19.02.2011

Zur Geschichte des Islams in Tunesien, Folge 1

Tâhir al-Haddâd (1899-1935): Tunesiens verkannter Reformer, Tunesiens nationales Symbol
 

Erster Teil

Von Iman Hajji


Büste al-Haddâds in El Hamma (Gabès)
»Die Zeit der Aktion ist gekommen, denn heute brauchen wir Werke mehr denn eifrige Worte« schrieb der tunesische Sozialkritiker Tâhir al-Haddâd im Jahre 1933 – damals im Schatten des französischen Protektorats. Denselben Aktionsdrang verspürten nun acht Jahrzehnte später seine Landsleute, als sie auf die Straße gingen, um gegen den tunesischen Diktator Ben-Ali zu protestieren – ganz im Sinne al-Haddâds, der davon ausging, daß Tyrannei immer auch Freiheit hervorbringt.

Zeitgemäß ist al-Haddâd jedoch nicht nur in dieser Hinsicht. Die multiplen Identitäten Tunesiens reichen vom arabischem Nationalismus und der maghrebinischen Einheit bis hin zur Mittelmeerromantik. Der tunesischen Gesellschaft wird indes seit geraumer Zeit im Vergleich zu anderen arabischen Ländern eine gewisse Modernität zugesprochen, die in erster Linie auf den frauenfreundlichen Gesetzten beruht, die das tunesische Personenstandsrecht kennt. Das Code du Statut Personnel (majallat al-ahwâl al-shakhsîya) wurde am 13. August 1956 vom damaligen Premierminister und späteren Präsidenten Bourguiba erlassen. Die Vorrechte des Mannes wurden darin drastisch beschnitten, die Polygamie wurde unter Gefängnis- und Geldstrafe gestellt, die gerichtliche Scheidung institutionalisiert, die fortan Männer und Frauen fordern konnten, und der jabr – das Recht des Vaters, Minderjährige gegen ihren Willen zu verheiraten – wurde abgeschafft. Das Code du Statut Personnel gilt als eine der wichtigsten Errungenschaften der Ära Bourguibas. Dabei stellte die Verkündung des Codes gewissermaßen eine Würdigung der Gedanken al-Haddâds dar, die er im Jahre 1930 in seinem Werk Imra'atunâ fî l-sharî'a wa-l-mujtama' (»Unsere [d.h. die tunesische] Frau in Scharia und Gesellschaft«) veröffentlichte.


* * *

Wer ist dieser Tâhir al-Haddâd, der Mann, der eine nicht unerhebliche Rolle für die moderne tunesische Gesellschaft gespielt hat, der aber weder der deutschen Öffentlichkeit noch gar der deutschen Islamwissenschaft hinreichend bekannt ist?

Tâhir al-Haddâd hieß mit vollem Namen at-Tâhir ibn 'Alî ibn al-Hâjj Abî l-Qâsim (= Bilqâsim) ibn Farhât (!) al-Haddâd al-Hâmî al-Fatnâsî. Sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt und kann nicht rekonstruiert werden. Die Quellen sind sich jedoch weitgehend einig, daß er im Jahr 1899 in Tunis in der heute nach ihm benannten Straße geboren wurde. Sein Vater verdiente als Tagelöhner auf dem örtlichen Basar den Lebensunterhalt der Familie. Dementsprechend wuchs der junge al-Haddâd in einfachen Verhältnissen auf. Er genoß in diversen Koranschulen in Tunis eine traditionelle Ausbildung, die sich auf grundlegende Fertigkeiten des Lesens und Schreibens sowie auf das Auswendiglernen des Korans beschränkte. Diese Ausbildung vertiefte er ab dem Jahre 1911 an der Zaitûna, wo er insgesamt neun Jahre studierte.

Tâhir al-Haddâd war nach seinem Studium als Notar tätig und schrieb sich außerdem für ein Studium der Rechtswissenschaft ein. Der Name al-Haddâds wird heute unmittelbar mit der Frauenbewegung Tunesiens in Verbindung gebracht – tatsächlich gilt er als der »Frauenbefreier« schlechthin. Das mag zum einen daran liegen, daß er einer der ersten war, der in Tunesien den Frauen und der Frauenproblematik eine Schrift widmete, und zum anderen daran, daß diese Schrift die Gesellschaft nachhaltig in Aufruhr versetzte und tiefgreifend prägen sollte. Man würde Tâhir al-Haddâd jedoch Unrecht tun, würde man seine Rolle auf die des »Frauenbefreiers« reduzieren. Tatsächlich wirkte er in den sechsunddreißig Jahren seines Lebens auf vielfältige Art und Weise: politisch, gesellschaftlich – und nicht zuletzt als Dichter. Dabei wurde er von einem tiefen Reformbestreben angetrieben und ließ vor allem das geschriebene Wort sprechen.

Dennoch sind seine Gedanken in seinem Werk Imra'atunâ fî l-sharî'a wa-l-mujtama' zentral, denn mit der Publikation dieses Werkes sollte sein Leben eine dramatische Wende nehmen. Unmittelbar nach der Veröffentlichung avancierte das Buch zum Gesprächsthema im ganzen Land und löste eine recht aggressive Offensive gegen den Autor aus. Die ersten Maßnahmen, die gegen al-Haddâd ergriffen wurden, gingen von den Zaytûna-Gelehrten aus, die ihn bald öffentlich zu einem Häretiker erklärten. Sie entzogen ihm seinen Abschluss und setzten ein Verbot durch, welches al-Haddâd daran hinderte, sein Studium der Rechtswissenschaft fortzusetzen. Entscheidender für seine Existenz war jedoch die Entscheidung des Justizministeriums vom 01.12.1930, ihm die Zulassung zum Notar zu entziehen.

An der Kampagne maßgeblich beteiligt war die Presse Tunesiens, die über Jahre hinweg Artikel veröffentlichte, welche gegen al-Haddâd gerichtet waren. Auf der Straße kam es überdies zu persönlichen Angriffen auf ihn; selbst körperliche Übergriffe blieben nicht aus. Auch wenn al-Haddâd seinen Ideen treu geblieben ist und in dieser für ihn sehr schweren Zeit seinen besorgten Bruder mit den Worten »Ich weiß, was ich tue« beschwichtigte, hatte die gegen ihn gerichtete Kampagne doch großen Einfluß auf seine Psyche. Er zog sich, von einer schweren Depression befallen, in völlige Isolation zurück und erkrankte an einem Herzleiden, das schließlich seinen frühen Tod verursachte. al-Haddâd erfuhr so am eigenen Leib, daß sein Land für seine Visionen noch nicht bereit war. In seinen »Gedanken«, die er im Zeitraum zwischen Mai und Juli 1933 niederschrieb, stellte er konsterniert fest:
»Das Denken stellt den Beginn des Lebens dar, doch wir begegnen ihm mit der Waffe der Häresie, um das Volk dagegen (d.h. gegen das Denken) aufzustacheln. Von wo aus sollen wir dieses Leben also beginnen, welches wir für das Volk fordern?«
Tâhir al-Haddâd starb am 7. Dezember 1935, jung und unglücklich. Das Code du Statut Personnel gilt auch heute noch als das Dokument der Befreiung der tunesischen Frau und der Sicherung ihrer Rechte, welches ohne al-Haddâd und seine modernistischen Gedanken nicht zustande gekommen wäre. So steht das moderne Tunesien auch heute noch, was die Frauenfrage betrifft, in der Tradition al-Haddâds – und in seiner Schuld. Heute sind in Tunesien nach dem einst verkannten Reformer al-Haddâd Straßen und öffentliche Plätze benannt, und er gilt als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der tunesischen Geistesgeschichte.
»Penser n’est pas un crime, surtout que les époques moyenâgeuse et tout ce qu’elles charrient sont dépassé. Et puis de quel crime m’accusent-on, sinon d’avoir écrit un livre et formulé un point de vue? Celui-ci a beau être accueilli, aujourd’hui, avec hostilité par des institutions de tendances diverses, il ne manquera pas cependant, dans cinq ou dix ans de constituer inéluctablement une opinion juste et un principe d’existence, qui d’un jour à l’autre feront tâche d’huile.» (Aus einem Brief al-Haddâds)


FORTSETZUNG FOLGT
(Literaturhinweise wird der letzte Teil dieser Serie enthalten)

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen