Von Thomas Bauer
Nach dem Sturz Mubaraks stellt sich die alles entscheidende Frage: Wie ernst meinen es die Militärs mit der Demokratisierung Ägyptens? Die Biographien der obersten Militärs sind nicht allzu vielversprechend, und wichtige Forderungen der Opposition wie die Aufhebung des Ausnahmezustands – obwohl in den letzten 30 Jahren tatsächlich noch nie so viel „Ausnahmezustand“ war wie jetzt – und die Freilassung politischer Gefangener bleiben vorerst unerfüllt. Doch jetzt setzt der Militärrat ein Hoffnungssignal, wie es erfreulicher nicht hätte sein könnte: Als Vorsitzender des Rats zur Reform der Verfassung wird Tariq al-Bishri – in deutschen Medien zumeist Tarek al-Bischri geschrieben – nominiert.
Aufgabe des Rats ist es, in nur zehn Tagen eine neue Verfassung zu erarbeiten, die in einer Volksabstimmung verabschiedet werden soll. Im Augenblick gibt es wohl keine wichtigere Aufgabe, und die Nominierung al-Bishris ist eine kleine Sensation. Die deutschen Medien haben dazu aber nichts weiter zu sagen als die Tatsache zu vermelden, dass auch ein Mitglied der Muslimbrüderschaft dem Rat angehören wird, Sobhi Saleh (übrigens eine durchaus respektable Person). Aber was ist damit gesagt? Nichts weiter als dass einer der wichtigsten oppositionellen Bewegung eine Stimme eingeräumt wird, was man uneingeschränkt begrüßen muss. Auf eine neue Verfassung wird dies jedoch kaum Einfluss haben.
Die Muslimbrüder haben während der letzten Jahrzehnte Popularität durch ihr basisdemokratisches, karitatives Engagement erlangt, jedoch keinerlei Visionen für eine neue Ordnung des Staates entwickelt. Ihr Programm verharrte in einem unentschiedenen Lavieren zwischen einem konservativ-islamischen Gesellschaftsmodell und einer Partizipation an einem demokratischen Staat. Die Frage der nächsten Jahre wird nicht so sehr sein, wie sich die Muslimbrüder auf das neue Ägypten auswirken, sondern umgekehrt, wie sich das neue Ägypten auf die Muslimbrüder auswirken wird. Ein Teil der Brüder (und Schwestern) wird sicherlich im alten Modell einer islamischen konservativen Bewegung verharren wollen. Ein progressiverer Teil wird sich aktiv am demokratischen Prozess beteiligen wollen – und sich deshalb mit den Gedanken al-Bishris auseinandersetzen müssen.
Al-Bischri ist eine Idealbesetzung
In der Tat ist Tariq al-Bishri die Idealbesetzung für den Vorsitzenden der Verfassungskommission. Im November 1933 in eine Gelehrtenfamilie geboren, ist al-Bishri nicht nur pensionierter Richter und gestandener Rechtstheoretiker, sondern ein weit über Ägypten hinaus bekannter und geschätzter Intellektueller. Er hatte hohe Ämter inne, war von 1993-1998 stellvertretender Vorsitzender des Staatsrats, des obersten Verwaltungsgerichts Ägyptens, hat sich aber immer seine Unabhängigkeit bewahrt. Vehement nahm er Stellung gegen Wahlfälschungen und gegen eine autokratische Regierungsform. Er scheute sich nicht, Mubarak persönlich für die Stagnation Ägyptens verantwortlich zu machen. Volksbewegungen – zunächst marxistische, später islamische – spielen in seinem politischen Denken eine wichtige, positiv besetzte Rolle. Einen friedlichen Volksaufstand, wie er sich nun realisiert hat, hatte er bereits vor Jahren als Zukunftsvision entworfen. Dank des Respekts, den al-Bishri genoss, getraute sich das Regime Mubarak nicht, gegen ihn vorzugehen. Aber er stellte auch keine unmittelbare Gefahr dar. Eine Massenbewegung hätte dieser stille, reflektierte Denker kaum auslösen können.
Mangel an charismatischen Politikern?
Viele westliche Beobachter übertreffen sich ja augenblicklich darin, allen interessanten Politikern der Opposition (etwa al-Baradei) mangelndes Charisma zu unterstellen. Tatsächlich hat Ägypten nirgends – auch nicht unter den Muslimbrüdern – eine charismatische Politikerfigur aufzuweisen. Doch warum diese Sehnsucht nach einem charismatischen Führer bei westlichen Journalisten? Deutschland kommt seit 1945 ja auch ganz gut ohne charismatische Führer bzw. Führerinnen aus. Und Ägypten lebte seit dem Tod Abdel Nassers 1970 unter der Herrschaft zweier Despoten, die auch nicht ein Gran Charisma aufzuweisen hatten – Mubarak nannten die Ägypter nach einem französischen Schmelzkäse: „la vache qui rit“. Braucht aber Demokratisierung überhaupt Charisma, oder doch eher nicht? Wie auch immer, al-Bishri ist auf andere Weise nichtcharismatisch als Mubarak. Während Mubarak nichts weiter als ein dumpfer Kommiskopf war, ist al-Bishri ein Denker, der seine Äußerungen lange abwägt. Als es bei einer Pressekonferenz Probleme mit dem Mikrophon gab, bedauerte al-Bishri, dass er sich nicht ohne technische Hilfsmittel verständlich machen kann. Seine Stimme sei nun einmal nicht so gut trainiert, weil er es eher gewohnt sei, zuzuhören, als zu sprechen.
Ein „Linksislamist“?
In westlichen Texten wird al-Bishri gerne als „Linksislamist“ bezeichnet. Das ist genauso richtig wie schief. Tatsächlich hat das Denken al-Bishris linke Wurzeln, tatsächlich hat es den Islam als Bezugspunkt. Doch wird das Wort „Islamist“ dem nicht gerecht. Es ist selbstverständlich – und alles andere wäre widernatürlich –, dass es in islamischen Ländern politische Gruppierungen gibt, die sich in irgendeiner Weise auf den Islam berufen, genauso, wie es in allen europäischen Ländern Parteien gibt, die sich irgendwie auf das Christentum berufen. Nun ist es völlig klar, dass eine Spinner- (und glücklicherweise Splitter-)partei wie die „Bibeltreuen Christen“ und die CDU nichts miteinander zu tun haben. Niemand käme auf den Gedanken, beide als „Christisten“ unter einem Label zusammenzufassen. Im Islam ist es genauso – nein, noch viel drastischer: Der türkische Premier Erdogan und Mullah Omar, der Chef der Taliban, liegen in ihren Positionen viel weiter auseinander als die „Bibeltreuen Christen“ und die CDU. Und doch berufen sich beide auf den Islam. Beide unter ein und derselben Bezeichnung „Islamisten“ zu subsumieren, ist im höchsten Grade irreführend und, da man mittlerweile im Westen die Begriffe „Islamist“ und „Terrorist“ geradezu als Synonyme betrachtet, eine skandalöse Verfälschung der Tatsachen.
Vordenker der Rolle des Islams in einer demokratischen Gesellschaft
Tariq al-Bishri ist zunächst einmal ein Intellektueller, der sich wie kaum jemand anderes Gedanken über die Rolle des Islams in einer modernen, demokratischen Gesellschaft gemacht hat. Dabei ist er weder auf konservativen islamischen Positionen stehen geblieben, die eine Umsetzung islamischen Rechts in seiner traditionellen Ausprägung für die Gegenwart fordern, noch auf einen unkritischen „Reformislam“ eingeschwenkt, der schlichtweg westliche Konzepte eins-zu-eins auf den Islam übertragen will. Sein Ausgangspunkt ist vielmehr ein gut klassisches Konzept einer schari’a (die übrigens schon seit Sadat Hauptquelle der Gesetzgebung in Ägypten ist), die nicht von vorneherein feststeht, sondern der Interpretation bedarf und stets mit den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen in Beziehung gesetzt werden muss. Al-Bishri liegt es fern, die direkte Umsetzung von Koranversen oder Hadithen in Gesetze zu fordern oder die Religionsgelehrten in die Gesetzgebung einzubeziehen. Vielmehr billigt er der schari’a etwa jene Rolle zu, die in Europa das Naturrecht spielt. Für al-Bishri, der ein durchaus patriotisches Verständnis von Ägypten hat, ist Ägypten durch eine islamische Kultur (die nicht identisch ist mit der islamischen Religion) geprägt, zu der auch die christlichen Kopten gehören. Gleichberechtigung von Kopten und Muslimen und ebenso von Männern und Frauen ist eines seiner zentralen Anliegen. Bei Konflikten zwischen Kopten und Muslimen hat sich al-Bishri immer wieder für die Rechte der Kopten eingesetzt.
Al-Wasat und al-Kifâya
Al-Bishri ist durch zahlreiche Bücher und Aufsätze über Recht und Geschichte hervorgetreten, kaum aber als Politiker. Dennoch hat er im Hintergrund auch hier tiefe Spuren hinterlassen. Zwei oppositionelle Bewegungen nämlich verdanken al-Bishri einen großen Teil ihrer theoretischen Grundlegung. Hier ist zum einen al-Wasat „Die Mitte“ zu nennen, eine Organisation, die letztendlich aus den Muslimbrüdern hervorgegangen ist. Die Muslimbrüder sind – man kann es angesichts westlicher Horrorvisionen nicht genug betonen – eine höchst heterogene Bewegung, die mitten in einem Selbstfindungsprozess steht. Die Diskussionen, die hier stattfinden müssen und werden, wurden unter den vergangenen Regimen brutal unterdrückt. Gleichzeitig wollten sich die Brüder als Gruppierung mit einheitlicher Ideologie darstellen, was ihnen aber nicht geglückt ist. Stattdessen gab es Abspaltungen in alle Richtungen. Gruppen, denen zunächst Gewalt als Mittel des Widerstands angemessen schien, geben sich mittlerweile versöhnungsbereit.
Langfristig wichtiger sind aber Abspaltungen in der anderen Richtung. So ist aus der Muslimbrüderschaft die Partei al-Wasat „Die Mitte“ hervorgegangen, die sich als moderne islamdemokratische Partei versteht. Einer ihrer Gründungsväter war kein anderer als Tariq al-Bishri. Doch sein Engagement war einstweilen vergebens: Die Partei hat sich mehrmals um ihre offizielle Zulassung bemüht – doch vergebens. Sie leiste, hieß es von den Schergen des alten Regimes, keinen neuen Beitrag zum Parteienspektrum! Dabei hat sie einen durchaus auf islamischen Prinzipien wurzelnden und gleichzeitig kompromisslos demokratischen Gesellschaftsentwurf zu bieten. Anders als das alte Regime erkennt die „Partei der Mitte“ die Möglichkeit an, dass das Staatsoberhaupt auch Christ, ja gar eine Frau sein kann. Eine koptische Christin als Präsidentin Ägyptens? Sicherlich eine vorerst unrealistische Vision. Aber die Partei der „Mitte“ will sie zumindest theoretisch möglich machen (und wäre eine Bundeskanzlerin vor 50 Jahren in Deutschland vorstellbar gewesen?). Eine andere Basis des Denkens al-Bishris zeigt sich in seiner Unterstützung der al-Kifâya („Genug! / Es reicht!“)-Bewegung. Deren Sprecher, George Ishaq, ist koptischer Christ. Tariq al-Bishri unterstützte die Bewegung von Anfang an und war Autor ihres Manifests, das zum zivilen Ungehorsam aufrief.
Wofür steht al-Bishri?
Tariq al-Bishri hat sich immer wieder zu Fragen der Verfassung geäußert. Dabei sind es vor allem zwei Themen, die ihm besonders am Herzen liegen. Zum einen setzt er sich für eine stärkere Trennung von Exekutive und Legislative ein. Wenn er seine Vorstellungen in der Kommission (und bei den Militärs) durchsetzen kann, wird dies auf eine Stärkung des Parlaments und eine Schwächung der augenblicklich fast absoluten Macht des Präsidenten hinauslaufen. Sein zweites Anliegen ist die Unabhängigkeit der Justiz. Nicht die Rolle des Islams wird die entscheidende Frage bei der Verfassungsdiskussion sein (hier wird sich nichts ändern), sondern die Frage der Gewaltenteilung, al-Bishris wichtigstes Anliegen.
Ob und wie weit al-Bishri seine Ansichten durchsetzen kann, ist noch völlig unklar. Wollen die Militärs überhaupt eine ganz neue Verfassung, oder wollen sie nur jene Artikel beseitigt haben, die die Präsidentschaftskandidatur beinahe sämtlicher Oppositionskandidaten unmöglich machen? Die nächsten zehn Tage werden zeigen, wie ernst es ihnen mit dem demokratischen Aufbruch ist.
Wünschen wir Tariq al-Bishri viel Erfolg!
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