20.02.2011

The Revolution Is Not Televised

In Libyen ereignet sich gerade ein landesweites Massaker ... und die Weltöffentlichkeit bekommt es bisher nur am Rande mit

Von Daniel Roters und Marco Schöller

Was geschieht gerade in Libyen – in diesen Minuten, diesen Stunden, diesen Tagen? Wir wissen es nicht genau, und die meisten Nachrichten sind unbestätigt. Die Medien, die noch in Ägypten Tag und Nacht über den Verlauf der Ereignisse berichteten, haben keine Möglichkeit, aus Libyen zu senden. Die einzige Informationsquelle ist das Internet: Videos auf Youtube und anderen Seiten, Twitter, Nachrichtenticker auf Facebook. Auch Aljazeera, CNN und BBC, die keine Reporter oder Kameras vor Ort haben, sind auf die Informationen angewiesen, die über Telefon oder Internet verbreitet werden. Wir werden gerade Zeuge einer Revolution im Mediendunkel.

Unzweifelhaft ist, daß in Libyen inzwischen vielerorts kriegsähnliche Zustände herrschen: in Benghazi, in al-Baida', in weiteren Städten im Landesinneren und seit gestern auch in Tripoli. Auf einem Video wird gezeigt, wie Aufständische in Tobruk ein Gaddafi-Denkmal niederreißen. Militär, Sondertruppen des Geheimdienstes und, wie vielfach berichtet wird, schwarzafrikanische Söldner sind im Einsatz gegen die Aufständischen.


Auf Youtube sind Videos veröffentlicht worden, die zeigen sollen, wie Demonstranten die Leichname afrikanischer Söldner,in graublauen Uniformen, nach Identifizierungsmerkmalen durchsuchen. Daß ausländische Söldner vom libyschen Regime eingesetzt werden, scheint inzwischen gesichert; nach Augenzeugen stammen die Söldner aus Mali, im Internet heißt es auch, »koreanische« Söldner seien beteiligt. Nach Ansicht von Analysten, die sich heute nacht auf Aljazeera äußerten, setzt Gaddafi ausländische Söldner ein, weil das libysche Militär nicht auf das eigene Volk schießen würde; andere Berichte besagen jedoch, daß das Militär gewaltsam gegen die Aufständischen vorgeht. Sonst ist auch zu hören, daß Offiziere zu den Aufständischen übergelaufen sind. Im Internet ist davon die Rede, afrikanische Söldner würden in Häuser einbrechen und Frauen als Einschüchterungsmaßnahme vergewaltigen, womöglich auf Befehl; bei dieser Nachricht kann es sich natürlich um eine gezielte Falschmeldung handeln. Ein arabischer Kommentator sagte dazu: »Wenn Gaddafi das in seinem Wahnsinn befohlen hat, dann ist das Ende nah!«

Aber die Schwere des Aufstandes und der gewaltsamen Zusammenstöße und die offensichtliche Brutalität, mit welcher das Regime zurückschlägt, stehen außer Frage. Das Militär setzt gegen die Aufständischen schwere Waffen ein, darunter auch Panzer. Unbestätigte Berichte sprechen von gezielten Hinrichtungen durch Kopfschüsse. Am Samstag wurde auch berichtet, Truppenteile des Militärs hätten sich in Benghazi den Aufständischen angeschlossen; auch das ist wiederum bisher nicht bestätigt worden. Andere Berichte besagen, daß die Armee sich mit Demonstranten vermeintlich verbrüdert, um dann Massenhinrichtungen zu veranstalten.

Auch die Polizei ist in die Kämpfe einbezogen. Aus mehreren libyschen Städten wurde am Samstag berichtet, daß die dortigen Polizeistationen in Brand gesetzt wurden; auch soll die Polizei in al-Baida' von den Aufständischen in die Flucht geschlagen worden sein, und zwei Polizisten seien gelyncht worden. Berichtet wird schließlich, daß Gefängnisse gestürmt und die Gefangenen befreit worden seien. In anderen Nachrichten heißt es, das Regime habe die Öffnung von Gefängnissen veranlaßt, ähnlich der Strategie des Mubarak-Regimes in Ägypten.

Gänzlich unklar ist bisher, ob Benghazi, al-Ajdabiya und andere Städte im Osten des Landes »in der Hand von Aufständischen sind«, wie im Lauf des Samstags verschiedentlich berichtet und von libyschen Oppositionsgruppen in Europa auch bereits »offiziell« verkündet wurde. Immerhin scheint sich im Osten des Landes die Bewegung der Aufständischen so weit konsolidiert zu haben, daß in der arabischen Welt bereits Vergleiche gezogen werden mit dem Aufstand unter Omar Mukhtâr (1862–1931), dem großen libyschen Freiheitshelden, der von der italienischen Kolonialmacht in Benghazi hingerichtet wurde. Aber wie gesagt, es herrscht noch große Unklarheit über den Erfolg der Aufständischen auch im Osten Libyens. Das Internet wurde in großen Teilen des Landes bereits am Freitag abend gekappt; allerdings erfahren wir aus Tripoli, daß dort erst Samstag Nacht, vor wenigen Stunden, das Internet »komplett geblockt« wurde. Vor wenigen Minuten wurde gemeldet, Ägypter würden nahe der ägyptisch-libyschen Grenze Lebens- und Arzneimittel sowie SIM-Karten für die Aufständischen in Libyen organisieren. Im Internet wurden Handynummern bekannt gegeben, wie diese Leute zu erreichen seien.

Gesichert scheint im Moment die Zahl von 84 Getöteten über die letzten drei Tage, getötet von Militär und Scharfschützen in Benghazi; 15 Teilnehmer bei der Beerdigung von erschossenen Aufständischen wurden ihrerseits mit scharfer Munition beschossen und getötet. Kinder sollen darunter sein. Inzwischen werden über Internetquellen und Telefonate aber auch weit höhere Opferzahlen aus Benghazi berichtet: an die 200 Tote, über 1000 Verwundete. Diese Zahlen wurden um Mitternacht von Fathi Tarbil telephonisch an Aljazeera gemeldet. Um 02:35 Uhr heute morgen soll, nach Internetberichten, die Zahl der Getöteten schon auf 300 zugehen. In anderen Quellen – arabische Nachrichtenagenturen –  ist bereits von 500 Toten die Rede; viele Leichen sollen auf den Straßen liegen. Über Twitter und andere Dienste erreichen uns minütlich grausame Details, deren Wahrheitsgehalt nicht zu überprüfen ist. Dort lesen wir z.B., daß die Sicherheitsdienste des Regimes begonnen haben sollen, Ärzte in Krankenhäusern zu liquidieren. Die Internetdienste google, Twitter und SayNow richteten einen Dienst ein, der es Libyern ermöglicht mit ihrem Handy Nachrichten zu hinterlassen, die dann im Internet gespeichert werden (Stimmen aus Libyen). Alles das läßt sich nicht überprüfen. Wir können lediglich die vielen kleinen Fragmente abgleichen, um ein ungefähres Bild von den Ereignissen in Libyen zu erhalten.

Wir wissen nicht, zu welchen Maßnahmen das Regime Gaddafis greift, auch weil vieles, was berichtet wird, zu unglaubhaft klingt, um wahr zu sein. Aber eines ist klar: Das Land steht offensichtlich am Abgrund. Es scheint im Moment fraglich, ob das Regime Gaddafis diesen Aufstand überstehen kann – selbst wenn er, was wahrscheinlich ist – auch vor dem Äußersten nicht zurückschreckt. Gaddafi wird aber nicht nachgeben: »Experts warned the Gaddafi regime was unlikely to make the sort of compromises seen recently in other Arab countries. Sir Richard Dalton, former British ambassador to Libya, said: "Gaddafi will find it hard to make concessions in order to survive. I think the attitude of the Libyan regime is that it's all or nothing."«

Bisher sieht die Welt zu – oder vielmehr: Sie sieht nicht zu, weil sie praktisch nichts zu sehen bekommt. Und die westlichen Regierungen? Berlusconi gab am Samstag zu verstehen, er habe mit Gaddafi nicht telefoniert, weil er »in einer so delikaten Lage nicht stören wolle«. Ansonsten wolle er sich in die inneren Angelegenheiten Libyens nicht einmischen. Weitere Stimmen aus Europa waren bisher, jedenfalls auf Regierungsebene, nicht zu hören. Lediglich der britische Außenminister hat sich gestern zu Wort gemeldet: Die Gewalt, die das libysche Regime ausübe, sei "unacceptable" und "the use of heavy weapons fire and a unit of snipers were horrifying". Er fügte dann noch hinzu: "The absence of TV cameras does not mean the attention of the world should not be focussed on the actions of the Libyan government".

Doch machen wir uns nichts vor: Es ist nicht nur die Schwierigkeit, aus Libyen zu berichten, die die Ereignisse aus Libyen bisher zu einem Nebenthema in den Medien machen. Zum einen passiert im Moment »zu viel«, die verschiedenen Revolutionsherde in den arabischen Ländern – Jemen, Bahrain und Libyen – werden in den Nachrichten summarisch abgehandelt. »Proteste wurden daneben auch aus Libyen gemeldet« hört man so oder ähnlich seit gestern im deutschen Fernsehen. Zum anderen aber: Wer interessiert sich eigentlich für Libyen? Oder weniger polemisch gefragt: Wer weiß eigentlich etwas über Libyen? Wenige in Deutschland bzw. in Europa sind dem Land emotional verbunden, nur die wenigsten kennen es aus ihrem Urlaub. Libyen ist im Regelfall vor allem windigen Waffenschiebern und zwielichtigen österreichischen Geschäftsleuten bekannt. Daneben einigen Archäologen, die durch die Ruinen von Leptis Magna wandern.

Libyen ist eben nicht Ägypten oder Tunesien. Es ist ein nahes fernes Land. Es ist ein Land, das in diesen Stunden im Blut versinkt.

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