10.02.2011

Demokratie in Ägypten - Argumente für Öffentlichkeit und Politik

Ein Gastbeitrag von Samuli Schielke (Zentrum Moderner Orient/ZMO, Berlin)

In Ägypten ist eine Revolution in Gang, die von sehr breiten Teilen der Bevölkerung und über Parteigrenzen hinweg auf das Ende der bisherigen Diktatur und die Einführung eines demokratischen Rechtstaates hinwirkt. Da das Regime in Ägypten sehr von westlicher Unterstützung abhängig ist, können wir auch der Demokratiebewegung in Ägypten helfen, indem wir das Regime einem starken internationalen Druck aussetzen. Dabei ist es wichtig, einige Missverständnisse klar zu stellen, die in der Politik und in den Medien zirkulieren.

Als ein Sozialwissenschaftler, der sich über längere Zeit mit Ägypten auseinander gesetzt hat und letzte Woche auch die Ereignisse in Ägypten persönlich miterlebt hat, möchte ich hiermit mein Hintergrundwissen und meine Argumente zur Verfügung zu stellen. Die Situation in Ägypten ist kritisch, und kann entweder zur Rückkehr der Diktatur oder zum demokratischen Wandel führen. Letzteres ist aber nur möglich, wenn das Regime unter starken Druck gesetzt wird, möglichst bald den Weg für eine Übergangsregierung frei zu machen.

Was wollen die Ägypter, die gegen Mubarak demonstrieren?

Die Demokratiebewegung setzt sich aus Menschen mit sehr verschiedenen politischen Ansichten zusammen, die ihre politischen Differenzen zeitweilig beiseite gelegt haben, um gemeinsam eine demokratische Wende zu bewirken. Was sie vereint, ist Frustration über die extreme Korruption, die infolge der starken Verflechtung der wirtschaftlichen und politischen Macht dazu geführt hat, dass Menschen im Umfeld der politischen Elite sich extrem bereichern konnten, während die Mehrheit der Ägypter unter Armut und staatlicher Willkür leidet. Das Regime hat sich so maßlos am Volksvermögen bereichert, dass das Vermögen der Familie Mubarak jetzt auf 70 Milliarden US-Dollar geschätzt wird. Was die Demonstranten gemeinsam als Lösung fordern, ist ein funktionierender Rechtstaat und ein politisches System, das unter demokratischer Kontrolle steht.

Was ist mit den Führern der Demokratiebewegung?

Von manchen Kommentatoren wird als Argument geführt, der Mangel an deutlichen Alternativen mache es unmöglich, auf Mubarak zu verzichten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Demokratiebewegung in Ägypten zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie nicht einfach den alten Führer durch einen neuen ersetzen will, sondern dem System der autoritären Führerfiguren ein Ende setzen will. Die Ägypter, die auf den Straßen demonstrieren, forden eine politische Führung, die auch wieder abgewählt werden kann und auf die Belange der Bürger achtet. Gerade weil sie keine starken Führer mehr haben wollen, zeigen die Ägypter sich als reif für die Demokratie.

Ist Ägypten von Chaos bedroht?

Die Ägypter haben sich während der vergangenen zwei Wochen als außerordentlich organisiert und verantwortlich erwiesen. Nachdem am Samstag 29. Januar durch das vollkommene Versagen des Sicherheitsapparats und möglicherweise auch durch dessen kriminelle Mitwirkung Plünderungen ausbrachen, wurden diese durch freiwillige Selbstorganisation der Bürger innerhalb von kürzester Zeit unterbunden und in den meisten Teilen des Landes sogar ganz verhindert. Die Demonstrationen sind sehr gut organisiert und friedlich abgelaufen, außer wenn sie vom Staatsapparat gezielt angegriffen worden sind, was zuletzt am 2. Februar geschah. Von den Demonstranten selbst ist keine Gewalt ausgegangen. Chaos, soweit das in Ägypten überhaupt herrscht, ist vom Regime ausgegangen. Eine Machtübergabe von der jetzigen Regierung an eine Übergangsregierung, in der alle politische Gruppen vertreten sind, ist beste Garantie für Ruhe und Ordnung.

Sind die Ägypter gespalten?

Die Ägypter sind tatsächlich in verschiedene Richtungen gespalten, die jeweils verschiedene Ansichten über die gegenwärtige politische Situation vertreten: Eine Richtung steht für eine friedliche demokratische Revolution. Eine entgegengesetzte Richtung steht für den Verbleib des Systems. Eine dritte Richtung steht dem Regime kritisch gegenüber, hat aber mehr Vertrauen darin, dass der Vizepräsident Omar Suleyman seine Versprechungen hält. Zwischen den Anhängern dieser Richtungen ist es nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen – abgesehen vom organisierten Angriff am Tahrîr-Platz am 2. Februar, dem keine weiteren Angriffe gefolgt sind und der auch von den meisten Anhängern Mubaraks abgelehnt wurde. Alles spricht dafür, dass die Ägypter in der Lage sein werden, über diese und andere Richtungsfragen in freien Wahlen entscheiden zu können.

Ist Israel bedroht?

Keine ernstzunehmende politische Bewegung in Ägypten, auch nicht die Muslimbruderschaft, stellt den Friedensvertrag mit Israel in Frage. Was sie in Frage stellen, ist die Zusammenarbeit des ägyptischen Regimes mit Israel – z.B. bei der Blockade des Gaza-Streifens. Für Israel geht keinerlei existenzielle Bedrohung von der ägyptischen Revolution aus. Sehr wohl ist es aber so, dass ein demokratisches Ägypten nicht mehr so bereitwillig mit Israel bei Maßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung kooperieren wird. Das System Mubarak hat die Kunst perfektioniert, innenpolitisch mit antisemitischer Hetze zu punkten, außenpolitisch aber mit Israel eng zu kooperieren. Eine demokratische Regierung dagegen wäre gezwungen, eine konsequentere Linie zu verfolgen, was langfristig für den Friedensprozess eher förderlich sein dürfte.

Sind die Muslimbrüder eine Gefahr für die Demokratie?

Wenn man sie aus dem demokratischen Prozess ausschließt: Ja. Die Muslimbrüder sind eine der tragenden Kräfte der Demokratiebewegung, und das ist etwas, das wir ernst nehmen müssen. In einem demokratischen Ägypten würden sie eine der großen politischen Gruppen sein, aber keineswegs zum Ausschluss der anderen. Je besser die Muslimbrüder in den demokratischen Prozess eingebunden sind, desto weniger Gefahr geht von ihnen aus, da sie in einem demokratischen System auch wieder abgewählt werden können. In einem solchen Fall würde Ägypten eher der türkische als der iranische Weg bevorstehen.

Braucht Ägypten den Vizepräsidenten Omar Suleiman als Garanten einer geregelten Übergangsperiode?

Alle wichtigen Entscheidungen des Vizepräsidenten Omar Suleiman haben bisher dem Zweck gedient, das Regime wieder zu stabilisieren. Solange keine unwiderruflichen und ernsthaften Schritte zur Demokratisierung unternommen sind, bleibt Suleiman ein Gegner und nicht ein Garant der Demokratisierung.

Konkrete Schritte, an denen eine ernstzunehmende Demokratisierung in Ägypten gemessen werden kann, sind die folgenden:

– Rücktritt des Präsidenten Hosni Mubarak oder eine Übergabe der Amtsgeschäfte ohne Rücktritt (beides ist laut Verfassung möglich);

– Verfassungsänderungen, vor allem, aber nicht nur, die Wahl des Präsidenten betreffend;

– eine Übergangsregierung, an der alle wichtigen politischen Gruppen beteiligt sind;

– freie Neuwahlen des Parlaments, da die letzten Wahlen vor einem halben Jahr komplett gefälscht waren;

– Aussetzung der Notstandsgesetze, die seit 1981 in Kraft sind.

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen