21.02.2011

Der Volksaufstand in Libyen geht weiter, aber wie?

Reflexionen über das Nachrichtenwirrwarr einer Revolution im Medien-Blackout

Von Marco Schöller

Die Entwicklungen in Libyen sind weiterhin nur schwer erkennbar. Zwar werden in den letzten 24 Stunden viele Videoclips, Handyvideos und Photos über das Internet oder die internationalen TV-Kanäle verbreitet, aber deren Interpretation ist oft schwierig. Die zahlreichen Nachrichten, die auf meist nicht nachvollziehbaren Kanälen minütlich eintickern, sind eher eine Gerüchteküche als verwertbare Informationen.

Benghazi 20.02.2011
Gesichert scheint im Moment, daß mehrere Orte im Westen Libyens – namentlich Benghazi, al-Badyâ' und Tobruk – vom Regime nicht mehr kontrolliert werden. Meldungen über Internet und Telefon sprechen davon, diese Städte seien »befreit«, folglich in der Hand der Aufständischen; mehrere Videos und viele Photos scheinen das zu belegen. Ein Anrufer bei BBC, der sich in Benghazi vor Ort befand, sprach aber am Sonntagabend davon, daß in der Stadt »Chaos und Anarchie« herrsche. Gegen 22:35 hieß es im Live-Blog von Aljazeera, daß Pro-Gaddafi Milizen, die in einer Kaserne in Benghazi eingeschlossen seien, »vom Mob abgeschlachtet werden«. Andere Sicherheitskräfte seien in Richtung Flughafen geflohen.

Unsicher und verwirrend waren am Sonntagabend die Meldungen bezüglich einzelner Personen oder Gruppen. Etwa Shaikh Sâdiq al-Ghiryânî: Dieser hatte im Verlauf des Sonntags dazu aufgerufen, gegen das Regime zu kämpfen, und das als »die Pflicht eines jeden einzelnen Gläubigen« bezeichnet. (Obwohl er in diesem Zusammenhang meines Wissens nicht explizit von »Dschihâd« gesprochen hat, bezieht sich diese Aussage doch darauf, denn der Dschihâd gilt normalerweise als eine »Pflicht der Gemeinschaft«, nicht als eine »Pflicht jedes Einzelnen« - al-Ghiryânî hätte also die Obligation zum Widerstand strenger gefaßt als eine Aufforderung zum Dschihâd.) Am Abend wurde gemeldet, al-Ghiryânî sei festgenommen, dabei auch angespuckt und verprügelt worden. Und seitdem wurde sowohl berichtet, er befinde sich wieder oder immer noch in Freiheit, oder er sei immer noch inhaftiert. Wir wissen es nicht. Oder Abdallâh as-Sanûsî und sein Sohn: Die beiden leiten den libyschen Inlandsgeheimdienst, gelten allgemein (und zurecht) als »Erzverbrecher« und sollen einigen Meldungen zufolge in Benghazi ums Leben gekommen sein. Das wurde aber wenig später dementiert; tatsächlich seien sie aus der Stadt geflohen. Nichts davon läßt sich bestätigen.


Oder die nach wie vor schwierige Frage nach den afrikanischen Söldnern: Daß sie zum Einsatz kamen und immer noch kommen, scheint unstrittig. Fraglich aber bleibt, woher sie kommen. Gestern hieß es noch, sie seien aus Mali. Heute kursierten im Internet Photos, die Dokumente zeigten, wonach einige dieser Söldner aus Guinea stammen sollen. Am Sonntagabend wurde, nach französischen Angaben, berichtet, die Söldner kämen aus dem Sudan und dem Tschad, hätten in Libyen Trainingslager und seien eigentlich für den Kampf in Darfur gedacht. Dann wieder hören wir, die Söldner seien erst in den letzten Tagen eingeflogen worden. Wie so oft, wissen wir nicht, was wir von diesen widersprüchlichen Nachrichten zu halten haben. Und auch sonst machen die afrikanischen Söldner weiterhin Schlagzeilen: Vor wenigen Stunden wurde berichtet, sie würden in kleineren Städten im Westen des Landes die Bevölkerung massakrieren, und in den frühen Stunden des Montagmorgen werden sie mit den Auseinandersetzungen in Tripoli in Verbindung gebracht: Im Zentrum der Stadt seien afrikanische Söldner eingesetzt, die mit scharfer Munition auf die Demonstranten schießen. Gegen 02:30 wird gemeldet, diese Söldner hätten die Demonstranten auf dem »Grünen Platz« in Tripoli angegriffen und sie von dort vertrieben. Keine dieser Nachrichten ist überprüfbar; auch liegen dazu bisher keine Videos vor.

Besonders verwirrend waren in den Stunden des Sonntagabends die Nachrichten über den Verbleib Gaddafis und das Schicksal seines Sohnes Saif al-Islâm. Zunächst wurde hier und da gemeldet, Gaddafi habe Tripoli verlassen. Gegen 22:00 Uhr hieß es konkreter, Gaddafi habe das Land verlassen, in Richtung Südamerika; Venezuela und vereinzelt Brasilien wurden als Ziel genannt. In einem Interview auf Aljazeera mit einem Sprecher der libyschen Botschaft in Peking hieß es dann, Gaddafi sei nach Venezuela ausgeflogen und sein Sohn Saif al-Islâm bei einem Streit mit seinem Bruder al-Mu'tasim erschossen worden. Dieses bei aller Tragik reichlich »pittoresk-revolutionäre« Familiendrama, das an die Verhältnisse im Borgia-Clan oder die Intrigen am osmanischen Sultanshof erinnert, wurde dann durch angebliche Augenzeugenberichte unterstützt, wonach ein Großraumflugzeug in Begleitung von Militärjets den Airport Tripoli verlassen habe. Postwendend wurde jedoch gemeldet, Venezuela wisse nichts von einer Ankunft Gaddafis und sei auch nicht bereit, diesen aufzunehmen ... Danach wurde nichts mehr Konkretes gemeldet; der Aufenthaltsort von Gaddafi ist unbekannt. Es ist tatsächlich unwahrscheinlich, daß er das Land verlassen hat.

Um Mitternacht wurde dann eine Rede von Gaddafis Sohn Saif al-Islâm ausgestrahlt, die fast 50 Minuten dauerte. War er also nicht tot, erschossen von seinem Bruder? Wir wissen es nicht. Bis jetzt streiten sich die Geister, wann die Rede aufgezeichnet wurde. Daß sie aufgezeichnet wurde, sagt Saif selbst gegen Ende. Aber wann? Es ist unmöglich, darüber Klarheit zu gewinnen: Die Rede enthält Anspielungen auf aktuelle Ereignisse, aber sie mag einige Stunden, vielleicht sogar einen Tag alt sein. Viele Stunden lang wurde die Rede als »in Kürze« im libyschen Fernsehen angekündigt, was wiederum die Spekulation nährte, Saif sei bereits tot gewesen, als die Rede ausgestrahlt wurde. Das klingt natürlich reichlich unglaubhaft und läßt sich nicht weiter verifizieren. Man stochert im Dunkeln. Fakt ist, die Rede wurde ausgestrahlt und über den tatsächlichen Verbleib von Saif ist bisher nichts bekannt. Der Studiohintergrund, vor welchem sich Saif plaziert hatte, machte einen reichlich improvisierten Eindruck, aber das muß nichts besagen; ansonsten erinnerte er in der Art und Weise, wie er sich »an das libysche Volk« wendete, fatal an Mussolini, nicht nur, weil er ihm ohnehin ähnlich sieht, sondern weil er mehrfach – ganz wie einst der faschistische Diktator – den Kopf zur Seite drehte und das Kinn hob, bevor er wieder zur Rede ansetzte.

Insgesamt gab Saif al-Islâm eine grausige Vorstellung: Angetan wie ein hipper Yuppie saß er breitschultrig zurückgelehnt vor der Kamera und sprach kaltblütig über die Maßnahmen, die das Regime treffen werde, um den Aufstand zu beenden. Die Rede selbst muß uns hier nur kurz beschäftigen; sie wird in den Medien bereits ausführlich analysiert. Saif stellte dem libyschen Volk ein Schreckensszenario vor Augen und drohte mit einem Bürgerkrieg, falls die Aufstände nicht endeten. Gaddafi befinde sich in Libyen und werde »bis zur letzten Minute und bis zur letzten Kugel« kämpfen. Er fügte noch hinzu, daß die bisher Getöteten nichts seien im Vergleich zu »den Tausenden«, die noch fallen würden, sollte der Konflikt nicht aufhören. Eine englische Zusammenfassung der wichtigsten Punkte findet sich am Ende dieses Beitrags.

Und so geht es weiter: Nachrichten, die sich widersprechen, sich gegenseitig ausschließen – oder die wir nicht recht einordnen können. Allesamt unverifizierbar. Was ist mit den Ölfeldern? Offensichtlich wäre eine Zerstörung der Ölfelder fatal für Libyen, und so sind sie längst ins Visier der Konfliktparteien geraten. Aber Genaues läßt sich nicht sagen. Am Sonntagabend wurde gemeldet, libysche Stämme würden Ölquellen innerhalb von 24 Stunden blockieren oder zerstören, sollte das Regime nicht nachgeben. Inzwischen, wenige Stunden später, wird hingegen berichtet, libysche Aufständische würden sich organisieren, um Ölförderanlagen zu schützen, damit diese nicht vom Regime zerstört werden.

Weiterhin erreichen uns auch Nachrichten, die kaum glaubhaft oder jedenfalls nicht nachprüfbar sind, aber im Minutentakt über das Internet verbreitet werden. Einige Beispiele: Um 03:15 wird gemeldet, Saif al-Islâm befinde sich gar nicht mehr in Libyen, sondern in Wien, wo auch seine Rede aufgezeichnet worden sei. Um 03:20 Uhr wird berichtet, 16 Maschinen seien vom Flughafen Tripoli abgeflogen, an Bord angeblich Angehörige des Regimes. Etwa um dieselbe Zeit heißt es, an der libysch-ägyptischen Grenze sei es zu Zusammenstößen gekommen, an denen inzwischen auch das ägyptische Militär, auf libyscher Seite sogar die Luftwaffe beteiligt sein soll. Grund dafür sollen die angekündigten Lebens- und Arzneimittellieferungen gewesen, die man von Ägypten aus organisiere. Es hört sich alles so an, als entwickele die Gerüchteküche eine Eigendynamik, die immer abstrusere Nachrichten produziert: Die dunkle Revolution schafft sich so ihre eigenen finsteren Meldungen. Aber vielleicht stimmt ja das eine oder andere auch. Wir werden es vielleicht noch erfahren.

Ohne Frage erleben aber die Menschen in Libyen im Moment schwere Stunden. Seit dem frühen Montagmorgen überschlagen sich die Meldungen über schwere Kämpfe in und um Tripoli. Angeblich sollen Fernsehsender besetzt worden sein, Regierungsgebäude und Ministerien sollen in Flammen stehen. Dutzende Tote unter den Demonstranten. Besonders schlimm ist die Nachricht, die nun bereits mehrmals über das Internet verbreitet wurde, Pro-Gaddafi Demonstranten seien in Tripoli in die Krankenhäuser eingedrungen und hätten Verwundete massakriert. Aber wie so vieles, was wir in diesen Tagen hören, mag auch das falsch sein. Wenn es wahr ist, dann ist es nicht auszudenken. Doch ob wahr oder falsch: Mit der »finsteren« Revolution blickt man auch in die Finsternisse menschlicher Abgründe.

* * *
Eine Reuters-Meldung stellte heute nacht wesentliche Punkte aus der Rede Saif al-Islâms in englischer Übersetzung zusammen. Hier eine Auswahl:
»Today we are at a crossroads ... We either tell ourselves 'we are Libyans and this is country, we want ... freedom, democracy and real reform, this and that', and this has been planned and agreed upon and was supposed to be done at the upcoming general congress assembly ... (or) we will all seek the arbitration of weapons, 5 million Libyans will seek the arbitration of weapons.«
»Tomorrow we conduct a historic national initiative, within 48 hours, three days, 6 hours, to call for a General People's Congress with a clear agenda that is to adopt a battery of laws that had initially been agreed upon, the press law, the civil society. Civilised laws that, new laws ... widens freedoms, cancel many of the exisiting hinderances and silly existing punishments and initiates a national dialogue on a Libyan constitution.«
»There were some planning errors. Errors from the police ... and the army that was not equipped and prepared to confront angry people and...to defend its premises, weapons and ammunition. ... Each party has its own version of the story...But the unfortunate bottom line is that sons of Libya have died. This is the tragedy.«
»They have started by attacking army camps, have killed soldiers, officers...and taken weapons. ... The security forces...have arrested dozens in Libya who unfortunately were among our brother Arabs and among the African expatriates...who were used in these events at these times to create problems ... Some wealthy (businessmen) and tradesmen spent millions on them to use these people.«
»There are groups that have formed a government in Benghazi and groups that have set up an Islamic emirate in Baida ... and another person who declared himself to be the ruler of the Islamic Republic of Darna. ... They now want to transform Libya into a group of (Islamic) emirates, small states and even (cause) separatism. They have a plot. Unfortunately, our brother Arabs (allowed) their media, their stations and the inflammatory coverage.«

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