Von Marco Schöller
Heute hat Hartmut Krauss unter dem Titel "Chancengleichheit für die kritische Vernunft" eine Antwort auf Sabine Leutheuser-Schnarrenbergers FAZ-Artikel "Jeder Religion die gleiche Chance" vom 10. Februar 2011 veröffentlicht.
In seiner Antwort, ja tatsächlich einer Widerrede, führt er zahlreiche Argumente ins Feld, die zum größten Teil fragwürdig sind. Ich möchte hier nur auf einen Punkt eingehen, der mir besonders wichtig erscheint, zumal er immer wieder in der Islam-Debatte auftaucht. Dieser Punkt liest sich im Text von Krauss wie folgt:
Wie unbeschwert von Sachkenntnis die Ministerin argumentiert, zeigt schon ihre einleitende Gleichsetzung von Bibel und Koran. Ist denn der Bildungsverfall schon so weit fortgeschritten, dass kein(e) Referent(in) der Ministerin einmal näher bringen könnte, dass die Bibel eine Textsammlung aus unterschiedlichen Epochen mit unterschiedlichen Autoren ist, während es sich beim Koran - folgt man den irrationalen Setzungen - um einen direkten Offenbarungstext handelt, in dem jedes Wort und jedes Komma unmittelbar von Allah selbst geoffenbart worden sein soll (Verbalinspiration) und somit für die Gläubigen in jeder Einzelheit vor Auslegungswillkür besonders imprägniert ist? Daraus folgt, dass der Koran im subjektiven Horizont der Gläubigen ein raum-zeitlich absolut gültiger und eben nicht kritisch-hinterfragbarer Text ist.
Worauf es mir ankommt ist die Darstellung der Rolle des Korans in diesem Passus. So, wie es Krauss - und zahlreiche andere, die ähnliche Thesen vertreten wie er - formulieren, ist die Darstellung grundfalsch und für die Zwecke des Autors somit ein unsinniges Argument. Auch bei Krauss kann deshalb von Sachkenntnis keine Rede sein. Und ich will mich jetzt nicht darüber lustig machen, daß die koranischen Kommata nicht von Allah offenbart sind, weil der koranische Text keine Kommata hat (er hat im originalen Wortlaut überhaupt keine Satzzeichen). Doch sei's drum. Die Sache ist ja ernst: Was also ist an Krauss' Darstellung falsch?
Daß der Wortlaut des Korans an sich von Gott selbst stammt, ist natürlich islamische Glaubensüber- zeugung. Niemand bezweifelt das. Was das aber eben n i c h t heißt - und ab hier geht das Argument schief - ist, daß sowohl Muslime wie Nichtmuslime (!) deshalb schon wüßten, was der Wortlaut genau b e d e u t e t . Die Muslime ringen nun schon seit mehr als 1400 Jahren damit herauszufinden, welches die Bedeutungen (im Plural!!) dieses Wortlautes sind. Das ganze Blabla vom "subjektiven Horizont" und dem "raum-zeitlichen" "absolut gültigen" Koran, das Krauss textet, übersieht eben diesen entscheidenden Punkt, daß die Mehrheit der Muslime (gestern und heute) ja nicht endgültig zu wissen vorgibt, welche Bedeutungen nun eigentlich der Wortlaut hergibt und welche nicht.
Das einzige, was sich aus der islamischen Überzeugung von der göttlichen Offenbarung ableiten läßt, ist, daß der Wortlaut als solcher a b s o l u t r e l e v a n t und in diesem eingeschränkten Sinn auch gültig ist. Weil daraus aber natürlich nicht folgt, man wisse schon allein aufgrund dieser Relevanz, welches nun die jeweils relevante korrekte B e d e u t u n g des Wortlauts ist, ist der Schluß falsch, die Überzeugung vom göttlichen Ursprung des Textes komme einer feststehenden und sich nicht ändernden, auch nicht änderbaren "Botschaft" dieses Wortlauts gleich. Der koranische Wortlaut ist deshalb nur insofern nicht kritisch hinterfragbar, als man seine grundsätzliche Relevanz aus islamischer Sicht nicht in Abrede stellen kann. Damit ist aber, wie gesagt, nicht gegeben, daß man schon wüßte, welches nun eigentlich die Bedeutung des Textes, ja jeder einzelnen Textstelle sei. Und selbst wenn man annähme, man hätte die Bedeutung einer einzigen Stelle mehr oder weniger endültig erfaßt, schließt sich ja gleich das nächste Problem an: Welche Schlüsse hat man als Muslim aus dieser festgestellten Bedeutung zu ziehen? Das ist ja de facto nicht eindeutig zu beantworten. Und schon beginnt, auf einer zweiten Ebene, ein neues Spektrum an Auslegungs- und Interpretationsmöglichkeiten ...
Ergo: Der Koran ist auch als göttliche Wortoffenbarung, so man das glaubt, immer noch ein g a n z u n d g a r o f f e n e r Text, und die gesamte islamische Geistes- und Religionsgeschichte legt davon Zeugnis ab, daß die Muslime es mehrheitlich immer so gesehen haben. Zudem besitzt der Koran nicht nur die von Postmodernisten im Umberto Eco-schen Sinn vertretene Offenheit, die jeden Text und überhaupt jedes "sprechende" Menschenwerk auszeichnen, sondern eine weit darüber hinaus gehende Offenheit, und zwar (1) aufgrund seiner spezifischen Struktur, (2) aufgrund seiner oft knappen und verkürzenden Diktion und (3) aufgrund der besonderen Möglichkeiten zur "Offenheit", die die arabische Sprache und Schrift ermöglichen, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen.
Daß es früher und heute Gruppen gibt, die eine Offenheit des Textes im beschriebenen Sinn bestreiten und eine feststehende Bedeutung reklamieren, die sie "endgültig" zu kennen glauben, ist ein wichtiger Aspekt der islamischen Religions- und Gesellschaftsgeschichte. Aber die Offenheit des Textes kann nicht mit Hinweis auf den göttlichen Offenbarungscharakter bestritten werden, und tatsächlich verwenden die "dogmatischen" Gruppen - um sie einmal so zu nennen - dieses Argument auch gar nicht. Die Offenheit des koranischen Wortlauts wird von den Gruppen, die eben die Offenheit ablehnen und eine spezifische Bedeutung verfechten, mit ganz anderen Argumenten bestritten, etwa unter Heranziehung außerkoranischen Materials, wie z.B. der Hadithe (d.h. der vom Propheten überlieferten Dikta): Diejenigen Hadithe werden zur Grundlage der Koraninterpretation genommen, die wiederum die eigene, als mehr oder wenig "endgültig feststehend" verfochtene Bedeutung untermauern.
Aber auch das Hadithmaterial ist in seiner Gesamtheit ja ein "offener Text", der aus Hunderttausenden von Einzeltexten besteht, deren Historizität - auch unter den Muslimen - niemals endgültig feststeht. Daraus ergibt sich, daß sich das Problem der Bedeutungsfestlegung nur verschiebt: Wenn man aufgrund von Hadithen dem koranischen Wortlaut eine unzweifelhafte Bedeutung zuschreibt, bleibt wiederum aufzuweisen, daß die verwendeten Hadithe tatsächlich auf den Propheten zurückgehen ... und der Wortlaut auch der meisten Hadithe ist nicht weniger "offen" als der des Korans, so daß auch wieder gezeigt werden muß, welche die "korrekte" Bedeutung eines jeweiligen Hadiths ist, um ihn dann, so man das festgelegt hat, zur Etablierung der Bedeutung des koranischen Wortlauts zu verwenden. Daraus resultiert ein de facto endloser Interpretationskreislauf, der unabschließbar ist. Ein Großteil der religiös-islamischen Geistesgeschichte der letzten 1400 Jahre dokumentiert diese Unabschließbarkeit.
Daraus resultiert auch: Dogmatismus, der dem Islam heutzutage im Westen immer wieder unterstellt wird, ist dem Islam wesensfremd. Man kann das behaupten, ohne eine essentialistische Deutung des Islams zu vertreten. Aber ich würde weiter gehen und behaupten, daß die Wendung zur Gewalt und Terrorismus, die bei einigen der "dogmatischen" Gruppen in unserer Zeit vorliegt, ja die ganze Menschenverachtung, die da zum Vorschein kommt, gerade der beste Beweis sind, daß der Islam sich in dieser dogmatischen Art und Weise eben n i c h t v e r e i n n a h m e n l ä ß t . Der koranische Wortlaut - und im Anschluß daran die islamische Religion in ihren vielen verschiedenen Ausprägungen - verweigern sich der Dogmatisierung - und bringen eben deshalb bei einigen Muslimen diese kompromißlose und fanatisch auftretende, ja tatsächlich aber aus der Frustration über die prinzipielle Offenheit des Korans und die wesenseigene innerislamische Pluralität entspringende Gewalt hervor.
Das ist doch mal ein Gesichtspunkt, an dem sich die westlichen Islam-Kritiker abarbeiten können.
Seletn habe ich so einen Unsinn gelesen. Ist es also subjektive Auslegungssache, ob man als gläubiger Moslem Schweinefleisch essen darf? Und welche Rechtsschule sieht das so?
AntwortenLöschenWiderlich: schon wieder kriechen Deutsche vor dem Totalitarismus. Und wieder werden die Kinder in 30, 40 Jahren fragen: warum habt ihr das Offensichtliche nicht gesehen?
"Ist es also subjektive Auslegungssache, ob man als gläubiger Moslem Schweinefleisch essen darf?"
AntwortenLöschenIch hab sogar mal von einem Gelehrten der Azhar-Universität gehört, der den Genuss von Alkohol legitimiert hat. Daraufhin nannten ihn die Ägypter Sheikh Stella, nach der ägyptischen Biermarke.
Anonym hat den Text jedenfalls nicht verstanden (oder anders als intendiert ausgelegt ;) ) und sollte ihn daher nochmals lesen. Hopp, hopp!
Und bitte nicht andauernd die NS-Zeit und den Holocaust verniedlichen. Davon bekomme ich Neurodermitis.
Es ist durchaus subjektive Auslegungssache, ob man z.B. den Koran als Text versteht, dessen gesetzliche Vorschriften vom 7. Jahrhundert bis in alle Ewigkeit gelten und dessen Essenz überhaupt in gesetzlichen Vorschriften besteht. Die Mehrheit der Muslime tut dies wohl, sicherlich jedenfalls mit Bezug auf das Verbot des Schweinefleischs, es gibt aber auch andere Positionen, von Mystikern bis zu solchen, die auf den ethischen und theologischen Gehalt abstellen.
AntwortenLöschenUnd der Koran schreibt ganz sicher nicht die Autorität der Rechtsschulen fest, insofern ist der Verweis auf die Rechtsschulen blödsinnig. Zumal muslimische Koranexegese sich überwiegend nicht im Rahmen dieser Rechtsschulen abspielt oder jemals abgespielt hat.
Eine Rezension zum Band über Islamkritik, den Krauss rausgebracht hat:
AntwortenLöschenDie Legitimität der Islamkritik