02.02.2011

Der Tyrann ist geflohen ! - Tunesien zwischen Diktatur und Widerstand

Dr. Jamel. Ben Abdeljelil: "Die Ansätze
für eine demokratische Gesellschaft
sind in Tunesien vorhanden."

Ein Gastbeitrag von  Jamel. Ben Abdeljelil
Centrum für Religiöse Studien, WWU Münster

Das Interview wurde ursprünglich auf der Internetseite des Radio Q veröffentlicht.

Mit der Selbstverbrennung eines jungen Obstverkäufers vor einer Behörde haben die Demonstrationen angefangen, die am Ende zum Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali geführt haben. Ein gerade für Historiker ziemlich interessantes Ereignis, meint unser Autor Henrik Kipshagen, und hat sich mal in der Geschichte Tunesiens nach Gründen dafür umgesehen. Denn auch ein kleines Land kann manchmal große Geschichte machen.

Tunis, 14. Januar: Weniger als eine Stunde, nachdem das tunesische Militär eine Ausgangssperre verhängt hat, läuft ein einziger Mann über eine menschenleere Straße. Der Tyrann ist geflohen, ruft er immer wieder; der Dieb, der Mörder ist geflohen, und schließlich: Tunesier, ihr seid frei! Die Familie, die das Geschehen aus dem Fenster ihrer Wohnung mit dem Handy filmt, ist überwältigt – ein junges Mädchen beginnt vor Freude zu weinen.

Dies sind Szenen aus einem Land, das über ein halbes Jahrhundert der Diktatur hinter sich hat. Eine Entwicklung, die in 50er Jahren noch nicht vorgezeichnet war.
Wie viele Länder West- und Nordafrikas, so ist auch Tunesien Teil des französischen Kolonialreiches. Erst 1956 gewinnt das tunesische Volk seine Unabhängigkeit. Im Sommer des gleichen Jahres, noch vor Ausrufung der neuen tunesischen Republik, werden in dem kleinen Land Entscheidungen getroffen, die aus heutiger Sicht manchen überraschen könnten. Dr. Jamel. Ben Abdeljelil, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Religiöse Studien der Uni Münster.

Jamel. Ben Abdeljelil: Am 13. August 1956 wurde ein Familienrecht eingeführt, welches sehr liberal in diesem islamischen arabischen Kontext war. Nämlich, in diesem Familienrecht wurde zum Beispiel die Polygamie strafrechtlich abgeschafft, wurden den Frauen die gleichen Rechte wie den Männern gegeben.
In der Verfassung der neuen Republik bekommen auch Frauen, die nun vor Gesetz mit den Männern gleichgestellt sind, das aktive und passive Wahlrecht. Dieses neue Recht nutzen die Tunesier zwei Jahre später bei der Wahl ihres ersten Präsidenten: Habib Bourguiba gewinnt mit 91% der Stimmen. Das Ergebnis wird verständlicher, wenn man bedenkt, dass es bei dieser Wahl nur einen Kandidaten gibt – und das ändert sich auch über die nächsten 40 Jahre nicht.

Musik: Ala Khallidi (Zweite Nationalhymne 1956-1987)
Unsterblich und wertvoll ist das Blut,
das wir für unser Vaterland verloren haben.
Um unser grünes Land zu befreien,
werden wir allen Hindernissen trotzen.
[...]
Wir treten dem Feuer entgegen,
während wir unserem Führer Habib die Treue halten
.

Die neue Nationalhymne soll den Freiheitskampf Tunesiens gegen die Franzosen und gegen die Monarchie ausdrücken. Die Tatsache, dass Bourguiba in ihr namentlich erwähnt wird, lässt aber schon ahnen, wohin die Reise geht. Doch zunächst werden unter Bourguibas Führung weitere Entscheidungen getroffen, die Tunesien auf einen anderen Weg führen als die Nachbarländer.

Jamel. Ben Abdeljelil: Dass die Bildung ein Drittel des gesamten Budgets bekommen hat, dass das Gesundheitssystem auch ungefähr genauso viel bekommen hat, war beachtlich - und dass das Militär einen minimalen Anteil des Budgets bekommen hat, bildete eine große Ausnahme in diesem Kontext. Also, die Ansätze für eine offene, für eine liberale, für demokratische Gesellschaft sind, glaube ich, vorhanden in Tunesien.
Zu einer solchen Entwicklung kommt es nicht. Bourguiba führt recht schnell einen autoritären Regierungsstil ein. Massive staatliche Eingriffe in das Leben der Bürger sind keine Seltenheit. Tunesien entwickelt sich zu einem Einparteienstaat.
Während der Präsidentschaft Bourguibas kommt es in den 60er Jahren zu einem Experiment mit sozialistischen Wirtschaftsformen, das jedoch scheitert. Ende der 70er Jahre, nach einer relativ liberalen Periode, stürzt das Land in eine tiefe Krise: wirtschaftlich am Boden, mit massiver Korruption und einem altersschwachen Präsidenten. Zu dieser Zeit gewinnt in Tunesien der Islamismus immer mehr an Bedeutung. Dr. Ben Abdeljelil erklärt die Gründe für seine Entstehung.

Jamel. Ben Abdeljelil: Die besondere Politik von Bourguiba in den Fragen der nationalen Identität, in Fragen religiöser Natur, und auch die linke Präsenz bei den politischen und intellektuellen Eliten in Tunesien, die laizistische Neigung oder Tendenz des Regimes von Bourguiba… aus diesen Hintergründen ist diese islamistische Bewegung als Gegenpol zu dieser von Bourguiba suggerierten anderen Identität entstanden in Tunesien.

Das Regime beginnt, den Islamismus mit allen Mitteln zu bekämpfen – und erntet damit große Sympathie in der westlichen Welt. Ein Mann, der sich dabei besonders hervortut, ist Innenminister Zine el-Abidine Ben Ali. Der setzt im Oktober 1987 den für senil erklärten Bourguiba ab, und macht sich selbst zum Präsidenten. Der Spiegel schreibt dazu:
Der Spiegel, 16.11.1987: Mit seinem kalten Staatsstreich bereicherte der öffentlichkeitsscheue Ben Ali, nach eigener Einschätzung ein lautloser Law-and-order-Techniker, die Geschichte zeitgenössischer Putsche um eine humane Variante. […] 
 Schon am Tag der Absetzung verkündete der neue Staatschef das Ende der Präsidentenschaft auf Lebenszeit, versprach, alsbald ein neues Parteiengesetz vorzulegen, die Freiheit der Presse wiederherzustellen und Tunesien, bisher faktisch ein Ein-Parteienstaat, in eine pluralistische Gesellschaft umzuwandeln. Der Hausarrest gegen den früheren Gewerkschaftschef Habib Aschur wurde aufgehoben.
Doch merke: auch der Spiegel kann sich mal täuschen.

Unter Ben Ali verschärft sich der Ton. Angetreten mit großen Versprechungen, offenbart der neue Präsident schon bald sein wahres Gesicht. Er benutzt den Kampf gegen den Islamismus als Deckmantel, um alle Arten von Opposition mit äußerster Härte zu zerschlagen. Das führt zu Konfrontationen zwischen dem Regime und der Öffentlichkeit, die Anfang der 90er Jahre ihren Höhepunkt erreichen. Dr. Ben Abdeljelil, damals Student an einer der ältesten Universitäten im arabischen Raum, trifft zu diesem Zeitpunkt eine Entscheidung.

Jamel. Ben Abdeljelil: Aus dieser Stimmung damals war die Entscheidung, entweder still zu halten und damit zu leben, oder sich in diesem verlorenen Kampf zu opfern, oder wegzugehen. Weitere Möglichkeiten habe ich damals nicht feststellen können, nicht gesehen.
Der Wissenschaftler geht also nach Österreich, wo er studiert und promoviert. In den Ferien jedoch kehrt er immer wieder nach Tunesien zurück, und erlebt dort die Auswirkungen der Diktatur Ben Alis.

Jamel. Ben Abdeljelil: Stellen Sie sich vor, wie bedrückend, wie eng das sein kann. Ich bin der Meinung, dass die Diktatur eine verheerende Auswirkung hat, nämlich eine tiefgreifende Entfremdung, sowohl individuell als auch kollektiv. Dass man in seiner Umgebung, in seiner gewöhnten Umgebung, mit seiner Familie, mit sich selbst nicht mehr zurechtfindet.
Mit der Zeit tritt die Entfremdung zwischen den Machthabern und der Bevölkerung immer deutlicher zutage. Auf die Massendemonstrationen, die im Dezember 2010 beginnen, reagiert das Regime zunächst gar nicht. Doch dann passiert plötzlich etwas Einmaliges, was Betroffene wie Beobachter völlig überrascht.

Jamel. Ben Abdeljelil: Dass es von der Bevölkerung aus Protesten gegen falsche Politik, Wirtschaftspolitik, des Regimes und des Herrschers zum Sturz des Regimes kommt, das ist eine qualitative Wende. Diese, würde ich meinen, ist erstmalig in diesem arabisch-islamischen Kontext.
Wie es in Tunesien weitergehen wird, bleibt abzuwarten. Doch es lohnt sich, noch einen letzten Blick in den Text der Nationalhymne zu werfen. Dessen letzte Strophen erscheinen nämlich aus heutiger Sicht in einem ganz anderen Licht.

Musik: Humat al-hima (Einzige Nationalhymne seit 1987)
Wenn eines Tages das Volk sich zum Leben entschließt,
dann muss sich das Schicksal beugen.
Die Nacht muss weichen,
und die Fesseln werden gebrochen.

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen