine temporäre
Legitimität daraus, die Forderungen der Bevölkerung umzusetzen. Dabei ergibt
sich das praktische Problem, mit wem und wie der Hohe Rat kooperieren und
kommunizieren kann. Das Parlament ist aufgelöst und hatte bereits zu Beginn der
Proteste seine Legitimität verloren, die legalen Oppositionsparteien bilden nur
einen Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Ägypten ab. Das
politische Umfeld wird weniger von etablierten Parteien und Institutionen
bestimmt als zunehmend von neue gegründeten Gruppen und informellen Bewegungen
und Strömungen. Diese werden in der ägyptischen Presse als „die politischen
Kräfte“ bezeichnet. Eine umfassende Darstellung ist nicht möglich.
Der Hohe Rat kommuniziert über
seine Erklärungen, direkte Gespräche - die Herausgeber wichtiger arabischer
Zeitungen wurden zum Gespräch eingeladen - über eine eigene Facebook-Seite und
seit Kurzem sogar über den Besuch einiger ihrer Mitglieder in Diskussionsrunden
im Fernsehen. Auf dem Sender „Dream“ hatten drei Mitglieder des Hohen Rates
ihre Politik erklärt und mit der Moderatorin und einem weiteren Gast
diskutiert.
Schon vor Ausbruch der Proteste
hatten sich, neben der Nationalen Organisation für Veränderung, die al-Baradei
unterstützte, eine Reihe anderer Gruppen zusammengetan. Das „Volskparlament“
etwa ist eine Initiative ehemaliger Abgeordneter und angesehener
Persönlichkeiten, die nach den Wahlen 2010 eine Alternative zum offiziellen
Parlament schaffen wollten, in dem die Gesetzesvorhaben der Regierung frei
diskutiert werden könnten.
Seit dem 25. Januar haben sich
mehrere Strömungen zu Sprechern oder wenigstens zu Teilen der Jugendrevolution
erklärt. Es gibt die „Koalition der Jugend“, die „Jugend des 25. Januar“, die
„Vereinigung der Jugend der Revolution“ und natürlich die Jugendorganisationen
der angestammten Parteien, die sich wenigstens parteiübergreifend zu
Pressekonferenzen zusammenfinden. Schon vor den diesjährigen Protesten gab es
die Facebook-Gruppe „Jugend des 6. April“ in Erinnerung an die Arbeiterunruhen
des Jahres 2008.
Während der Proteste bildeten sich
dann spontane Aktionsgemeinschaften heraus, die Nachbarschaften sicherten,
entflohene Strafgefangen und Plünderer festsetzten, Preiskontrollen bei
krisengewinnlerischen Geschäften für Güter des täglichen Lebens einführten,
oder einfach nur die Straßenreinigung und die Wasserversorgung der
Demonstranten sicherstellten.
Unter zivilgesellschaftlichen
Akteuren können vor allem Vertreter der Richterschaft auf Aufmerksamkeit
hoffen. Die Auseinandersetzung mit dem Regime 2005 und 2006 (s.o.) hat einzelne
Richter der „Unabhängigkeitsströmung“ national bekannt gemacht und ihre
Forderungen zur Wahlaufsicht und Gewaltentrennung zu einem oppositionellen
Konsens werden lassen. Die Teilnahme von Zakariyya 'Abd al-'Aziz, dem
ehemaligen Vorsitzenden des Richterclubs, an den Demonstrationen auf dem
tahrir-Platz wurden umgehend medial wahrgenommen und kommentiert. Der Richterclub
selbst ist seit den letzten internen Wahlen nicht mehr unter der Führung der
Reformbewegung, doch Mitglieder der „Unabhängigkeitsströmung“ haben schon
begonnen, Unterschriften für einen Misstrauensantrag gegen den regimetreuen
Vorsitzenden Ahmad az-Zand zu sammeln.
Die Vollversammlungen der
Gerichte, inbesondere des Staatsrats und des Verfassungsgerichts können als
demokratisch legitimierte Gremien für eine Abstimmung legislativer Schritte
interessant sein, da sie gegenüber dem alten System erstaunlich unabhängig
auftreten und agieren konnten.
Zudem stehen eine Fülle von neuen
Parteigründungen an. Am 17.02.2011 berichtete die Tageszeitung al-masri l-yawm
von ca. 13 Neugründungen seit dem 25.01.2011. Besonders interessant ist
hierbei, wie sich das islamistische Spektrum und die Muslimbruderschaft in der
Parteienlandschaft abbilden wird. Bis jetzt sieht es nach einer Aufsplitterung
aus.
Die Muslimbruderschaft ist zwar
offiziell verboten, ihr Hauptsitz in Kairo aber ebenso bekannt wie führende
Köpfe oder ihre Vertreter in Gewerkschaften und berufsständischen
Vereinigungen. Außerdem strebt sie jetzt danach, auch offiziell am politischen
Leben teilnehmen zu können. In den Parlamenten von 2000-2010 waren die
Abgeordneten als unabhängige Kandidaten angetreten, vormals sogar als
Kandidaten anderer Parteien wie der wafd-Partei. Nach 15 Jahren Wartezeit wurde
am 19.01.2011 die Gründung der „Partei der Mitte“ genehmigt, einer
überkonfessionellen Partei mit Nähe zur Muslimbruderschaft. Zusätzlich plant
die Gemeinschaft die Gründung einer eigenen „Partei der Freiheit und
Gerechtigkeit“ und der interne Reformflügel denkt über eine „Partei der Reform“
nach. Allen Aussagen des Sprechers der Muslimbruderschaft 'Isam al-'Aryan
zufolge kann man das Programm der drei den Muslimbrüdern nahestehenden Parteien
nur als parlamentarisch-demokratisch und moderat bezeichnen, sowohl in Bezug
auf die Ansprüche der Muslimbrüder in der Gesellschaft und im Staat als auch in
Bezug auf die Außen- und Wirtschaftspolitik. Ein erster offizieller Auftritt
eines Muslimbruders im staatlichen Fernsehen kann genauso als Normalisierung
gesehen werden wie die sehr richtige und unaufgeregte Einordnung al-Qaraḍawis
als „populärer konservativer Prediger“ in der Medienberichterstattung in
Ägypten.
Zukunftsfragen
Auch nach dem Ende der Übergangszeit wird es spannend bleiben.
Dass es dann eine breite Diskussion über eine gänzlich neue Verfassung geben
wird, kann als sicher gelten. Die Verfassung von 1971 mag in der Substanz mit
wenigen Veränderungen durchaus praktikabel für ein demokratisches Ägypten sein,
ein Symbol für Jahrzehnte der Autokratie ist sie dennoch. Das Verlangen nach
öffentlicher Diskussion über Fragen wie Gewaltenteilung ist hoch, die
wichtigste unabhängige Tagszeitung hat bereits eine Kampagne für eine neue
Verfassung gestartet, die Jugendbewegungen und selbst prominente Richter und
Verfassungsjuristen fordern lautstark nach einer neuen Grundlage für eine neue
Republik.
Hier einige Fragen, die in den kommenden Jahren diskutiert und
angegangen werden könnten:
- Was geschieht mit den staatlichen Medien, den Fernsehsendern und
Zeitungen in Besitz der Regierung?
Die Journalistenkammer wird auf weitere inhaltliche und
unternehmerische Freiheiten drängen, während die zahlreichen Angestellten der
staatlichen Medien auf eine Fortführung hoffen.
- Wieviel Eigenständigkeit sollen die religiösen Einrichtungen in
der neuen Republik haben, und wieviel Kontrolle und finanzielle Unterstützung
wird vom Staat verlangt?
Seit der Revolution von 1952 hat der ägyptische Staat seine
Kontrolle der Einrichtungen des religiösen Lebens immer weiter augebaut. Der
religiöse Bildungssektor der Azhar-Schulen, Kindergärten und der Universität
ist genauso staatlich wie die Großzahl der Moscheen. Prediger und Gebetsrufer
werden staatlich ausgebildet und besoldet, wurden in der Vergangenheit
zunehmend für politische Kampagnen eingespannt (zum Beispiel um vor dem
25.01.2011 Ruhe anzumahnen).
- Wie gestaltet man die Gewaltenteilung organisatorisch aus?
Ein neues Justizgesetz, das die gezielten Einflussnahmen der
Exekutive erschwert, wird gerade für den Personenkreis, der an der derzeitigen
Verfassungsänderung mitwirkt, sowie die breite Allianz der Unterstützerszene
der Richterschaft ein Kernanliegen bleiben. Besonderes Augenmerk gilt dabei der
Zusammensetzung des Hohen Justizrats und den Auswahlmodalitäten für die
Präsidenten des Kassationshofs und des Verfassungsgerichts. Dass der jetzige
Justizminister Mamduh Mar'i sich länger als bis Ende der Übergangszeit halten
kann, ist aufgrund seiner offenen Angriffe auf alle Unabhängigkeitsbestrebungen
der Justiz in den letzten Jahren nicht denkbar.
Es sind spannende Zeiten. Und mehr Möglichkeiten, optimistisch zu
sein, gab es schon lange nicht mehr.
Inzwischen ist der Vorschlag zur Änderung von insgesamt 8 Verfassungsartikeln öffentlich vorgestellt worden. Hier der (Perma-?) Link zu einem Artikel der Tageszeitung al-masri l-yawm vom 27.02.2011 mit längeren Textauszügen aus dem Vorschlag:
AntwortenLöschenhttp://www.almasry-alyoum.com/article2.aspx?ArticleID=289090&IssueID=2059